Film | Nummer 413 - November 2008

Von phantastischen Wasserhähnen und bösen Kojoten

Lateinamerikanische Kinderfilme auf dem Kinder- und Jugendfilmfestival Lucas 2008

Vom 7. bis zum 14. September wurden im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main Kinderfilme aus aller Welt gezeigt. Für die Lateinamerika Nachrichten bot sich die Möglichkeit, über die neusten Produktionen aus Lateinamerika zu berichten. Etliche neue Filme setzen sich mit den Problemen ärmerer Kinder auseinander.

Thilo F. Papacek

Viele Produktionen aus Lateinamerika haben es leider nicht in das Programm des Internationalen Kinderfilmfestivals Lucas geschafft. Gerade einmal zwei lateinamerikanische Kurzfilme waren im Wettbewerb vertreten. Die Priorität für die VeranstalterInnen war es so viele Premieren wie möglich in die offizielle Auswahl zu bekommen. Doch am Rande des offiziellen Programms, etwas abseits des großen Publikumsinteresses, waren einige Bonbons unter den neusten Kinderfilmproduktion aus Lateinamerika zu sehen.
In das Wettbewerbsprogramm hat es der uruguayische Kurzfilm Der perfekte Wasserhahn geschafft. Die Arbeit mit Knet-Animation hat eine pädagogische Intention: Auf humorvolle Art wird Kindern erklärt, dass sauberes Wasser nichts selbstverständliches ist und man deshalb sparsam und bewusst mit der Ressource umgehen sollte. In dem Film geht es um Tommy, der mit seinen Freunden Fußball auf der Straße spielt. Als er durstig wird, bittet er den Nachbarn Humberto, einen Wissenschaftler, der aussieht, als käme er gerade von einem Einstein-Ähnlichkeitswettbewerb, um ein Glas Wasser. Diese Gelegenheit nutzt Humberto um Tommy alles über Wasser zu erklären und nebenbei sein aktuelles Vorhaben vorzustellen: den perfekten Wasserhahn zu konstruieren, der kein Wasser verschwendet. Doch Tommy hat eine bessere Idee. Warum nicht einfach den normalen Wasserhahn immer fest zuschrauben? Der Film ist sehr lustig und hat phantastische Elemente. Etwa wenn Humberto seine Prototypen vorstellt: Es sind Wasserhähne, mit menschlichen Regungen, die beim Wassersparen helfen sollen. Doch letztlich wird den ZuschauerInnen gezeigt, dass jedeR dazu beitragen kann, die Umwelt zu schützen. Die phantastische Technik Humbertos ist da gar nicht nötig.
Der zweite Kurzfilm im Wettbewerbsprogramm war die brasilianische Produktion Minha Rainha („Meine Königin“). In dem Film wird die neunjährige Joseane vorgestellt, die mit ihrer Großmutter in einer Favela in Rio de Janeiro wohnt. Beim diesjährigen Karneval soll ihr eine besondere Ehre zuteil werden: Joseane darf als jüngste Fahnenträgerin in der Geschichte des Karnevals in Rio ihre Sambaschule beim großen Defilee vertreten. Aber vor lauter Aufregung vergisst Joseane am großen Tag die Fahne zu Hause. Ihre Enttäuschung könnte nicht größer sein: Sie darf nicht mit tanzen. Doch der tolle Tänzer Clayton macht ihr ein großes Geschenk, und so wird doch noch alles gut. Wie so oft im brasilianischen Kino über die Favelas der letzten Jahre lebt der Film von den LaiendarstellerInnen und seiner dokumentarfilm-ähnlichen Qualität. Nur stehen diesmal keine Jugendlichen im Zentrum der Geschichte, sondern ein kleines Mädchen mit seinen Träumen. Das Klischeethema der meisten Filme, die von der Jugend in den Armenvierteln Brasiliens handeln, die Versuchung des Drogenhandels, bleibt diesmal – erfrischenderweise – außen vor. So werden endlich einmal junge BrasilianerInnen aus den Armenvierteln nicht als potenzielle DelinquentInnen dargestellt, sondern als ganz normale Kinder mit ganz normalen Kinderträumen.
Über diese beiden Wettbewerbsbeiträge hinaus, gab es auf dem so genannten Filmmarkt des Festivals – einem Raum mit etlichen Bildschirmen und DVD-Spielern – die Gelegenheit, sich die vielen Filme anzusehen, die bei der Festivalleitung eingereicht wurden und es nicht in das offizielle Programm geschafft haben. So konnten Interessierte sich aktuelle Kinderfilme aus aller Welt ansehen.
Einer der eindrucksvollsten neuen Kinderfilme kommt aus Mexiko. Im Langfilm El Viaje de Teo („Teos Reise“) geht es um die Gefahren, denen illegalisierte MigrantInnen an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze ausgesetzt sind. Der kleine Teo kommt aus dem Dorf Yatzachi im Bundesstaat Oaxaca – glaubt er zumindest. Denn viel weiß er nicht über seine Familie. Aufgewachsen ist Teo bei seinem Onkel in Mexiko Stadt. Aus irgendeinem Grund, den er nicht kennt, kann weder sein Vater noch seine Mutter bei ihm sein und so bleibt er bei seinem Onkel und sieht ihm zu, wie er die Musikkapelle der MigrantInnen aus dem Dorf in Oaxaca leitet. Das Dorf Yatzachi ist in der ganzen Region in Oaxaca bekannt für seine guten TrompeterInnen. Und eine der wenigen Dinge, die Teo von seinem Vater weiß, ist, dass er einer der besten Trompeter des Dorfes war, bis er es verlassen musste.
