Linke in Lateinamerika | Nummer 198 - Dezember 1990

Was heute Sozialismus sein könnte

Alle reden vom Klima. Niemand redet mehr vom Sozialismus. Dabei steht er auf der Tagesordnung, schon wegen des Klimas. Das weiß bloß niemand, weil nach dem Zusammenbruch des “real existierenden Sozialismus” die meisten nun zu wissen glauben, was Sozialismus war, und nichts mehr damit zu tun haben wollen.

Urs Müller-Plantenberg

Das war’s denn wohl

Die große Zeit der Umbenennungen ist gekommen. Niemand will mehr Kommunist genannt werden. Aber auch der Sozialismus ist als Parteiname allenfalls noch brauchbar, wenn er eindeutig als demokratischer gekennzeichnet wird. Die ehemalige Kommunistische Partei Italiens ist noch weiter gegangen und nennt sich heute Demokratische Partei der Linken (PDS). Auch Lateinamerika wird sich an dieser Mode beteiligen.
Und es handelt sich um nicht mehr als eine Mode, weil eine Auseinandersetzung darüber, was denn nun eigentlich Sozialismus sei, überhaupt nicht stattfindet. Was da in Ost-und Mitteleuropa real existiert hat und sich mit dem Namen Sozialismus geschmückt hat, reißt bei seinem Begräbnis den Begriff und das Nachdenken darüber mit in die Grube. Das kapitalistische Weltsystem steht ohne Alternative als der große Sieger da, weil die Zukunft, die ihn ablösen sollte, nun angeblich schon der Vergangenheit angehört.

Das kann’s aber doch nicht gewesen sein

Sozialismus, das war demnach: Bevormundung, Diktatur, Einparteienherrschaft, Spitzelsystem, zentrale Planung, Bürokratie, Mißwirtschaft, niedrige Produktivität, Streikverbot, Versorgungsmängel, Umweltzerstörung. Und daß damit niemand mehr etwas zu tun haben will, ist nur zu verständlich.
Nun hat es aber seit den Tagen des Kommunistischen Manifests vor mehr als 140 Jahren immer auch eine andere Vorstellung von dem gegeben, was Sozialismus sein würde und sein könnte. Der brasilianische Ökonom Paul Singer, heute für die Wirtschaft der Metropole Sao Paulo zuständig, hat in einem schmalen Buch unter dem Titel “0 que é socialismo, hoje” schon 1980, als von Gorbatschow noch nicht die Rede war, den grundsätzlich anderen Charakter eines wissenschaftlichen Begriffs von Sozialismus herausgearbeitet. ( Deutsch ist die Arbeit in gekürzter Form unter dem Titel “Was heute Sozialismus ist” 1981 in Band 5 des Jahrbuchs “Lateinamerika. Analysen und Berichte”erschienen. )
Wie Paul Singer richtig feststellt, war Kar1 Marx, an den hier durchaus anzuknüpfen ist, außerordentlich vorsichtig bei der Kennzeichnung der zukünftigen Gesellschaftsordnung, um nicht nach utopistischer oder idealistischer Manier in subjektive Phantasien abzurutschen. Wissenschaftlich ließ sich über den Sozialismus überhaupt nur sagen, daß er die Produktionsweise ist, die den Kapitalismus überwindet, indem sie den Klassenwiderspruch beseitigt. Da nun aber der Kapitalismus nicht stillsteht, sondern sich wandelt, heißt das, daß Sozialismus die Lösung der Problematik ist, die der Kapitalismus in seinem fortgeschrittenen Stadium hervorbringt und die innerhalb der strukturellen Grenzen des Kapitalismus nicht gelöst werden kann.
“Lösung” bedeutet hier, daß die Sorgen und Nöte der Mehrheit der Bevölkerung auf überlegene Weise befriedigt werden, und zwar nicht nach einem abstrakten Maßstab oder der Erkenntnis einer oberen Instanz, sondern nach dem empirischen Votum der Bevölkerung selbst. “Der mögliche und notwendige Sozialismus, der wissenschaftlich aus den objektiven Daten einer gegebenen historischen Situation erfaßt werden kann, kann deshalb nicht eine Geisteskonstruktion, eine Vision der wünschbaren Zukunft sein, die ein für allemal ausgearbeitet ist. Der auf diese Weise bestimmte Sozialismus ergibt sich aus der Entwicklung des Kapitalismus selbst und aus der Problematik, die er her-vorbringt, das heißt: aus den Forderungen, die Mehrheiten oder potentielle Mehrheiten der Gesellschaft in jeder historischen Epoche erheben.”

