Literatur | Nummer 307 - Januar 2000

Von Martinique nach Ravensbrück

Ein Roman über eine Aussätzige unter Ausgestoßenen

Auf den Antillen hatte auch der Tod etwas heiteres. Die Menschen sahen ihn als einen „lächelnden Unbekannten“, der notfalls auch noch ein wenig warten kann. Bei den Totenwachen wurde gemeinsam gegessen, getrunken und gesungen; alle kümmerten sich um die notwendigen Erledigungen gemeinsam. Später breitete sich eine mitfühlende Stille über dem Meer aus. Die Tote „war einfach an einem schönen Vollmondabend lächelnd eingeschlafen.“ Ganz anders im KZ Ravensbrück: Todgeweihte Figuren wanken zwischen Leichenhalle und Krematorium, ohne zu wissen, woher der letzte Todesstoß kommt. Man stirbt deutsch.

Andreas Kühler

Sidonie, geboren auf Martinique, lebt selbst noch keine zehn Jahre in Frankreich. Schon in ihrer Heimat arbeitete sie im Haushalt der Dubreuils. Als das jüdische Ehepaar in den dreißiger Jahren nach Frankreich zurückkehrt, geht sie mit, Madame hätte sie sowieso am liebsten gleich ganz adoptiert. Neben ihrer Arbeit im Haushalt macht sie eine Ausbildung als Krankenschwester. Aus einer kurzzeitigen Liaison mit Jean gehen ihre zwei Lieblinge hervor: Désiré und Nicaise. Wenn das Leben so weitergegangen wäre – mit einzelnen Rückschlägen vielleicht –, wäre aus ihr bestimmt eine fast weiße, fast echte Französin geworden. Seit der Razzia durch die SS im Dezember 1943, in deren Folge sie und ihre Kinder sich auf einem Lastwagen zum Abtransport wiederfinden, wird alles ganz anders. Sie wird (wieder) eine Schwarze, die genau darin ihre Stärke, ihren Halt, ihren Überlebenswillen findet.
Allein und einsam in der Masse, soweit man in dem enggedrängten Lagerleben überhaupt davon sprechen kann, findet Sidonie dadurch Kraft, daß ihre Gedanken zurückschweifen zu ihren Wurzeln, nach Guinea. Sie hält die Strapazen des Transports im Güterwaggon aus, indem sie sich in den tiefen Laderaum eines dunklen Sklavenschiffs vor 200 Jahren zurückversetzt. „Die Bahnhöfe der Verzweiflung heute (sind) die Häfen des Schreckens“ von gestern. Der „schwarze Holocaust“, den ihre Vorfahren überlebt haben, hilft ihr, an sich zu glauben, an ihre Unbeugsamkeit. Ihr genügen somit ein paar Sekunden, um den Gott zu erkennen, den sie braucht: Er ist schwarz, und sie nennt ihn Agenor.
Der Zug endet in Auschwitz, und das Leiden beginnt. Die Trennung von den Kindern, Hunger, Schikanen – das Leben wird zur Tortur. Aushalten kann man das Ganze als LeserIn nur dadurch, daß man analog zur Protagonistin die Rückblenden nach Martinique quasi herbeisehnt, genauso wie die Passagen, wo sie bei ihrem Gott Agenor Kraft zum Widerstehen schöpft. So habe ich einzelne Stellen schneller gelesen, um bei anderen wiederum länger zu verweilen. Dort, in Martinique, liegen nicht nur Sidonies Stärken, sondern auch die der Romanautorin Michèle Maillet. Die heute in Paris und Martinique lebende Schriftstellerin, Journalistin und Schauspielerin besitzt eine geradezu geniale Gabe, uns die Düfte, die Farben, die Träume und die Klänge der Antillen zu schildern, so daß wir danach die nüchternen Beschreibungen des beklemmenden Lagerlebens durchstehen können.
In Ravensbrück – wohin Sidonie von Auschwitz aus verschleppt wird – bekommen die LeserInnen über mehrere Seiten ein geradezu phantastisches kreolisches Menü aus Krabben, Fisch, verschiedenen Gemüsen, Desserts und Wein aufgetischt, um sodann abrupt wieder auf dem Boden der Tatsachen zu landen. „Es ist Sonntag, und ich habe furchtbaren Hunger. Draußen ist es minus dreißig Grad kalt.“
Die Verfolgung und Deportation von schwarzen Frauen und Männern durch die Nazis ist bislang nur unvollständig aufgearbeitet. Keiner weiß genau, wieviele Menschen davon betroffen waren – Schätzungen sprechen von 2 000 Personen –, nirgendwo wird bislang explizit an sie erinnert. Überlebende Zeitzeugen gibt es nur sehr wenige, eine systematische Forschung zu diesem Thema scheint schwierig. Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, daß sich Maillet nach langen, intensiven Recherchen und gut beraten von einigen Historikern darangesetzt hat, einen Roman über dieses Thema zu schreiben. Einzelne Namen, die darin vorkommen, basieren gleichwohl auf konkreten Personen. 1990 in Frankreich erschienen, kam die deutsche Erstausgabe bereits 1994 im Orlanda Frauenverlag heraus. Ende letzten Jahres erschien die Taschenbuchausgabe, der ebenfalls viele LeserInnen zu wünschen sind.
„Schwarzer Stern“ – so der Titel des Buches – weckte bei mir zuerst die Assoziation zum „Gelben Stern“. Aber angesichts der Tatsache, daß in den Lagern nur dreieckige „Winkel“ auf die Häftlingskleidung genäht wurden und die Farbe schwarz schon für sogenannte „Asoziale“ vergeben war, greift diese Erklärung ins Leere. Während für Sidonie die „Sonne ganz langsam auf der deutschen Erde erlischt“, spürt sie, daß ihr Stern weiter existiert. „Ich will an einem Abend großer Zärtlichkeit einschlafen, mit dem Gesicht zum lebendigen Meer.“

