Colonia Dignidad | Nummer 394 - April 2007 | Sachbuch

Wahnsinn und Politik

Klaus Schnellenkamp erzählt von seiner Gefangenschaft

Dieter Maier

Die Diktatur Augusto Pinochets hat den politischen Terror in einer bis dahin in Lateinamerika unbekannten Weise gesteigert. Sie hat auch mit Hilfe der Colonia Dignidad als erste das Verschwindenlassen politischer Gefangener, das heute global verbreitet ist, systematisiert. Auch die räumliche Entgrenzung war neu. In den drei Jahrzehnten ihrer Existenz operierte und mordete der chilenische Geheimdienst DINA (Dirección Nacional de Inteligencia) in Lateinamerika, den USA und Europa. Die Geheimdienste Israels und Südafrikas gehörten zu ihren Bündnispartnern. In der Internationalisierung des Staatsterrorismus war die DINA der übrigen Welt eine Generation voraus. Der kommunistische Feind war überall. Die DINA plante Aktionen gegen die baskische ETA, die irische IRA und die deutsche RAF. Die „Operation Condor“ wollte von Chile aus den Kommunismus in ganz Lateinamerika besiegen. Eine der Drehscheiben war die deutsche Siedlung Colonia Dignidad. Sie ist ein frühes, wenn nicht das erste Beispiel für die Auslagerung der staatlichen Folter in einen privaten und rechtsfreien Raum, die ein Vierteljahrhundert später zur weltweiten Tendenz wurde.
Klaus Schnellenkamp, der 30 Jahre lang in der Sekte gelitten hatte, schildert in Geboren im Schatten der Angst, wie diese Gruppe von 300 Menschen unter der brutalen Leitung von Paul Schäfer so lange bestehen konnte. Es ist nach Efrain Vedders Weg vom Leben der zweite Bericht eines Opfers der Sekte.
Die Sekte versuchte, urchristlich zu leben, ohne Geld, ohne Zwischeninstanzen zu Gott, ohne irgendeinen privaten Vorbehalt. Der Teufel selbst trieb sich im Sektendorf herum und führte „Lustangriffe“ durch. Bei Erektionen mussten die Jungen Spagat machen und beten. Wenn das nicht half, bekamen sie Prügel, Elektroschocks und Psychopharmaka. Tatsächlich war aber Paul Schäfer der allmächtige Teufel, der seine pädophilen Neigungen auslebte, indem er die männlichen Kinder missbrauchte. So war Schäfers Sekte bestens darauf vorbereitet, politische Gefangene zu foltern.

Reigen der Politiker

Pinochet besuchte die Siedlung, später tat dies auch seine Gattin, dann der Geheimdienstchef. Schäfer inszenierte ihnen opulente Staatsempfänge mit Musik, Turnübungen und mörderischen Jagden. Besuche von deutschen Diplomaten und Lokalpolitikern folgten. Franz Josef Strauß war entgegen einer landläufigen Meinung nie dort.
Das Buch reflektiert den Wahnsinn der von Schäfer geschaffenen Welt bis in kaum erträgliche Details hinein. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung Schnellenkamps mit seinem leiblichen Vater. Er hatte ihn nur als „Onkel Kurt“ gekannt, denn Schäfer trennte die Familien. In seiner Kindheit hatte ihn „Onkel Kurt“, ohne ein Wort zu sagen, brutal zusammengeschlagen. Kurz darauf prügelte ihn „Tante Elisabeth“ blutig, seine Mutter, wie er elf Jahre später erfuhr. Unmittelbar vor der Ausreise besuchte Schnellenkamp seinen Vater im Hochsicherheitsgefängnis von Santiago, bot auch eine Aussöhnung an. Der Vater gab sich reuelos und unschuldig, sagt jedoch Sachen wie „…wenn nur ein Konto gefunden wird, dann fliegt der ganze Laden hier auf.“ Das Gespräch endete im Streit. Schnellenkamp kam bettelarm im Dezember 2005 in Deutschland an, hungerte und fror tagelang.
Schnellenkamps mal poetische, mal etwas pathetische Sprache ist ungewohnt und transportiert noch etwas von dem hinterwäldlerischen, hinter dem 60 km langen Hightech-Zaun konservierten Deutsch der Siedlung. In dem Buch hallen Schäfers oft mehrfach in der Woche gehaltenen, stundenlangen nächtlichen Predigten nach. Der Autor gibt Dialoge, die Jahre zurückliegen, wörtlich wieder. Das klingt gekünstelt. Aber wer das Langzeitgedächtnis und die Intelligenz des Autors, der sich selbst nach einem Lehrbuch Integralrechnung beibrachte, kennengelernt hat, zweifelt nicht daran, dass es so gewesen ist. Nur für sich selbst schrieb Schnellenkamp auf dem Klo Gedichte. Sie wurden gefunden und er zur Strafe halb tot geschlagen. Schnellenkamp berichtet über Prügel, Misshandlungen mit Psychopharmaka und wochenlanger Haft. Diese Schule des Schreibens hat ganz ohne ghostwriter ein Buch hervorgebracht, das so einmalig ist wie die Colonia Dignidad selbst.
In den schlimmsten Phasen der Pinochet-Zeit hat die deutsche Botschaft ihre schützende Hand über diese Unmenschlichkeit gehalten. Der Botschafter ließ seine Residenz von Handwerkern der Colonia renovieren, die ihm zum Dank ein paar Wanzen zum Abhören hinterließen. Abends lud er sie zu seinem exzessiven Alkoholgenuss ein. Mit solchen Tricks erpresste Schäfer den Diplomaten. Heute versuchen die chilenischen und deutschen Behörden, den noch unbekannten Teil der Wahrheit unter Verschluss zu halten. Er möge in Deutschland keinen Skandal machen, sagte die Botschaft, bevor Schnellenkamp Chile verließ. Aber wer Schäfers Hölle überstanden hat, unterwirft sich nicht mehr.
Der Kampf geht als Scharmützel weiter. Albert Schreiber, lange Zeit der zweite Mann nach Schäfer und Herr über die Konten, lebt (oder lebte?) mit Frau und Kind untergetaucht in Deutschland. Hans-Jürgen Riesland, Schäfers rechte Hand und Nachfolger nach dessen Flucht ebenfalls. Insgesamt gingen an die hundert ehemalige Schäfer-Anhänger nach Deutschland. Viele von ihnen treffen sich in der Freien Volksmission in Krefeld. Vergesst alles, was gewesen ist, heißt es dort. Dagegen hat sich Schnellenkamp der Erinnerungsarbeit verschrieben.

Klaus Schnellenkamp: Geboren im Schatten der Angst : Ich überlebte die Colonia Dignidad. Herbig, München 2007, 238 S., 19,90 Euro
Weitere Bücher:
Efrain Vedder/Ingo Lenz: Weg vom Leben : 35 Jahre Gefangenschaft in der deutschen Sekte Colonia Dignidad. 204 S.,Ullstein-Buchverlag. Berlin 2005
Friedrich Paul Heller: Lederhosen, Dutt und Giftgas: Die Hintergründe der Colonia Dignidad
Schmetterlingverlag Stuttgart 2006. ISBN 3 89657 093 5

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