Haiti | Nummer 243/244 - Sept./Okt. 1994

Warten auf Godot in Guantánamo

Flüchtlinge leiden unter katastrophalen Zuständen in den Lagern

15.000 haitianische Flüchtlinge drängen sich in den Lagern des US-Militär­stützpunktes Guantánamo auf Kuba. Fast alle sind unfreiwillig dort gelandet. Die US-amerikanische Küstenwache hat sie von ihren notdürftig zusammenge­zimmerten Booten aus der Karibik gefischt und nach Guantánamo gebracht. Eingezäunt und von über 3.200 US-SoldatInnen bewacht, warten sie dort auf die Entscheidung über ihr Schicksal, das sie mit ihrer Flucht eigentlich selbst in die Hand nehmen wollten. Ein Warten, das für viele mehr und mehr zum Warten auf Godot zu werden scheint. Die Stimmung in den Lagern ist gereizt. Fast täglich kommt es zu Protestaktionen, die nicht selten in gewalttätige Zu­sammenstöße mit den US-SoldatInnen münden. BeobachterInnen beschreiben die Situation als “barbarisch”. Die Versorgung mit Lebensmitteln steht in kei­nem Verhältnis zu den Möglichkeiten, die die Überflußgesellschaft der USA den verzweifelten Flüchtlingen bieten könnte. Die medizinische Versorgung erreicht nicht einmal niedrigstes Niveau. Nachrichten dringen nur über das US-Vertei­digungsministerium aus dem Stützpunkt und das Pentagon hält sich wie ge­wohnt äußerst bedeckt.

