Literatur | Nummer 486 - Dezember 2014

Wegweiser zur kulturellen Integration Mittelamerikas

Die Anthologie Zwischen Süd und Nord zeigt Alltag und Anormalität zwischen Panama und Guatemala

Philine Kemmer

Mittelamerika liegt da, wo Ramiro schaukelnd auf seinem Stuhl vor dem Fernseher sitzt und seine Vergangenheit vergisst. Eine Vergangenheit, die darin bestand, die sogenannten Subversiven zu töten. Jetzt ist in Ramiros Kopf nur noch nebliger, leerer Dunst. Schützt Vergessen vor Verantwortung? Mittelamerika liegt auch da, wo ein Präsident an der Zerrissenheit und Korruption in seinem Land verzweifelt. Die Vision: Er legt einen Dachgarten an und die ganze Hauptstadt tut es ihm nach. Lassen sich so die gegenwärtigen Probleme der korruptionszerfressenen Regierung lösen?
Für die Anthologie Zwischen Süd und Nord haben sich sechs mittelamerikanische Verlage zusammengeschlossen und unter der Leitung des bekannten nicaraguanischen Schriftstellers Sergio Ramírez Kurzgeschichten zusammengetragen. Es sind 26 kurze und eindringliche Geschichten aus Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua, Costa Rica, Panama und – aufgrund der kulturellen Nähe – aus der Dominikanischen Republik.
Trotz der gemeinsamen Vergangenheit der Länder stehen einer engeren Kooperation, beispielsweise im Literaturbetrieb, Hindernisse wie absurde Zollschranken im Weg. Der Erzählband Zwischen Süd und Nord hat für Ramírez, einst hochrangiger sandinistischen Politiker, als eines der ersten Gemeinschaftsprojekte des Verlagszusammenschlusses GEICA hohen Stellenwert: Es soll einen Beitrag zur kulturellen Integration leisten. Die einzelnen Geschichten verknüpfen Fiktives mit aktuellen, drängenden Problemen. Dabei geht es nicht um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern, sondern um das, was sie vereint. Im Vorwort beschreibt Ramírez, warum die Sammlung auf Spanisch Espejo roto („Zerbrochener Spiegel“) heißt: Am wichtigsten sei nicht die Poetik der Texte, sondern die Realität. Und die ist zerbrochen.
Die Erzählungen, kleinen Spiegelscherben gleich, schaffen ein einzigartiges Panorama der schmalen Länderbrücke, das sowohl die Fragilität ihrer Bewohner_innen als auch die sozialen und politischen Anormalitäten offenbart. Hinter den Geschichten verbergen sich Poet_innen, „literarische Geheimtipps“ und preisgekrönte Schriftsteller_innen der jüngeren Generation. Es gelingt ihnen die Lesenden mit lebendigen Figuren in die kurzen Handlungen zu locken. Dagegen ist auffallend, dass keine der letzten vier Geschichten aus der Dominikanischen Republik überzeugt. Die Inhalte sind eher flach und lassen sich nur schwer in Mittelamerika verorten, weshalb der Miteinbezug des Karibikstaates konstruiert wirkt. Darüber lässt sich jedoch bei der Vielfalt der Geschichten hinwegsehen. Insgesamt sind bei einer Anthologie, die in einer überraschenden Mischung verschiedenste Stile vereint, polarisierende Geschmacksurteile wohl unvermeidbar. Im Anhang können die Lesenden diejenigen Autor_innen suchen, die sie begeistert haben und stoßen auf spannende weitere Anthologien und literarische Blogs.
Für Ramírez ist und bleibt Literatur „ein Reflex der Wirklichkeit, die sich als eine Bühne zeigt, auf der sich Überraschendes ereignet.“ Es geht den Autor_innen um nicht weniger, als ihre verlorene Identität wiederzufinden. Literarische Verarbeitung ist sicher ein Mittel, um einzelne Scherben aufzulesen und ins Licht zu halten: Ein Scherbenmeer ist die von Gewalt durchzogene Vergangenheit Mittelamerikas, scharfkantige Scherben sind auch die Abgründe der Gegenwart. In Zwischen Süd und Nord werden im zusammengesetzten Spiegel die Risse sichtbar.

Sergio Ramírez (Hg.) // Zwischen Süd und Nord – Neue Erzähler aus Mittelamerika // Unionsverlag // Zürich 2014 // 19,95 € // www.unionsverlag.com

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