Linke in Lateinamerika | Nummer 325/326 - Juli/August 2001

Weihrauch für die Volksmacht

Basisdemokratie pur in Ecuadors Alternativparlament

Ob Shuar aus dem Amazonasgebiet, Quichuas aus dem Hochland oder Schwarze aus der Küstenregion, ob Gewerkschafter, Studenten oder Kleinhändler: Die Abgeordneten des 1999 gegründeten Parlaments der Völker versuchen, dem korrupten ecuadorianischen Kongress ein Stück Basisdemokratie entgegenzusetzen. Da paart sich Spiritualität mit politischem Kampf, Solidarität mit Sektierertum und Organisation mit Chaos.

Rolf Schröder

Zu Jahresbeginn ist regelmäßig was los in Ecuador. Anfang 1997 legten zwei Millionen Menschen das ganze Land lahm und jagten den korrupten Präsidenten Abdalá Bucarám aus dem Land. Und nachdem dessen Nachfolger Fabián Alarcón wegen Veruntreuung von Staatsgeldern ins Gefängnis gewandert war, erwischte es im Januar 2000 den Nächsten: Präsident Jamil Mahuad, der Millionen Sparer um ihr Geld betrogen hatte. Er floh ins Ausland, als eine breite Protestbewegung den Kongress besetzte.
Auch in den ersten Wochen des Jahres 2001 ist die soziale Lage in Ecuador explosiv: Eine von der Regierung verfügte Erhöhung der Benzin- und Gaspreise hat zu Streiks und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und den Ordnungskräften geführt. In Quito trifft sich im Haus der Kulturen, dort wo koloniales Zentrum und Neustadt aneinander grenzen, das alternative Parlament der Völker. Einziger Tagesordnungspunkt: die Organisation des Widerstands. Im Auditorium, einem großen, fensterlosen Saal, haben sich bei künstlichem Licht etwa 300 Personen versammelt.
Das Parlament der Völker wurde im Dezember 1999 von verschiedenen indigenen und sozialen Bewegungen ins Leben gerufen. Es ist eine Art Gegenmodell zum ecuadorianischen Kongress, dem von der Verfassung bestimmten Parlament. Die Delegierten des Alternativparlaments gehören verschiedenen Basisorganisationen an: Gewerkschaften, kommunistischen oder sozialistischen Parteien, Frauen- und Studentenorganisationen, Menschenrechtsgruppen oder Interessensverbänden von Kleinhändlern und Mikrounternehmen. Besonders stark sind die indigenen Organisationen des Landes vertreten. Der Großteil der Abgeordneten wurde von regionalen Alternativparlamenten entsandt, die ebenfalls vor kurzem entstanden. Kurz nach seiner Gründung sorgte das Parlament der Völker schon für internationale Schlagzeilen: Es beschloss nicht nur die Besetzung des Kongresses im Januar 2000, sondern auch die Bildung eines Triumvirats zur Nachfolge des aus dem Amt gejagten Präsidenten Mahuad. Folglich stieß auch die Einberufung des Parlaments der Völker im Januar dieses Jahres auf ein breites Medieninteresse.