Plötzlich steht der fast unbekannte Vater vor Teo und nimmt ihn mit. Herausgerissen aus seiner gewohnten Umgebung muss er sich nun mit ganz neuen Problemen auseinandersetzen. Teos Vater will seinen etwa siebenjährigen Sohn mit in die USA nehmen. Mit Hilfe des coyote Manilo, eines Menschenschmugglers, will Teos Vater in der Nacht die Grenze zu den USA überqueren. Mitten in der Wüste werden die MigrantInnen von Banditen überfallen und Teo wird von seinem Vater getrennt. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als alleine nach Ciudad Juárez zurück zu kehren.
Nun steht Teo mutterseelenallein, nur mit der wertvollen Trompete des Vaters in der Hand, in der mexikanischen Grenzstadt. In dem Film wird gezeigt, wie die MigrantInnen aus dem Süden Mexikos und Zentralamerikas an der Grenze von Schmugglern und Polizisten ausgenommen werden. Es wird gezeigt, dass dort ein Menschenleben nur so viel wert ist, wie es bezahlen kann. Es wird gezeigt, dass täglich Leute beim Versuch, in die USA zu kommen, in der Wüste verdursten. Die großartigen Aufnahmen in der Wüste unterstreichen, wie verloren die MigrantInnen in einer Gesellschaft und einer Landschaft sind, die nichts von ihnen wissen wollen und wo sich jedeR selbst am nächsten ist.
Doch gleichzeitig zeigt der Film auch die Solidarität von Fremden. Wenn sich etwa Chuy, der vierzehnjährige Helfer des brutalen coyote Manilo, rührend um den kleinen Teo kümmert. Eine Belohnung oder eine Bezahlung kann Chuy nicht erwarten. Aus reinem Altruismus hilft er Teo aus der Klemme. Genauso wie Alejandro, der für eine Organisation arbeitet, die „gestrandeten“ MigrantInnen hilft. Mit Hilfe dieser und anderer Menschen, die Teo nicht bloß als Last oder völlig bedeutungsloses Wesen betrachten, schafft er es am Ende, wieder nach Yatzachi zu kommen, zu seiner Mutter. Und selbst die zwischenzeitlich verlorengegangene Trompete kann er retten.
Der Film besticht dadurch, dass er ein so schwieriges Thema aus der Sicht eines Kindes erzählt. In einer Pressekonferenz sagte der Regisseur Walter Doehner, dass der Film eine Art Metapher für die Situation Mexikos sei: „Die besten Männer und Frauen riskieren ihr Leben, um auf die andere Seite [der Grenze] zu gelangen, weil es dort Arbeit gibt.“ Durch die Sicht eines Kindes, aus der der Film erzählt wird, erscheint die Menschenverachtung, die sich in der Behandlung der „illegalen“ MigrantInnen durch Behörden und Kriminelle äußert, noch deutlicher.
Ein anderer mexikanischer Langfilm für Kinder hieß Cochochi. Die Sprache des Films ist aber nicht spanisch, sondern die der Raramuri, einer indigenen Gruppe im Nordwesten Mexikos. Die Brüder Evaristo und Tony haben gerade die Grundschule abgeschlossen, aber nur Tony erhielt ein Stipendium für die weiterführende Schule. Dabei ist Evaristo viel interessierter an der Bildung als sein Bruder. Eines Tages erhalten sie den Auftrag, einem Verwandten, der auf einer weit abgelegenen Farm in der Sierra Tarahumara lebt, Medizin zu bringen. Also leihen sie sich – obwohl es ihnen verboten wurde – das Pferd des Großvaters. Doch unterwegs verlieren sie das Pferd und bei der Suche im nebeligen Gebirge geraten auch noch Evaristo und Tony auseinander. So verfolgt der Film die beiden getrennten Brüder, wie sie, jeder auf eigene Faust, versuchen, das Pferd des Großvaters wiederzufinden. Am Ende finden sich alle wieder und selbst für das Schulstipendium ergibt sich eine Lösung: Der wissbegierige Evaristo gibt sich einfach als Tony aus, während dieser in der Sierra bleibt und so wenig wie möglich mit dem „weißen“ Mexiko zu tun haben will.
Der Film ist sicher nicht jedermenschs Sache, da er sehr langsam dahinplätschert. Die Bilder von der Landschaft in der Sierra Tarahumara sind wunderschön, atemberaubend ist die Kameraführung allerdings nicht. Doch diese improvisierte und langsame Art, mit der dem Publikum die Geschichte dargeboten wird, hat auch seine dramaturgische Berechtigung: Auf diese Weise wird deutlich gemacht, wie lang die Wege im mexikanischen Hinterland sind. Ein wiederkehrendes Thema in den Filmen ist die hybride Kultur der Indigenen in der Region. Einerseits pflegen sie ihre Traditionen und Öffentlichkeit wird wie in alten Zeiten durch Feste hergestellt. Andererseits dient ihnen ein kommunales Radio, um wichtige Nachrichten zu übermitteln. So entsteht ein glaubwürdiger Eindruck von der Gesellschaft der indigenen Gruppe in der Sierra Tarahumara. Sicherlich kann es auch für europäische Kinder interessant sein, solch andersartige Lebensumstände kennen zu lernen. Aber es kann genauso gut sein, dass Kinder schnell von der Langsamkeit des Films gelangweilt sind.
Es wäre schön, wenn mehr solcher Kinderfilme auch in Deutschland ihren Verleih finden würden. Denn es ist für Kinder bestimmt nützlich und interessant zu erfahren, dass das, was sie als normal erachten, anderswo alles andere als normal ist.

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