Das war’s denn auch nicht

Und weiter zum Verhältnis von Kapitalismus und Sozialismus: ”Sich in dem Maße beständig erneuernd, in dem er den beschleunigten Fortschritt der Produktivkräfte fördert, kann der Kapitalismus nicht aufhören, die Forderungen zu verändern, die auf seine Überwindung drängen, nämlich die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Klassen, die in ihm ausgebeutet und unterdrückt werden … in diesem Sinn bleibt der Sozialismus eine Art Reflex des Kapitalismus: Er spiegelt dessen Widersprüche und die Möglichkeiten, die dessen Entwicklung eröffnet”.
“Die einzige Art und Weise”, sagt Paul Singer weiter, “in der man verifizieren kann, ob ein bestimmtes Regime dem möglichen und notwendigen Sozialismus einer bestimmten Epoche -und uns interessiert hier unsere Epoche -entspricht, ist der Vergleich seiner Eigenschaften und Errungenschaften mit den Bestrebungen der arbeitenden Klassen der Länder, in denen der Kapitalismus am weitesten fortgeschritten ist. Ein Regime, dessen Eigenschaften diesen Bestrebungen nicht Genüge tun, das also seinen Arbeitern wirtschaftliche, soziale und politische Existenzbedingungen bietet, die nicht die vom Kapitalismus in seinem fortgeschrittensten Stadium angebotenen Existenzbedingungen übertreffen, hat offensichtlich den Kapitalismus nicht überwunden und kann deshalb nicht als sozialistisch betrachtet werden.”
Diese kurzen Zitate reichen schon aus, um zu zeigen, daß der sogenannte “real existierende”Sozialismus mit dem marxschen Denken über Sozialismus nichts zu tun hatte. Nur mit einem unhistorisch-statischen, idealistischen Begriff von Sozialismus konnte man das bei den meisten Angehörigen der arbeitenden Klassen verhaßte System mit seinem ökonomischen Rückstand und seiner politischen Unterdrückung als sozialistisch betrachten oder sogar feiern.
Es wäre aber auch unhistorisch und falsch, nach sozialdemokratischer Manier die Forderungen der europäischen Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts zum Maßstab für Sozialismus zu machen. Wenn der Sozialismus immer nur das wäre, was er zu den Zeiten von Kar1 Marx für das Proletariat anfänglich einmal war, nämlich die Durchsetzung der Forderungen nach demokratischen Freiheiten, politischen Rechten, sozialer Sicherung und materiellem Wohlstand, Forderungen, deren Erfüllung das Proletariat sich damals innerhalb des Kapitalismus nicht vorstellen konnte, dann könnte man nicht leugnen, daß der Sozialismus -abgesehen von den Problemen einiger Randgruppen -in Westeuropa und den USA jetzt schon verwirklicht ist. So wichtig aber diese Errungenschaften sind, die Forderungen der Menschen von heute und mit ihnen der Sozialismus von heute sind in der Tendenz noch anspruchsvoller geworden, legen weniger Wert auf die Ausdehnung des materiellen Konsums als auf die Demokratisierung von Entscheidungsprozessen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich und auf die Beseitigung autoritärer Strukturen in allen Sphären des öffentlichen und privaten Lebens.

Und der Sozialismus an der Peripherie?

