Nummer 238 - April 1994 | Stadtentwicklung

WELTstadt – STADTwelt

WELTstadt – STADTwelt

Urbane Zukunft zwischen Wachstum, Ökologie und knapper Kasse lautete der Untertitel einer Tagung, veranstaltet von der Landeszentrale für politische Bil­dung Baden-Württemberg vom 10. – 12. März 1994 in Bad Urach. Der Bogen der Diskussion war über die drei Kongreßtage weit gespannt vom Städtewachs­tum, über die Frage nach ihrer Planbarkeit bis zu aktuellen Zukunftsvisionen. Die Diskussion der Beiträge blieb schließlich weitgehend – dazu bieten die Si­tuation auf dem Wohnungsmarkt, Umweltprobleme und wachsende soziale Konflikte offensichtlich ausreichend Anlaß – auf deutsche Städte konzentriert. Am Beispiel lateinamerikanischer Städte wurden die ökologischen Probleme in Städten der “Dritten Welt” erläutert.

Veit Hannemann

Warum wachsen die Städte? lautete die Leitfrage für die verschiedenen Beiträge, die sich mit Spontansiedlungen in Cara­cas, der Öko-Modell-Stadt Curitiba im Süden Brasiliens, dem Phänomen der Straßenkinder und schließlich der Zukunft von “Dritte-Welt”-Städten befaßten. Wer sich mit der sozialen, ökonomischen oder ökologischen Problematik von Städten in Lateinamerika auseinandersetzt, der muß zunächst den Ursachen für die Landflucht auf den Grund gehen. Am intensivsten gelang dies Uwe Pollmann vom “Dritte-Welt”-Haus in Bielefeld in seinem Beitrag zu Straßenkindern in der “Dritten Welt”. Das traditionelle Problem der ungerechten Landverteilung, neuere Entwicklungen zur modernisierten Plantagen- und extensiven Weidewirtschaft sind Auslöser für die ökologische Zerstörung sowie die soziale Misere der Landbevölkerung und Ursache für Migration. Die überwiegend jungen Leute, die oftmals völlig mittellos in der Stadt ankommen, bauen auf freiem Ge­lände zunächst einfache Wellblech- oder Papphütten . Im Laufe der Zeit, so be­schrieb Prof. Pachner von der Universität Tübingen am Beispiel von sogenannten Spontansiedlungen, deren Entwicklung er seit über 20 Jahren begleitet, werden die einfachen Hütten jedoch ausgebaut. Strom- und Wasserzuleitung werden zunächst illegal beschafft, später offiziell eingerichtet. Am Ende stehen oftmals an­sehnliche, stabile Häuschen, die an die In­frastruktureinrichten angeschlossen sind. Heute leben in den Metropolen La­teinamerikas zwischen 40 und 60% der Bevölkerung in solchen Siedlungen. Ent­scheidende Gründe dafür, daß Pachner die Bezeichnung “Slum” für diese Viertel ab­lehnt, sind die heterogene Bevölke­rungsstruktur und eine sehr unterschiedli­che infrastrukturelle Ausstattung. Hinzu kommt die Tatsache, daß hier neben der Mehrzahl der BewohnerInnen, die im in­formellen Sektor ihr Einkommen sichern, auch Menschen mit teilweise langjähriger Integration in den formalen städtischen Arbeitsmarkt zu finden sind. Interessant wäre es gewesen, zu verfolgen, wie sich die Entwicklung für Neuankömmlinge in den Krisenjahren der vergangenen Dekade vollzog oder wie sich die Lebens- und Wohnverhältnisse der seit längerem in Spontansiedlungen lebenden Menschen durch die De-Industrialisierung verändert haben. Leider gelang es dem Tübinger Geographen jedoch nicht, seine teilweise sehr intensiven empirischen Untersuchun­gen etwa zur Wohnsituation in Spontan­siedlungen zu neueren ökono­mischen und politischen Prozessen in Be­ziehung zu setzen. Die oftmals in diesen Siedlungen verwurzelten barrio-Organi­sationen, über die Sozialwissenschaftle­rInnen unter dem Begriff “neue soziale Bewegungen” dis­kutieren, wären eine ge­sonderte Betrach­tung wert gewesen. Ihre Rolle für die Eta­blierung und Entwicklung der Siedlungen selbst kann gar nicht über­schätzt werden.