Michèle Maillet: Schwarzer Stern, Unionsverlag, Zürich 1999, 191 Seiten, 7,90 Euro.

KASTEN

Ein Dichter sucht sein Enkelkind

„Helfen Sie Juan Gelman, helfen Sie der Gerechtigkeit, helfen Sie den Toten, Gefolterten und Entführten, indem Sie den Lebenden helfen, die sie beklagen und suchen, helfen Sie sich selbst, helfen Sie Ihrem Gewissen, helfen Sie dem verschwundenen Enkelkind, das Sie nicht haben, aber durchaus haben könnten.“ (José Saramago, portugiesischer Literaturnobelpreisträger, an Julio María Sanguinetti, Präsident Uruguays)
Juan Gelman, einer der großen Dichter Argentiniens und Lateinamerikas, sucht sein Enkelkind. Im Rahmen der „Operation Cóndor“, bei der in den 70er Jahren die Militärdiktaturen in Chile, Argentinien und Uruguay zusammenarbeiteten, wurde Gelmans Sohn 1976 in Argentinien verhaftet, durch Genickschuß getötet und dann einbetoniert. Dessen hochschwangere Frau wurde nach Uruguay verschleppt und gilt seither als verschwunden. Durch intensive Nachforschungen erfuhr Juan Gelman, daß seine Schwiegertochter in der Haft ein Kind geboren habe. Dieses Kind müßte jetzt 23 Jahre alt sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde es der Mutter geraubt und an kinderlose Ehepaare aus Militärkreisen weitergegeben.
Gelman hat den uruguayischen Präsidenten Julio María Sanguinetti in einem Brief gebeten, sich persönlich für die Suche nach dem Kind einzusetzen. Der Präsident wäre nicht nur moralisch, sondern ist auch gesetzlich dazu verpflichtet: Die uruguayische Verfassung verlangt vom Staat und seinen Repräsentanten, Verbrechen wie das „Verschwindenlassen“ von Personen und den Kindesraub rückhaltlos aufzuklären. Sanguinetti hat sich bisher nur ausweichend geäußert. Wenn er sich bis zum Ende seiner Amtszeit als Präsident am 1. März 2000 nicht ernsthaft um eine Aufklärung bemüht, wird sein gewählter Nachfolger, Jorge Batlle, das Problem erben.
Mehr als 3.000 Schriftsteller und Intellektuelle aus Latein- und Nordamerika sowie Europa haben sich seither mit der Suche Gelmans solidarisiert und individuelle oder kollektive Briefe und Petitionen an den Regierungschef Uruguays geschrieben. Seit Dezember läuft in zahlreichen Ländern eine massive Kampagne an, die auch in Deutschland eine Menge UnterstützerInnen braucht. Der deutsche Übersetzer Juan Gelmans, Tobias Burghardt, sammelt bis zum 15. Januar 2000 Solidaritätserklärungen aller Art (Faxe, E-mails, Postkarten, Briefe, Unterschriftenlisten), um sie dann gesammelt dem uruguayischen Präsidenten zu übergeben.
Schickt Eure
Karten und Briefe an: Tobias Burghardt
Obere Waiblinger Str. 156
70374 Stuttgart
Faxe an: 0711 – 528 18 47
E-mails an: TobiasBurghardt@aol.com

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