WELTstadt – STADTwelt
WELTstadt – STADTwelt
Warum wachsen die Städte? lautete die Leitfrage für die verschiedenen Beiträge, die sich mit Spontansiedlungen in Caracas, der Öko-Modell-Stadt Curitiba im Süden Brasiliens, dem Phänomen der Straßenkinder und schließlich der Zukunft von “Dritte-Welt”-Städten befaßten. Wer sich mit der sozialen, ökonomischen oder ökologischen Problematik von Städten in Lateinamerika auseinandersetzt, der muß zunächst den Ursachen für die Landflucht auf den Grund gehen. Am intensivsten gelang dies Uwe Pollmann vom “Dritte-Welt”-Haus in Bielefeld in seinem Beitrag zu Straßenkindern in der “Dritten Welt”. Das traditionelle Problem der ungerechten Landverteilung, neuere Entwicklungen zur modernisierten Plantagen- und extensiven Weidewirtschaft sind Auslöser für die ökologische Zerstörung sowie die soziale Misere der Landbevölkerung und Ursache für Migration. Die überwiegend jungen Leute, die oftmals völlig mittellos in der Stadt ankommen, bauen auf freiem Gelände zunächst einfache Wellblech- oder Papphütten . Im Laufe der Zeit, so beschrieb Prof. Pachner von der Universität Tübingen am Beispiel von sogenannten Spontansiedlungen, deren Entwicklung er seit über 20 Jahren begleitet, werden die einfachen Hütten jedoch ausgebaut. Strom- und Wasserzuleitung werden zunächst illegal beschafft, später offiziell eingerichtet. Am Ende stehen oftmals ansehnliche, stabile Häuschen, die an die Infrastruktureinrichten angeschlossen sind. Heute leben in den Metropolen Lateinamerikas zwischen 40 und 60% der Bevölkerung in solchen Siedlungen. Entscheidende Gründe dafür, daß Pachner die Bezeichnung “Slum” für diese Viertel ablehnt, sind die heterogene Bevölkerungsstruktur und eine sehr unterschiedliche infrastrukturelle Ausstattung. Hinzu kommt die Tatsache, daß hier neben der Mehrzahl der BewohnerInnen, die im informellen Sektor ihr Einkommen sichern, auch Menschen mit teilweise langjähriger Integration in den formalen städtischen Arbeitsmarkt zu finden sind. Interessant wäre es gewesen, zu verfolgen, wie sich die Entwicklung für Neuankömmlinge in den Krisenjahren der vergangenen Dekade vollzog oder wie sich die Lebens- und Wohnverhältnisse der seit längerem in Spontansiedlungen lebenden Menschen durch die De-Industrialisierung verändert haben. Leider gelang es dem Tübinger Geographen jedoch nicht, seine teilweise sehr intensiven empirischen Untersuchungen etwa zur Wohnsituation in Spontansiedlungen zu neueren ökonomischen und politischen Prozessen in Beziehung zu setzen. Die oftmals in diesen Siedlungen verwurzelten barrio-Organisationen, über die SozialwissenschaftlerInnen unter dem Begriff “neue soziale Bewegungen” diskutieren, wären eine gesonderte Betrachtung wert gewesen. Ihre Rolle für die Etablierung und Entwicklung der Siedlungen selbst kann gar nicht überschätzt werden.