Für viele ist der Gedanke, daß es jenseits des fortgeschrittenen Kapitalismus noch eine Alternative geben könne, so fern, daß sie den Begriff des Sozialismus ganz im Gegensatz zu Marx und Singer allenfalls mit Rückstand und Unterentwicklung zusammenbringen können. In den 70er und 80er Jahren war auch unter Linken die Vorstellung weit verbreitet, daß durch sozialistische Gesellschaften in der Dritten Welt von der Peripherie aus die Überwindung des Kapitalismus vorangetrieben werden könne. Große Teile der internationalistischen Solidaritätsbewegung schöpften aus solchen Gedanken ihr Selbstverständnis und ihre Hoffnungen.
Nun ist nach dem Vorangehenden schon deutlich, daß für Marx die Vorstellung, daß sich Sozialismus beschränkt auf einen relativ rückständigen Teil der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems herausbilden könnte, undenkbar war. Höchstens mochte er sich die Frage stellen, ob bestimmte Länder der Peripherie im Rahmen einer Weltrevolution dazu in der Lage seien, an historische Produktionsverhältnisse anzuknüpfen und sich so den beschwerlichen Umweg über den kapitalistischen Entwicklungsweg zu ersparen.
Selbst als Lenin, Luxemburg, Bucharin und andere im Zeitalter des Imperialismus die Bedeutung der Ausbeutung der Kolonien und Halbkolonien für die Entwicklung in den Zentren des Kapitalismus herauszustellen begannen, dachten sie keineswegs daran, die Möglichkeit eines sozialistischen Systems am Rande oder jenseits des kapitalistischen Weltsystems theoretisch zu begründen, Allenfalls ging es ihnen darum, das Interesse und die Möglichkeit der Teilnahme der peripheren Länder an der Weltrevolution zu betonen. Die Vorstellung, daß “Sozialismus” am Rande des kapitalistischen Weltsystems, noch dazu in einem relativ rückständigen Lande, möglich wäre, brach sich überhaupt erst Bahn, als nach der Oktoberrevolution in Rußland die erhoffte Weltrevolution ausblieb und die russischen Revolutionäre gezwungen wurden, die von ihnen erkämpften Errungenschaften gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen. Diese Vorstellung fand schließlich ihre Rechtfertigung in Stalins Theorie vom Sozialismus in einem Lande, mit der begründet werden sollte, warum Sozialismus auch außerhalb der fortgeschrittensten kapitalistischen Länder und sogar in einem einzelnen Lande möglich sein sollte.

Stalin als Wegweiser

Soweit sich Emanzipationsbewegungen und Übergangsgesellschaften der sogenannten Dritten Welt seither als sozialistisch betrachtet haben, hat dieser Selbsteinschätzung mehr oder weniger stillschweigend Stalins Theorie vom Sozialismus in einem Lande zu de gelegen. Das hat insofern für Idee und
Praxis des Sozialismus einen große n Stellenwert gehabt, als bestimmte, historisch erklärbare, aus der Not des täglichen Kampfes geborene Besonderheiten und Eigenheiten des sowjetischen Systems zu allgemeinen Merkmalen und Kennzeichen des Sozialismus überhaupt im Rang von ewigen Wahrheiten , erhoben und dementsprechend nachgeahmt oder angewandt wurden.
Zu diesen Eigenheiten und Besonderheiten des sowjetischen Systems gehörten und gehören teilweise noch immer vor allem die weit entfernt von jedem Absterben stets wachsende Rolle des Staates als Motor der Entwicklung der Produktivkräfte, der auf das Einholen der kapitalistischen Industrieländer zielende Industrialismus und Wachstumsfetischimus die Einparteienherrschaft und das Fraktionsverbot. Die Identifizierung dieses Systems mit dem Sozialismus hat es der Partei-und Staatsbürokratie in vielen Ländern der Dritten Welt erlaubt, sich selbst als Vorhut der kaum existierenden Industriearbeiterklasse zu begreifen und entsprechend zu begünstigen. Sogar Bewegungen und Parteien, die sich von der Sowjetunion niemals abhängig gemacht haben, fühlten sich lange Zeit doch diesem Sozialismusmodell verpflichtet.

