Kultur | Nummer 247 - Januar 1995

Was bleibt von den Intellektuellen?

Die Telenovela boomt. Sind Bücher out? Massenmedien und Massenproduktion haben eine neue Form der Massenkultur hervorgebracht. Das Für und Wider – Demokratisierung von Kultur oder imperialistische Gleichmacherei – betrach­tet die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Jean Franco. Sie geht dabei auch auf die veränderte gesellschaftliche Funktion von Literatur ein. Den Arti­kel haben wir (leicht gekürzt) der Zeitschrift NACLA (Sep./Okt. ’94) entnom­men.

Jean Franco Übersetzung: Patricia Driessen/LN

Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz ver­loren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürz­lich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet be­reits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zu­kunft “die Menschen blind handeln wer­den.” Wallerstein ist gewiß nicht der Ein­zige, der meint, die Gegenwart sei verwir­rend und die Zukunft unvorhersehbar. In La­teinamerika tragen Jugendliche aus Rand­gruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsi­cherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirkli­chung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Domi­nikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoi­schen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industriali­sierung An­fang dieses Jahrhunderts ab­lehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewe­gungen in den letzten Jahren. Die utopi­sche Zukunftsvision ist jedoch ver­schwunden. Wenn es überhaupt eine Vor­stellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruani­schen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozial­demo­kratischen Form der “Utopía Desar­ma­da” des mexikani­schen Politik­wissen­schaft­lers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer lite­rarisch gebildeten Intelligenz aufrechter­halten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kriti­sches Bewußtsein der Gesellschaft agier­ten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, son­dern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apo­stel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Got­tes”. Dieses Ansehen muß im Zusammen­hang von Gesellschaften mit einer gerin­gen Lesefähigkeit verstan­den werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Haupt­akteure auf der öffent­lichen Bühne hervor, sondern auch – zu­mindest in der öffentli­chen Wahrneh­mung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Verände­rung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch poli­tischer Bedeutung für die lateinamerikani­sche Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemi­sphäre mitgestaltet. In den späten sechzi­ger Jahren wurde die Definition von re­volutionärem Schreiben immer enger ge­faßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Pa­dilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unter­stützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der San­dinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zen­tralamerika spiegeln auch die traumati­schen Nachwirkungen repressiver Militär­regierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologi­sche Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentli­chen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Vi­deos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika ver­spürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrän­gung wird von der wachsenden Pri­vatisierung der Kultur noch verschärft. Zuneh­mend werden kulturelle Institutio­nen wie Galerien, Musikunternehmen und Fern­sehkanäle von Privatunternehmern ge­führt. Sogar die nationalen Universitä­ten, traditionell Zentren politischer Akti­vitäten, konkurrieren heute mit un­zähligen privaten Universitäten, die in der Mehr­zahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernseh­magnat Emilio Azcárraga, der Telenove­las in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der füh­renden Akteure der Kunstwelt gewor­den.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird so­gar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor al­lem die des Fernsehens. Der argentini­sche Kulturkritiker Nestor García Canclini be­zeichnet die Neuordnung des kulturel­len Terrains als “Rekonversion”. Im Zeit­alter von High-tech erfährt Kultur einen Be­deutungswandel. Ein hohes Niveau an Le­sefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fern­sehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität gewor­den.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich er­schienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volks­kunst beklagte, hört sich in diesem Zu­sammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesus­kinder, die von den Gemeinden ein­gekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sanda­len und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogeni­sierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie be­haupten, daß Fernsehen, Massenmarke­ting und neue Technologien die Kultur demo­kratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybrid­kreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinameri­kanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argu­ment, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu errei­chen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfin­den. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aus­sehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschich­ten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der moder­nen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forde­rungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informa­tionen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für latein­amerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimpe­rialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technolo­gien und Moden be­nutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, son­dern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäi­schen und indi­genen Einflüssen. Die eta­blierte Kultur hat sich später Tango, Bo­lero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvier­teln haben, als die Ver­körperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schön­ste Tango der Welt” des Argentiniers Ma­nuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander ver­bindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Bei­spiel für den kulturellen Wandel. Trotz­dem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindu­strie ist, wurde Rock zur Vorhut des Wi­derstandes gegen strenge Moral und Fa­milienhierarchien. Die südamerikani­schen Militärregierungen machten die Rock­musik zum Mittel einer Wider­standsbewegung, indem sie