Modellstadt Curitiba
Bemerkenswert ist, daß in zahlreichen Ländern Lateinamerikas, dem Teil der “Dritten Welt” mit der intensivsten Verstädterung, der Wanderungsdruck auf die Metropolen in den letzten 10 Jahren nachgelassen hat. Es sind heute vor allem mittelgroße Städte, die ein überproportionales Wachstum aufweisen. Zu diesen mittelgroßen Städten zählt das inzwischen etwa 1,3 Millionen EinwohnerInnen beherbergende Curitiba im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná. Über die Grenzen Brasiliens hinaus hat sie sich inzwischen den Ruf einer Öko-Modell-Stadt erworben. Folgt man den Ausführungen von Gilberto Calcagnotto vom Institut für Iberoamerikakunde in Hamburg, steht hinter dieser Erfolgsgeschichte vor allem ein Mann: der dreimalige Bürgermeister Jaime Lerner. Lerner, der damals als politisch unerfahrener Technokrat galt, wurde unter der Militärdiktatur vom Provinzgouverneur Paranás auf den Posten des Bürgermeisters gehievt. Doch der gelernte Architekt entwickelte sich zu einem Erneuerer mit großer Sensibilität für Umweltprobleme. Auf seine Initiative geht das moderne Bussystem mit zahlreichen Expresslinien und eigenen Spuren, das mit einer Verbundnetzkarte befahren werden kann, zurück. Damit konnte der Treibstoffverbrauch der Stadt um nahezu 25 Prozent verringert werden. Die zuvor überdurchschnittlich hohe Zahl von Verkehrstoten wurde drastisch gesenkt. In den letzten Jahren wurde zudem ein cambio verde genanntes Müllsammelsystem eingerichtet, bei dem von der Stadtverwaltung im Tausch gegen wiederverwertbares Material Gutscheine für Schulbücher, Fahrscheine oder Gemüse ausgegeben werden. Der neue Bürgermeister scheint das Werk Lerners fortsetzen zu wollen. Momentan stehen so ehrgeizige Projekte wie die Erneuerung des Abwassersystems auf der Tagesordnung.
Intention der Kongreßleitung war es, neben Fragen der Stadtentwicklung und -planung auch das Phänomen des wachsenden städtischen Elends anzusprechen. Es war die Aufgabe Uwe Pollmanns vom “Dritte-Welt”-Haus Bielefeld, das sich seit Beginn der 70er Jahre in der Internationalismusarbeit engagiert und inzwischen neben dem Schwerpunkt Öffentlichkeitsarbeit mehrere Straßenkinder-Projekte unterstützt, dies am Beispiel einer Stadt der “Dritten Welt” zu tun. “Straßenkinder in Recife” lautete sein Thema, und einmal mehr zeigte sich die Schwierigkeit, Elend oder soziale Mißstände vor einem westlich-industriellen Wohlstandspublikum differenziert und mit einer ausreichenden gefühlsmäßigen Distanz zu präsentieren. Das Thema legt den Blick auf dunkelhäutige, zerlumpte Gestalten, zu früh gealterte Kindergesichter nahe, die bald nur noch Mitleid erregen. Dabei wurde eigentlich sehr kenntnisreich und sensibel über den täglichen Überlebenskampf auf der Straße informiert. Pollmann gelang es zugleich den Bogen zur bundesrepublikanischen Konsumgesellschaft zu schlagen, die von niedrigen Kaffee- und Orangenpreisen profitiert, die auf die Ausbeutung von Kinderarbeit zurückzuführen sind.
Daran besteht kein Zweifel: Wer sich über Städtewachstum Gedanken machen will, der muß zunächst sehen, was auf dem Land passiert. Zentrale Ursache für Städtewachstum ist die Landflucht.
Zukunftsorientierte Stadtpolitik beginnt also auf dem Land. Hier bedarf es grundlegender ökonomischer und sozialer Reformen. Pragmatisch gesehen mag die Aufgabe der StadtplanerInnen auf den Umgang mit weiterem Wachstum oder die Steuerung innerstädtischer Prozesse konzentriert bleiben. Hier können sie sich im besten Fall die Frage stellen, wie sie die Stadt wachsen lassen wollen. Aus ökologischer und sozialer Sicht lautet das Lösungswort “Verdichtung”. Gerade Städte in Nord- und Südamerika, die mit ihrer auf den Autoverkehr ausgerichteten Entwicklung nahezu grenzenlos ins Umland gewuchert sind, während sie innerstädtische Bereiche verkommen lassen, bieten hier prinzipiell große Handlungsspielräume. Unzweifelhaft zeigen wiederum Erfahrungen aus Nord- wie Südamerika, daß alles andere als die invisible hand des Freien Marktes diese Probleme lösen wird. Vielmehr bedarf es konkreter Markteingriffs- und Planungsinstrumente, die jedoch von politischer Macht und Durchsetzungskraft abhängen. Wo und wie diese entwickelt werden kann, konnte allerdings nicht auch noch Thema dieser Tagung sein.