Nicaragua | Nummer 229/230 - Juli/August 1993

Wassernotstand: Das Land trocknet aus

Die Abholzung des Waldes hat katastrophale Folgen

In den nicaraguanischen Medien häuften sich in den letzten Wochen Meldungen über erschreckende Umweltschäden, die fast eine Endzeitstimmung aufkommen lassen. Umweltschutzorganisationen unternehmen verzweifelte Protestaktionen, die im Meer der Hiobsbotschaften sozialer, wirtschaftlicher und politischer Art untergehen. Regierungsbehörden, die für Umweltfragen zuständig sind, signalisieren Besorgnis, aber auch Hilflosigkeit. Angesichts des Ausmaßes und der Geschwindigkeit, mit der Wasservorkommen, Wälder und Wildtiere vernichtet werden, ist es keine Übertreibung, von einem nationalen Notstand zu sprechen. Denn die Umweltschäden bedrohen bereits spürbar das Überleben der nicaraguanischen Bevölkerung.

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Bald wird kein Baum mehr stehen

“Es heißt, wir hätten keine Bildung wie die anderen Leute”, beklagt sich ein alter Bauer. “Aber welche andere Lösung zeigen sie uns als das Abholzen der Bäume?” Baumholz hat einen Anteil von 60 Prozent am Energieverbrauch der nicaraguanischen Bevölkerung, vor allem als Hausbrand. Experten meinen, wenn die Vernichtung des Baumbestandes im gegenwärtigen Tempo weitergeht, wird im Jahr 2013 kein einziger Baum mehr in Nicaragua stehen. In den letzten fünf Jahren trockneten mehr als 100 Flüsse aus; mit den entsprechenden Folgen für Landschaft, Landwirtschaft und Bevölkerung. Große Gebiete leiden unter einer anhaltenden Trockenheit, die in einer Kettenreaktion zu Arbeitslosigkeit, Hungersnot und epidemischen Krankheiten führt. Die Zerstörung der Umwelt zeigt sich in ihren drastischen Folgen besonders im bevölkerungsreichen Westnicaragua. Aber in vielen Gebieten im Landesinneren und Ostteil des Landes sieht es nicht viel besser aus.

Lagunen und Seen werden ausgesaugt

In Managua trocknete vor kurzem der Kratersee Nejapa aus. Die in seiner Nähe gelegene Lagune Asososca erreicht seit einigen Jahren nicht mehr ihren höchsten Wasserstand. Asososca ist an die gleiche Grundwasserader wie der nun trockene Nejapa angeschlossen. Der Grundwasserspiegel sinkt beständig, und dem Kratersee Asososca blieb vorerst das gleiche Schicksal wie dem Nachbargewässer nur deshalb erspart, weil er etwas tiefer gelegen ist. Die Wasserwerke entnehmen dem Asososca täglich fast 40 Millionen Liter Trinkwasser. Jeden Tag sinkt der Wasserspiegel um einen Zentimeter. Wenn der Wasserspiegel sein kritisches Niveau unterschreitet, würde sich das Wasser mit dem des hochgradig verseuchten Managua-Sees Xolotlán vermischen und damit als Trinkwasser ungenießbar.
Der Fluß Río Samaria in dem Ort Villa Carlos Fonseca an der Pazifikküste hat sich in einen trockenen Graben verwandelt. Die Bevölkerung von insgesamt zwanzig Ortschaften ist von dieser Katastrophe betroffen. Sie wissen nicht, wo sie ihr tägliches Gebrauchswasser herholen sollen. Die Agonie des Río Samaria begann 1990 und endete jetzt im April. Die Wasserader ist versiegt. Die UNICEF will die Erschließung von 20 Trinkwasserbrunnen finanzieren, aber selbst damit wird die Wasserversorgung der Bevölkerung mangelhaft sein. Nach Meinung des Bürgermeisters von Villa Fonseca hat die Abholzung des Baumbestandes den Fluß versiegen lassen. Einen Teil der Schuld hätten auch das benachbarte Zukkerrohrverarbeitungswerk und die rücksichtslose Verwendung von Flußwasser bei der Bewässerung von Feldern.

Schon an der Quelle fehlt das Wasser

In Villa Fontana an der Grenze zu Honduras gibt es eine ähnliche Situation. Obwohl der Ort an der Quelle des Río Coco liegt, ist Wasser ein Mangelgut geworden. Das gleiche gilt für den Ort Ocotal, der sogar von drei “Flüssen” umgeben ist. Coco, Dipilto und Mozonte. Der Coco führt nur Wasser, wenn es kurz vorher geregnet hat. Der Wasserstand des Dipilto reicht gerade, um Flußbecken anzufeuchten und Mozonte wird durch eine Abfolge von Sperrwerken ausgesaugt, die die Bauern entlang seiner Ufer zur Bewässerung ihrer Felder angelegt haben.
Die nordwestlichen Gebiete Nicaraguas, die traditionellen Baumwollanbaugebiete, sind verödet. Früher sammelte sich dort das Grundwasser unter fruchtbaren Böden, den besten Nicaraguas, und speiste mehrere Flüsse. Aber der Baumbestand wurde abgeholzt und die Regengüsse spülen die fruchtbare oberste Bodenschicht weg. Der Grundwasserspiegel sinkt beständig, und die Brunnen müssen immer tiefer gebohrt werden. Diese Gebiete leiden unter einer vier Jahre währenden Trockenheit. Von der “anderen Seite” Nicaraguas, der Atlantikküste, wo die Kinder zur Schule gehen, wenn es regnet, und an den seltenen Sonnentagen zum Spielen auf der Straße bleiben, wird ebenfalls Wassermangel gemeldet.