Modellstadt Curitiba

Bemerkenswert ist, daß in zahlreichen Ländern Lateinamerikas, dem Teil der “Dritten Welt” mit der intensivsten Ver­städterung, der Wanderungsdruck auf die Metropolen in den letzten 10 Jahren nach­gelassen hat. Es sind heute vor allem mit­telgroße Städte, die ein überproportionales Wachstum aufweisen. Zu diesen mittel­großen Städten zählt das inzwischen etwa 1,3 Millionen EinwohnerInnen beherber­gende Curitiba im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná. Über die Grenzen Brasiliens hinaus hat sie sich inzwischen den Ruf einer Öko-Modell-Stadt erwor­ben. Folgt man den Ausführungen von Gilberto Calcagnotto vom Institut für Ibero­amerikakunde in Hamburg, steht hinter dieser Erfolgsgeschichte vor allem ein Mann: der dreimalige Bürgermeister Jaime Lerner. Lerner, der damals als poli­tisch unerfahrener Technokrat galt, wurde unter der Militärdiktatur vom Provinzgou­verneur Paranás auf den Posten des Bür­germeisters gehievt. Doch der gelernte Architekt entwickelte sich zu einem Er­neuerer mit großer Sensibilität für Um­weltprobleme. Auf seine Initiative geht das moderne Bussystem mit zahlrei­chen Expresslinien und eigenen Spuren, das mit einer Verbundnetzkarte befahren werden kann, zurück. Damit konnte der Treib­stoffverbrauch der Stadt um nahezu 25 Prozent verringert werden. Die zuvor überdurchschnittlich hohe Zahl von Ver­kehrstoten wurde drastisch gesenkt. In den letzten Jahren wurde zudem ein cambio verde genanntes Müllsammelsystem ein­gerichtet, bei dem von der Stadtverwal­tung im Tausch gegen wiederverwertbares Material Gutscheine für Schulbücher, Fahrscheine oder Gemüse ausgegeben werden. Der neue Bürgermeister scheint das Werk Lerners fortsetzen zu wollen. Momentan stehen so ehrgeizige Projekte wie die Erneuerung des Abwassersystems auf der Tagesordnung.
Intention der Kongreßleitung war es, ne­ben Fragen der Stadtentwicklung und -planung auch das Phänomen des wach­senden städtischen Elends anzusprechen. Es war die Aufgabe Uwe Pollmanns vom “Dritte-Welt”-Haus Bielefeld, das sich seit Beginn der 70er Jahre in der Internationa­lismusarbeit engagiert und inzwischen ne­ben dem Schwerpunkt Öffentlichkeits­arbeit mehrere Straßenkinder-Projekte unterstützt, dies am Beispiel einer Stadt der “Dritten Welt” zu tun. “Straßenkinder in Recife” lautete sein Thema, und einmal mehr zeigte sich die Schwierigkeit, Elend oder soziale Mißstände vor einem west­lich-industriellen Wohlstandspubli­kum differenziert und mit einer ausrei­chenden gefühlsmäßigen Distanz zu prä­sentieren. Das Thema legt den Blick auf dunkelhäu­tige, zerlumpte Gestalten, zu früh gealterte Kindergesichter nahe, die bald nur noch Mitleid erregen. Dabei wurde eigentlich sehr kenntnisreich und sensibel über den täglichen Überlebens­kampf auf der Straße informiert. Pollmann gelang es zugleich den Bogen zur bundes­republikanischen Konsumgesellschaft zu schlagen, die von niedrigen Kaffee- und Orangenpreisen profitiert, die auf die Ausbeutung von Kinderarbeit zurückzu­führen sind.
Daran besteht kein Zweifel: Wer sich über Städ­tewachstum Gedanken machen will, der muß zunächst sehen, was auf dem Land passiert. Zentrale Ursache für Städte­wachstum ist die Landflucht.
Zukunftsorientierte Stadtpolitik beginnt also auf dem Land. Hier bedarf es grund­legender ökonomischer und sozialer Re­formen. Pragmatisch gesehen mag die Aufgabe der StadtplanerInnen auf den Umgang mit weiterem Wachstum oder die Steuerung innerstädtischer Prozesse kon­zentriert bleiben. Hier können sie sich im besten Fall die Frage stellen, wie sie die Stadt wachsen lassen wollen. Aus ökolo­gischer und sozialer Sicht lautet das Lö­sungswort “Verdichtung”. Gerade Städte in Nord- und Südamerika, die mit ihrer auf den Autoverkehr ausgerichteten Ent­wicklung nahezu grenzenlos ins Um­land gewuchert sind, während sie inner­städtische Bereiche verkommen lassen, bieten hier prinzipiell große Handlungs­spielräume. Unzweifelhaft zeigen wie­derum Erfahrungen aus Nord- wie Süd­amerika, daß alles andere als die invisible hand des Freien Marktes diese Probleme lösen wird. Vielmehr bedarf es konkreter Markteingriffs- und Planungsinstrumente, die jedoch von politischer Macht und Durchsetzungskraft abhängen. Wo und wie diese entwickelt werden kann, konnte allerdings nicht auch noch Thema dieser Tagung sein.

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