… für nachholende Entwicklung

Zeitweilige Erfolge einiger Drittweltländer auf diesem Wege waren hierzulande Anlaß, Sozialismus überhaupt zu einer Sache der Peripherie zu erklären. So hat etwa der in Bremen lehrende Professor Dieter Senghaas geschrieben: “Aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht kommt Sozialismus ein anderer Stellenwert zu, als er in der überkommenen, kapitalismuskritischen ( sozialistischen ) Theorie ins Auge gefaßt wurde. Dort galt Sozialismus als eine Etappe jenseits der positiv und negativ bewerteten “Fülle” von Kapitalismus, in Wirklichkeit fielen ihm aber Aufgaben diesseits der Fülle von Kapitalismus zu. Wo Sozialismus gesamtgesellschaftlich bestimmend wurde ( und also nicht nur eine politische Kraft unter anderen innerhalb kapitalistischer Gesellschaften blieb 1, war er Grundlage und Motor beschleunigter, nachholender Entwicklung unter widrigen internen und internationalen Bedingungen, die in der Regel eine erfolgreiche, nachholende Entwicklung unter kapitalistischen Vorzeichen unwahrscheinlich machen.” ( Dieter Senghaas, Von Europa lernen, Frankfurt/Main 1982, S. 278 )
In diesen Sätzen erweist sich Senghaas scheinbar als ein vorurteilsfreier, über jeden Antikommunismus erhabener, nüchterner Analytiker. Inzwischen wäre zu fragen, ob das Ergebnis der Analyse von Senghaas überhaupt stimmt. Wichtig ist hier aber vor allem die sich aus diesen Sätzen ergebende historische Bankrotterklärung im marxschen Sinne, also jenseits der Fülle des Kapitalismus. Der Sozialismus hat seine welthistorische Rolle in der nachholenden Entwicklung peripherer Länder.
In den letzten Jahren und Monaten wird in Europa Sozialismus nicht einmal mehr mit nachholender Entwicklung identifiziert, sondern nur noch mit Rückständigkeit. Und selbst die idealistischen Internationalisten, die sich mit Übergangsgesellschaften in der Dritten Welt identifizieren, hören allmählich auf, die traurigen Resultate widriger interner und internationaler Bedingungen als besondere Tugenden des Sozialismus im allgemeinen zu verkaufen.
Zuvor schon haben sich viele, die gerade und besonders von Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt ganz neue Formen von Sozialismus erwartet hatten, enttäuscht abgewandt, als die von ihnen früher solidarisch unterstützten Gruppen nach bewährtem Muster die typischen Kennzeichen des nachholend-rückständigen Sozialismus zu entwickeln begannen. Mag dieser nachholende Sozialismus unter den Intellektuellen und Werktätigen in den kapitalistischen Industrieländern lange Zeit eine gewisse Attraktivität gehabt haben, damit ist es nun vorbei; diese Art von Sozialismus wird von niemandem mehr als mögliche Systemkonkurrenz zum herrschenden kapitalistischen Industriesystem wahrgenommen.

Was heute Sozialismus sein konnte

Wenn, wie oben gesagt wurde, Sozialismus die Lösung der Problematik ist, die der Kapitalismus in seinem fortgeschrittenen Stadium hervorbringt und die innerhalb der strukturellen Grenzen des Kapitalismus nicht gelöst werden kann, dann steht er noch vor großen Aufgaben, und wahrscheinlich ist es dafür nicht schlecht, daß falsche Alternativen, mit denen diese Aufgaben nicht zu lösen gewesen wären, heute ganz offensichtlich nicht mehr zur Verfügung stehen.
Das industrielle Wachstum und der Wohlstand, den der fortgeschrittene Kapitalismus in einem Teil der Welt produziert hat, sind nur die eine Seite der Medaille, auf deren anderer Seite wachsende Armut, Ausbeutung von Ressourcen im anderen Teil der Welt und Umweltzerstörung in nie gesehenem Ausmaß stehen. Der “Sozialismus”, der sich selbst bisher real existierenden Sozialismus genannt hat, stellte nicht nur keine Lösung der Problematik dar, sondern hat selbst die strukturellen Grenzen des fortgeschrittenen Kapitalismus eher noch befestigt, indem er, um den Kapitalismus an Wachstumsfetischismus noch zu übertreffen, die Verschwendung der knappen Ressourcen und die Zerstörung der Umwelt noch ungehemmter und unkontrollierter vorantrieb.
Nach den bisherigen Erfahrungen scheint es ausgeschlossen, daß der Kapitalismus für diese Problematik, die er selbst hervorgebracht hat, innerhalb seiner strukturellen Grenzen eine Lösung finden kann. Die großen Massen der sich vergiftenden, ausgebeuteten, hungernden Menschen in dem einen kapitalistischen Weltsystem werden notwendig immer stärker und unbeirrbarer auf eine Alternative drängen. Marx hätte sie Sozialismus genannt.
Und sollte der Kapitalismus doch wieder in der Lage sein, für die Probleme, die ,r selbst hervorbringt, eine Lösung zu finden, so wie er unerwarteterweise in Westeuropa und Nordamerika die wesentlichsten Forderungen der Arbeiterklasse des neunzehnten Jahrhunderts erfüllen konnte, so wäre das kein Schade. Diese Lösung wurde ihm allerdings von einer Arbeiterklasse abgetrotzt, die die Alternative des Sozialismus vor Augen hatte. Von nichts kommt nichts.

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