Musikmaga­zine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rock­musik den Autoritarismus der älteren Ge­neration, aber auch die idealistische Nost­algie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvi­nen/Falkland-Kriegs organisierte die Mi­litärregierung ein Rockkonzert der Natio­nalen Solidarität, um so um die Unterstüt­zung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um sei­nen neo­liberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginali­sierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesell­schaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußball­spiel oder dem Besuch des Papstes vergli­chen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hin­zuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Le­benshaltungskosten), “Si saliera petró­leo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich reg­net es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Konti­nents handeln. Bezeichnenderweise kan­didierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Var­gas Llosa für die Prä­sidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Gua­rachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Bra­silianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerech­tigkeit aufnehmen und – im Falle von Ve­loso – das Verhältnis zwischen Kon­sumkultur und “Authentizität” unter­suchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruck­ten Wortes ist das Fernsehen, dessen Ein­fluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum ver­wunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinig­ten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache be­wußt, daß die durchschnittliche Teleno­vela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Ko­lumbien 10 bis 15 Million Menschen er­reichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich at­traktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über diesel­ben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasili­anische Produzenten über­nehmen häufig Romane für das Fernse­hen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wieder­entdeckt worden, wobei ein Typ von Tele­novelas produziert wird, der die US-Pro­dukte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Aus­druck der Modernität und der Bildung ei­nes nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger glo­baler Kultur geworden. Wie der argentini­sche Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideu­tige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frü­here Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen ver­knüpft gewesen. Es war in einigen Län­dern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literari­sche Intelligenz in Bezug auf seine päd­agogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmen­den Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzuleh­nen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexika­nischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfä­higkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plau­derton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlun­genen “Herbst des Patri­archen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunterneh­men wie Joaquín Mortiz und Sudameri­cana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zu­mindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denk­baren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu ver­treten, die früher schon von der Staatsbür­gerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homo­sexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichts­schreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwi­schen oben und unten, Fiktion und Reali­tät verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppo­sitionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakom­ben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Frei­heit ihn oft als Freiheitlich-Konserva­tiven erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Kon­sumgesellschaft zu widerstehen – verhol­fen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Ent­schlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autono­mie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und All­gemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Oppo­sition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei re­volutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschrei­ber.
Was für heutige Schriftsteller problema­tisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Verein­nahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schrei­bens in Trend oder Stil. “Magischer Re­alismus” war einst ein Wegweiser für la­teinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exo­tik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kri­tiker die politischen und ethischen Funk­tionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kri­tiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteils­vermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezo­gen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populis­mus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion redu­ziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Feh­lens anderer Unter­scheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumen­tiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstleri­schen Produkte, die mit der Kulturindu­strie verbunden sind, und ver­drängt so die hierarchische Autorität der Fachleute tra­ditioneller Prägung. Hierar­chien stürzen ist eine Sache, aber kriti­sches Urteilsver­mögen zurückzuweisen, ist Sarlos Mei­nung nach eben schlimmer, weil der Ver­zicht, über Werte zu diskutie­ren, zur pas­siven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forde­rung nach Wiederaufwertung des Ästheti­schen gerade im Zusammenhang mit Re­demokratisierung und angesichts wach­sender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Ver­teidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kri­tische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trot­zen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rück­kehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditio­nelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es be­freit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzei­tig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allge­mein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schrift­steller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wie­derum die Ära der internationale Bennet­ton-Epoche und den E-mail-Universalis­mus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie er­scheinen mag: In der Epoche globaler In­formationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität ge­worden.

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