Nummer 305 - November 1999 | Sachbuch

Weihnachten in der Hölle

Eine Chronik des Blutbades von 1997 in Acteal

In der „Aktuellen Reihe“ des Atlantik-Verlages ist jetzt mit Acteal: Chiapas – Weihnachten in der Hölle ein Buch der mexikanischen Journalistin Marta Durán mit Fotos von Massimo Boldrini auf deutsch erschienen. Das Buch rekonstruiert anhand von Augenzeugenberichten die von Seiten der mexikanischen Regierung und der chiapanekischen Oligarchie vorangetriebene Zuspitzung der Konflikte in der nördlichen Bergregion von Chiapas bis zu dem grausamen Massaker an der Bevölkerung von Acteal Weihnachten 1997.

Dario Azzellini

Am 22. Dezember 1997 stürmten regierungstreue Paramilitärs das kleine Dorf Acteal im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas, ermordeten auf grausame Weise 45 Frauen, Kinder und Männer. Die Opfer von Acteal gehörten alle der katholischen Gruppierung Sociedad civil Las Abejas an, die sich 1993 aus Protest gegen behördliche Willkür gegründet hatte. Die Organisation arbeitet zwar mit den autonomen Gemeinden der zapatistischen Basis zusammen, lehnt aber selbst
jede Form von Gewalt ab.
Der mexikanischen Journalistin Marta Durán, die kurz nach dem paramilitärischen Angriff in Acteal ankam, und dem italienischen Fotografen Massimo Boldrini gelang es, eine große Anzahl beeindruckender und bewegender Zeugenberichte zu sammeln. Ergänzt mit Fakten und Analysen amtlicher Verlautbarungen demaskiert das Buch die offizielle Version der “innergemeinschaftlichen Konflikte” und führt minutiös vor Augen, daß es sich bei dem Massaker um ein sorgfältig geplantes Manöver der Autoritäten im Rahmen der Aufstandsbekämpfung handelte. Widersprüche in der Argumentation offizieller Stellen werden aufgezeigt und eine Fülle von Belegen für die Komplizenschaft von PRI, Polizei und Militär dargelegt.
Marta Durán resümiert an einer Stelle: “Das Massaker von Acteal veränderte unsere Wahrnehmung von Schmerz. Nach dem 22.12.1997 wußten wir was wirklicher Horror ist. Wir sahen aber auch, daß dieser Horror die Würde der Indígenas nicht zerstören konnte.”

Bedauerliche Sparzwänge

Schade nur, daß das ewige Kosten-Dilemma linker Kleinverlage dazu führte, eine Papierqualität wählen zu müssen, unter der die Bilder des Fotografen Massimo Boldrini leiden.
Auch hätte es sicher dem besseren Verständnis der Lage gedient, eine genauere Analyse der Funktionsweise paramilitärischer Gruppierungen mit in das Buch zu nehmen. Die vorhandenen Erklärungsansätze, die den paramilitärischen Terror in Chiapas schlichtweg in eine Linie mit historischen Beispielen aus Zentralamerika stellen, scheint etwas zu kurz gegriffen. Hier hätte durchaus der Bogen zur aktuellen Mexiko-Politik der europäischen Staaten gespannt werden können: Schließlich wurde die mexikanische Regierung durch die “Externalisierung” des Terrors auf perverse Weise der plakativen Forderung von Regierungsorganen nach einem Ende der Menschenrechtsverletzungen gerecht. Somit steht der weltweite Aufschwung von Paramilitärs durchaus im Zusammenhang mit dem vordergründigen Menschenrechts- und Demokratiediskurs der selbsternannten Zivilisationswächter des westlichen Abendlandes.
Acteal: Chiapas – Weihnachten in der Hölle ist aber dennoch ein uneingeschränkt empfehlenswertes Zeitdokument, und es bleibt zu hoffen, daß dieser „Appell zur Solidarität, damit Mexiko und insbesondere seine indigene Bevölkerung am Ende dieses Jahrhunderts nicht in einer Katastrophe zugrunde gehen“, Wirkung zeigt.

Martha Duran / Masimo Boldrini / Carlos Facio: Acteal: Chiapas – Weihnachten in der Hölle. Übersetzung aus dem Spanischen von Theo Bruns u.a. Atlantik Verlag, Bremen 1999, 103 S.

KASTEN

Juristische Ergebnisse

Im Rahmen der Ermittlungsverfahren zu dem “Fall Acteal” wurden 103 Personen festgenommen. Bis zum 14. September 1999 wurden 55 Angeklagte zu 32–35 Jahren Haft verurteilt. Zu den Verurteilten gehört auch der Bürgermeister des Landkreises Chenalhó (Acteal), der zur Zeit des Massakers im Amt war.Die Angeklagten wurden des Totschlags, der schweren Körperverletzung und des illegalen Waffenbesitzes für schuldig befunden; fünfder Verurteilten hatten zuvor ein Geständnis abgelegt. Zehn Ex-Polizisten wurden wegen Beihilfe zu dem Massaker zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt.
Ein Ex-Militär, der bei der Nationalen Sicherheit mit Spionageaufgaben in der Region beauftragt war, wurde zu zwei Jahren Haft und einer Geldstrafe von 86 000 Pesos verurteilt, weil er die am Massaker Beteiligten militärisch ausgebildet hatte.
Zwei Minderjährige, die bei dem Massaker mitgewirkt hatten, befinden sich in einem Erziehungsheim.
90 Haftbefehle sind noch zu vollstrecken, davon elf gegen flüchtige Ex-Beamte der Regierung und Ex-Polizisten.
Quelle: La Jornada (19.7.99/14.9.99)

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