Martin Ziegele

Symptomatisch ist ein Zwischenfall vom 13. August. In den Morgenstunden for­mierte sich nach Angaben von US-Mili­tärs in einem der sieben Lager ein Protest­zug. Die Stimmung sei anfangs eher ge­dämpft gewesen. Mal still, mal singend, mal Parolen rufend wuchs der Zug rasch. Andere Lager schlossen sich der Aktion an. Zu einer Eskalation sei es erst ge­kommen, als etwa 120 Flüchtlinge began­nen die Stacheldrahtrollen, die die Lager umschließen, zu überspringen, ins Meer stürzten und schwimmend versuchten, ku­banisches Territorium zu erreichen.
“Die Menschen Haitis haben die Insel aus politischen Gründen verlassen und jetzt haben wir das Gefühl, in einem Gefängnis zu leben.” So beschrieb Henry Claude Delva, der Sprecher von Camp 5, den Frust, der sich unter allen Lagerbewohner­Innen breit gemacht hatte. An diesem Punkt griffen nach Angaben des Informa­tionsdienstes “Haiti Progrès” US-Militärs ein und versuchten, eine Massenflucht von Flüchtlingen zu verhindern – angeblich unter einem Hagel von Steinen, Dosen und Zeltstangen.
Unabhängige BeobachterInnen haben starke Zweifel an dieser Version und ver­muten, daß die Flüchtlinge sich nur gegen einen massiven Einsatz der US-SoldatIn­nen wehrten. In der Vergangenheit wäre die Gewalt immer von brutal vorgehenden US-Militärs ausgegangen. In ähnlich ge­lagerten Fällen hätten die Militärs, so “Haiti Progrès”, relativ schnell Wasser­werfer und Hunde, ja sogar Panzer und Flugzeuge eingesetzt.
Am Ende eines hitzigen Tages zogen die US-Behörden Bilanz: 45 verletzte Flücht­linge und 20 verletzte SoldatInnen. Ge­rüchte sprechen von drei Lagerbewohner­Innen, die beim Fluchtversuch ertranken. 330 Flüchtlinge sollen danach in einen gesondert bewachten Abschnitt auf Guantánamo gebracht worden sein. Die Ereignisse vom 13. August sind kein Ein­zelfall. Nur vier Tage später soll es wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen sein. Und am 22. August ver­haftete die US-Militärpolizei nach eigenen Angaben über 700 LagerbewohnerInnen nach einem zunächst friedlich verlaufenen Protestmarsch gegen die Zustände in den Lagern. Alle Festgenommenen, darunter Kinder und Frauen, seien danach in unterirdische Bunker gebracht worden, in denen sie nach Angaben von “Haiti Progrès” vier Tage lang von allen anderen getrennt unter schlimmen Bedingungen eingesperrt waren.
Briefe, die aus den Lagern geschmuggelt wurden, sprechen davon, daß US-Soldaten Frauen aus den Lagern sexuell belästigt und vergewaltigt haben. Nachdem die US-Küstenwache Kleider und Schuhe der Bootsflüchtlinge zum Teil verbrannt habe, fehlt es nun selbst daran.
Politik der schleichenden Desillusionierung zeigt Wirkung
Die Politik der USA, es den Flüchtlingen so unangenehm wie möglich zu machen, zeigt erste Erfolge: In den Monaten Juli und August sind weit über 5.000 Men­schen nach Haiti zurückgekehrt – frustriert, ohne Hoffnung. “Repatriierung” ist der Technokratenterminus für das System der schleichenden Desillusionie­rung. Die Stimme von Stanley Schrager, US-Botschaftssprecher in Port-au-Prince, kennen die meisten in Haiti. In Radiosen­dungen warnt er die HaitianerInnen die Insel per Boot zu verlassen: “Die US-Küstenwache wird Dich auf dem Meer ab­fangen. Du wirst nicht in die USA ge­bracht. Sie werden Dich in ein Flücht­lingslager in einem anderen Land bringen, in dem Du sechs Monate, ein Jahr darauf warten kannst, bis die Krise zu Ende ist und Du nach Haiti zurück kannst. Mein Freund, wenn Du in Erwartung eines bes­seren Lebens aufs Meer gehst, zerstörst Du Dein Leben.”
Um in den Lagern ein Klima des Frustes zu begünstigen, scheuen sich die US-Behörden nach Angaben von “Haiti Progrès” auch nicht, Tontons-Macoutes, die Schergen des Geheimdienstes von Ex-Diktator Baby-Doc Duvalier, als Überset­zer in den Lagern anzustellen. Täglich fänden sogenannte Lagerbegehungen statt, bei denen versucht werde die Flüchtlinge zur Rückkehr nach Haiti zu bewegen.
Dort wissen mittlerweile fast alle, daß die Chancen auf Asyl in den USA minimal sind. Nur noch wenige verlassen ihre Heimat. Brachte die US-amerikanische Küstenwache im Juli noch mehr als 16.000 haitianische Flüchtlinge auf, waren es im August nicht mehr als 500. Aller­dings stieg die Zahl von Bootsflüchtlingen Ende August wieder an, aus Furcht vor den Konsequenzen einer möglichen Inva­sion der USA und alliierter karibischer Staaten.
In Haiti selbst schloß die US-Botschaft im August zwei “Abwicklungszentren” für Flüchtlinge und gab anschließend be­kannt, daß sie sich außerstande sähe, 1.000 Menschen aus Haiti auszufliegen – Flüchtlinge, denen die USA bereits offizi­ell Asyl gewährt hatte. Irgendwo auf Haiti versteckt warten sie in ständiger Angst vor dem brutalen Repressionsapparat des Mi­litärregimes immer noch auf ihre Aus­reise. Neue Berichte sprechen davon, daß sich das Militärregime in Port-au-Prince einverstanden erklärt habe, diese Men­schen in einem “regelmäßigen Rhythmus” über den Landweg in die Dominikanische Republik ausreisen zu lassen.
Kubanischer Flüchtlingsstrom verschärft Situation
Die Entscheidung der Clinton-Regierung auch die kubanischen Flüchtlinge erst einmal auf Guantánamo zu internieren, hat zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Die in­ternierten HaitianerInnen sind, so “Haiti Progrès”, der festen Überzeugung, daß die US-Behörden und -Militärs auf Guantá­namo ein Zweiklassensystem für Flücht­linge etablieren. Kleinigkeiten reichen, um dem neue Nahrung zu geben. Zwischen den Lagern der KubanerInnen und der HaitianerInnen gibt es nicht einmal Sicht­kontakt. Die HaitianerInnen sind sich si­cher: Flüchtlinge aus Kuba werden weit besser versorgt als sie selbst. Das Essen für die KubanerInnen sei nahrhafter, auch seien Baseball-Spielfelder angelegt wor­den. Sie selbst warteten immer noch auf ein Fußball-Feld.
Bei der haitianischen Exilgemeinde in den USA besteht kein Zweifel über den Wahr­heitsgehalt solcher Anschuldigungen. Sie tut sich schwer, angesichts einer fast übermächtig erscheinenden Lobby von Exil- KubanerInnen mit dem “Haiti-thing” nicht in Vergessenheit zu geraten. Zudem sind viele kubanische Bootsflüchtlinge weiß, die schwarzen HaitianerInnen haben da einfach die falsche Hautfarbe.
Kuba befürchtet Eskalation
Jetzt wird auch die kubanische Armee nervös. Sie befürchtet einen Gewaltaus­bruch in Guantánamo. 14.000 haitianische und 23.000 kubanische Flüchtlinge quet­schen sich in den Lagern Guantánamos, umgeben von 8.000 stationierten US-Sol­datInnen. Es bestehe die Gefahr eines gewaltsamen Massenausbruches mit To­desopfern, so ein kubanischer General – Guantánamo ist von kubanischen und US-amerikanischen Tretminen eingekreist.
Wie sich die Entscheidung der USA, jähr­lich 20.000 KubanerInnen einreisen zu lassen, auf die Lage in Guantánamo aus­wirkt, ist noch offen.
Für die haitianischen Bootsflüchtlinge ge­staltet sich die Sache schwieriger. Suri­nam erklärte sich im August bereit, 2.500 Flüchtlinge aufzunehmen – widerwillig und mißtrauisch von der eigenen Bevölke­rung beäugt.

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