Die Aufwärmung

In der ersten halben Stunde der auf zehn Uhr angesetzten Sitzung geschieht nichts Aufregendes. Nur auf der Bühne vor dem Podium herrscht reges Treiben: Die Diskussionsleitung ist in lebhafte Debatten verwickelt, ein weiß gekleideter Schamane legt eine bunte Webdecke auf den Holzboden und streut Blumen aus. Dann stellt sich eine Frau mit schnurlosem Mikrofon vor der ersten Reihe der Versammelten auf. Sie sieht aus wie eine Angestellte aus einem Reisebüro, trägt einen Hosenanzug, ein Halstuch und Schuhe mit hohen Absätzen. „Das Volk von Quito?“ fragt sie in die Menge und erhält umgehend aus hundert Kehlen die Antwort: „Anwesend!“ „Das Volk von Pichincha?“ Das ist ebenfalls zugegen. Und so geht es weiter, bis die Dame die Präsenz der verschiedenen Völker Ecuadors abgefragt hat. Die Anwesenheitsüberprüfung wird mit einem gemeinsamen „El pueblo unido jamás será vencido!“ – „Das geeinte Volk wird niemals besiegt werden!“ beendet, bei dem die Dame sich als Einpeitscherin outet und die rechte Faust emporreckt. Nun hat sie sich warm gerufen und läuft zu ihrer eigentlichen Form auf: „Nieder mit der neoliberalen Regierung!“ Wie ein Echo schallt es zurück. „Nieder mit dem Internationalen Währungsfonds!“ Auch diese Aussage wird von allen Anwesenden bestätigt. Die Frau am Mikrofon hat mehrere Dutzend Parolen dieser Art auf Lager, die sie die Versammelten wiederholen lässt. Notfalls auch zwei Mal, wenn nämlich die erste Antwort zu leise ausfällt. In dem Fall legt sie ihre rechte Hand ans Ohr und bedeutet der Versammlung mit einer wild gestikulierenden Linken, dass sie unzufrieden ist.
Die meisten Parolen reimen sich, und einige sind sogar recht lustig. Der Höhepunkt ist aber ein Dialog zwischen der Einpeitscherin und dem Publikum. Wie denn die Regierung gestürzt werden solle, fragt sie. „Indem wir kämpfen und die Volksmacht errichten!“ „Und wie lange, compañeros?“ „Für immer, carajo!“ „Und wie, compañeros?“ „Mit aller Kraft, carajo!“ Die Stimmung wird immer erregter. Als dann noch die Parole „Nieder mit der Boulevardpresse!“ aufkommt, bilden sich auf der Stirn der anwesenden Fotografen Schweißperlen. Die Volksmacht drängt sie aus dem Saal, und sie können am Ende froh sein, ihre Kamera gerettet zu haben – für welche Zeitung sie auch immer arbeiten. Gegen elf Uhr wird die Stimmungsmacherin etwas heiser, doch dafür meldet sich eine kräftige Stimme aus der Mitte des Saales: „Es lebe die Pünktlichkeit!“

Schamanen und Spitzel

Dann beginnt nicht die Debatte, sondern zunächst eine religiöse Zeremonie. Der weißgewandete Schamane streut Mehl auf den Holzboden und legt Maiskolben und Adlerfedern neben die Blumen. In einer Tonschale bereitet er Weihrauch vor. Nun bläst er in eine Tonpfeife: die Versammelten stehen auf und beten mit dem Schamanen. Sie drehen sich mit ihm nach Süden, Osten, Norden, Westen, strecken die Arme aus und führen sie zum Herzen zurück. Eine Geste, mit der sie ihre Brüder und Schwestern grüßen, die in diesen Himmelsrichtungen leben. Dann wenden sie sich dem Himmel und der Erde zu und bedanken sich für Sonne und Sterne, für Mais, Kartoffeln und Öl. Sie ermahnen sich, die Natur zu respektieren.
Erst jetzt folgt die Politik. Antonio Vargas, Präsident der CONAIE, leitet die Debatte und versucht festzustellen, wer stimmberechtigt ist. Darüber entbrennt ein erster Streit. Verschiedene regionale Delegationen sind untereinander uneins, wer von ihnen ein ordentliches Abgeordnetenmandat besitzt und wer nicht. Nach einigem Hin und Her einigt man sich auf die Bildung einer Kommission, die mit der Akkreditierung der Abgeordneten betraut wird. Dann wird der Antrag gestellt, das Parlament möge einem Abgeordneten aus der Provinz Pichincha das Mandat aberkennen. Begründung: Der Mann soll mit Unterstützung der US-amerikanischen Entwicklungsorganisation US-Aid ein Buch veröffentlicht haben und zu einer Vortragsreise in die USA eingeladen worden sein. Damit aber, so erläutert der Antragsteller, sei der Abgeordnete als CIA-Spitzel entlarvt. Denn der ehemalige CIA-Agent Philip Agee habe unlängst nachgewiesen, dass es enge Verbindungen zwischen US-Aid und dem US-Geheimdienst gebe. Es folgt erneut eine längere Debatte. Schließlich darf der umstrittene Delegierte bleiben.