Die letzten Schildkröten werden aus dem Schlamm gezogen

Die Bilder von der ausgetrockneten Lagune Nejapa haben die Öffentlichkeit alarmiert: die kahlen Hänge, der unter der Hitze in trockene Erdschollen aufgebrochene frühere Seeboden, mit einem schlammigen Pfuhl in der Mitte, aus dem Freiwillige die letzten Schildkröten zogen und sie mit einem Wasserschlauch besprengten. Die Schildkröten wurden in dem Kratersee Tiscapa und dem Managuasee Xolotlán ausgesetzt. Tiscapa und Xolotlán sind hochgradig verschmutzt und von den Menschen nicht einmal mehr zum Baden benutzbar. Außerdem zieht sich der Wassersaum des Xolotlán stets weiter zurück. Die legendäre Isla de Amor, die Liebesinsel vor Managua, ist demnächst zu Fuß erreichbar und voraussichtlich bald auch der kleine Vulkankegel Momotombito. Auf der gegenüberliegenden nördlichen Seite des Xolotlán, etwa 25 Kilometer von seinem Ufer entfernt, hat sich der See Moyuá seit 1991 in eine trockene, von niedrigen Sträuchern bewachsene Senke verwandelt. Die sandinistische Regierung hatte in den 80er Jahren fünfzig am Ufer des Moyuá wohnenden Fischern noch Boote und Netze geschenkt. Wer in dieser Zeit auf der Panamericana Richtung Norden nach Sébaco fuhr, dem wurden an den Straßenrändern bündelweise frischgefangene Fische angeboten. Jetzt können AutofahrerInnen von der Panamericana abbiegen und die trockene Senke des Moyuá befahren; eine Fahrt, die statt Vergnügen zu bereiten Angst macht. Es ist unmöglich, hier alle ausgetrockneten Gewässer zu erwähnen.

Mühsame Wiederaufforstung

Das staatliche Institut für Naturvorkommen (IRENA) hat jetzt beschlossen, Rettungsmaßnahmen für den ausgetrockneten Kratersee Nejapa in Managua einzuleiten. Die Uferhänge sollen wieder bepflanzt werden, damit sich das Regenwasser im Kraterkegel sammelt. ÖkologInnen schlagen vor, eine systematische Wiederaufforstung zu beginnen und dafür den aus Indien stammenden Nim-Baum zu verwenden. Der schnellwachsende Nim dient in seinem Ursprungsland als Lieferant von Brennstoff und einem natürlichen Schädlingsbekämpfungsmittel, mit dessen Gewinnung und Anwendung während der FSLN-Regierung auch in Nicaragua experimentiert wurde.

Kein wirksamer Umweltschutz ohne Armutsbekämpfung

Die nicaraguanische Regierung will Gesetze erlassen, um Umweltverbrechen zu bestrafen. Aber damit ist nach Meinung des IRENA-Direktors Jaime Incer Baquero die Ursache des Problems nicht zu lösen. Incer nannte als Hauptgründe für die Umweltkatastrophe in Nicaragua “die Abholzung großer Gebiete für den Baumwollanbau, das Vorrücken der Agrargrenze und die Energiekrise, die die Leute zwingt, Baumholz in der Küche zu verfeuern.” Nach Angaben des Vorsitzenden des Parlamentsausschusses für Umwelt, des FSLN-Abgeordneten José León Talavera, werden in Nicaragua jährlich 150.000 Hektar Baumbestand vernichtet. Um den Baumbestand zu erhalten und wieder zu vergrößern, müßten laut Talavera jedes Jahr 10 Millionen Bäume gepflanzt werden, also drei bis vier pro EinwohnerIn.
Die materielle Armut der nicaraguanischen Bevölkerung ist ein Hauptgrund für die rasche Zerstörung der Umwelt. Der Umweltausschuß des Parlaments hat auf Initiative Talaveras die Regierung aufgefordert, bis Juni einen Umweltnotmaßnahmen-Plan vorzulegen. Sie dürften sich nicht auf den botanischen Bereich beschränken. Denn ein wirksamer Umweltschutz muß vom Menschen und der Befriedigung seiner vitalen und sozialen Bedürfnisse ausgehen.

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