Die Marathondebatte

Die mittlerweile registrierten Abgeordneten nehmen nun an der linken vorderen Seite des Saales Platz. Damit sind sie vom Rest der Versammelten räumlich getrennt. Antonio Vargas sitzt mit einer rotschwarzen Motorradjacke in der Mitte des Präsidiums und bekommt die Versammlung nicht recht in den Griff. Vergeblich mahnt er an, die Redezeit von zwei Minuten möge eingehalten werden. Mitunter reden mehrere Abgeordnete gleichzeitig. Derweil sitzt der Schamane, inzwischen als Compañero Jaime bekannt, auf seiner Decke und fächelt mit den Adlerfedern immer wieder den Weihrauch an. Manchmal steigt der duftende Qualm so dicht auf, dass die Männer am Tisch des Präsidiums dahinter verschwinden.
Die Veranstaltung hat überraschend chaotisch begonnen, doch im weiteren Verlauf relativiert sich dieser Eindruck. Nach einer Weile hat sich das Präsidium dazu durchgerungen, den Rednern nach Debattenbeiträgen, die drei Minuten überschreiten, den Strom abzudrehen. Nun wird auch inhaltlich debattiert, und es beteiligen sich erstaunlich viele Frauen, gerade unter den Indígenas. Alle Delegierten sind sich darin einig, nicht mit der Regierung zu verhandeln, bevor diese nicht die verfügte Gas- und Benzinpreiserhöhung zurückgenommen hat. Auch der Plan Kolumbien und die US-Marinebasis in der Hafenstadt Manta werden entschieden abgelehnt. Das Kabinett Noboa wird zum Rücktritt aufgefordert. An dessen Stelle soll eine Regierung der nationalen Rettung treten. Die Ergebnisse der Debatte werden in einer Resolution festgehalten.
Wer eine solche Regierung der nationalen Rettung führen könnte wird deutlich, als mitten in der Debatte plötzlich Rufe laut werden: „Es lebe der künftige Präsident Ecuadors!“ Aus einer Nebentür auf die Bühne getreten ist der Oberst Lucío Gutiérrez: in Kampfstiefeln, Khakihose und olivgrünem Hemd, aber ohne militärische Rangabzeichen. Gutiérrez winkt den Versammelten zu und erhält tosenden Applaus. Sein Verdienst: Er gab den militärischen Wachpos-ten vor dem ecuadorianischen Parlament im Januar 2000 den Befehl, sich zurückzuziehen. Damit standen die Türen des Kongresses für die Demonstranten offen, die gegen die katastrophale Wirtschaftspolitik der Regierung Mahuad protestierten. Gutiérrez und Vargas gehörten schließlich dem Triumvirat an, das nach der Besetzung des Kongresses gebildet wurde und für einige Stunden die Macht übernahm. Auf Befehl von oben wurde Gutiérrez dann allerdings von einem vorgesetzten General ersetzt. Der löste aber umgehend das ganze Triumvirat auf und beauftragte Gustavo Noboa, den Vizepräsidenten Mahuads, mit der Regierungsbildung.
Den Abgeordneten gelingt es im weiteren Verlauf der Debatte nicht, sich auf geeignete Protestformen zu einigen. Inzwischen ist die Sitzung zu einer Marathondebatte geworden, und es bleibt nur eine Lösung: die Aktionsformen sollen auf regionaler Ebene entschieden werden. Die völlig erschöpften Delegierten gehen erst am späten Abend auseinander. In den folgenden Wochen kommt es zwar noch zu einem Aufstand im Land und zu einem Sternmarsch der Indígenas auf Quito, doch die CONAIE und andere indigene Organisationen einigen sich mit der Regierung schließlich auf einen Kompromiss. Das Parlament der Völker Ecuadors hat in diesem Jahr keine Geschichte geschrieben.

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