Brasilien | Nummer 430 - April 2010

Wem gehört die Stadt?

Die Debatte um ein Recht auf Stadt sorgt in Brasilien und vor der eigenen Haustür für reichlich Zündstoff

Die Frage nach der Teilhabe am städtischen Raum betrifft BewohnerInnen brasilianischer, wie auch deutscher Großstädte. Mechanismen der Gentrifizierung und Verdrängung einkommensschwacher Bevölkerungsschichten weisen in vielen Metropolen des Nordens und Südens Parallelen auf. Dagegen organisieren sich Gruppen, die sich für einen demokratischen öffentlichen Raum und ein Recht auf Stadt einsetzen. Politische Gruppen in Deutschland können dabei von den Erfahrungen aus Brasilien lernen.

Birgit Hoinle

Für die Olympischen Spiele im Jahr 2016 will sich Rio de Janeiro von seiner schönsten Seite zeigen. Die Metropole der Postkartenmotive wird immense Investitionen in den oft abenteuerlichen Nahverkehr und die öffentliche Sicherheit stecken. Der „Olympische Traum“ könnte für die BewohnerInnen eine Chance auf eine langfristige Verbesserung der Infrastruktur und Lebensqualität in der Stadt sein. Für die Leute, die wegen knapper Kassen am olympischen Fieber nicht teilhaben können, scheint sich die Situation jedoch vielmehr in einen Alptraum zu verwandeln.
Die Olympischen Spiele schlagen in eine Stadt ein, die sich bereits jetzt durch gravierende städtische Probleme und einer gegenüber der armen Bevölkerung ignoranten Stadtpolitik auszeichnet. Es ist eine geteilte Stadt, in der die Gegensätze zwischen Arm und Reich direkt aufeinanderprallen.
Gleich hinter dem touristischen Viertel Copacabana erhebt sich der Hügel der Favela Morro do Cantagalo mit einer völlig anderen Lebensrealität und eigenen Gesetzen. Vor den Nobelhotels schlafen Menschen mit Pappkartons auf der Straße. Das Wohnungsdefizit ist im städtischen Erscheinungsbild erschreckend sichtbar, dem stehen jedoch etwa 5.000 leerstehende Gebäude im Großraum Rio gegenüber. Laut einem Bericht des Onlinemagazins Passa Palavra fehlen in Brasilien insgesamt 7,2 Millionen Wohnungen.
Dieser krasse Gegensatz wird zudem durch Prozesse verschärft, die in den letzten Jahren unter dem Schlagwort „Gentrifizierung“ zusammengefasst werden. Diese findet vor allen in den städtischen Zentren, die saniert und verschönert werden sollen, statt, um BesucherInnen und neue Geschäfte anzulocken. Die eingesessene Bevölkerung sieht sich schleichend mit einer völlig „neuen“ Umgebung konfrontiert – in die Nachbarschaft ziehen nach und nach Angehörige der Mittelschicht, InvestorInnen siedeln sich mit Großprojekten an und plötzlich ist das allgemeine Mietniveau so hoch, dass den bisherigen BewohnerInnen nichts anderes übrig bleibt als auszuziehen und in die Peripherie abzuwandern.
Ob in Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin, wo das Mietniveau im vergangenen Jahr um sieben Prozent anstieg, oder der Hafenzone von Rio de Janeiro – der Mechanismus ist der gleiche, mit dem einkommensschwache Bevölkerungsschichten aus den zentrumsnahen Gebieten verdrängt werden. Angeheizt werden die Gentrifizierungsprozesse in Rio de Janeiro durch eine neoliberale Durchdringung der Stadtpolitik und insbesondere durch Großevents, wie den Olympischen Spielen 2016 oder der Fußballweltmeisterschaft 2014.
Aktuell nimmt die Stadtverwaltung Rio de Janeiros das Projekt der „Revitalisierung der Hafenzone“ in Angriff – allein für eine Etappe davon sollen drei Milliarden Reais (etwa 1,2 Milliarden Euro) eingesetzt werden. Schon der Begriff „Revitalisierung“, also Wiederbelebung, sorgt für Empörung bei den Betroffenen. „War das Viertel denn vorher ohne Leben?“ fragt sich ein Bewohner. Es geht wohl vielmehr um ein „kaufkräftiges Leben“, das dort einziehen soll. Das lebhafte Getümmel der unteren Klassen ist offenbar nicht erwünscht.
Begleitet wird diese ökonomische Vertreibung durch eine gewaltsame. Das Sicherheitskonzept des amtierenden Bürgermeisters Eduardo Paes nennt sich „Ordnungsschlag“ und ist wohl so martialisch gemeint, wie es sich anhört: Die informellen HändlerInnen, camelôs genannt, werden vertrieben, ihre Waren von der Polizei eingezogen und Hausbesetzungen gewaltsam geräumt. Rafael Almeida, Aktivist und Forscher in Rio, kommentiert dies: „Wenn du camelô bist, kannst du von heute auf morgen deine gesamten Waren verlieren und wirst zum Obdachlosen gemacht.“
Den Prozessen der Gentrifizierung setzen die sozialen Bewegungen ihre Forderungen nach einem „Recht auf Stadt“ entgegen. Für Maurício Campus vom Netzwerk gegen Gewalt bedeutet der Begriff zum einen das „vollständige Recht auf den öffentlichen Raum“, also den freien Zugang zu den städtischen Einrichtungen, unter anderem in den Bereichen Wohnen, Bildung, Transport, Kultur. Als zweites bezieht sich dieses Recht auf die aktive Mitbestimmung in der Stadtpolitik von Seiten der BewohnerInnen.
Ein zentraler Ansatz, um das Recht auf Stadt umzusetzen, ist die Wiederaneignung des öffentlichen Raums. Eigentlich bedeutet ja „öffentlich“, dass der städtische Raum für alle zugänglich sei, also ein Ort des sozialen Miteinanders und Mischung. Auf den ersten Blick mögen die geschäftigen Zentren der Metropolen an vielen Orten der Welt danach aussehen, in Wahrheit finden jedoch tiefgreifende Fragmentierungsprozesse statt.
Auf der einen Seite grenzen sich reiche Bevölkerungsgruppen in sogenannten „Gated Communities“, bewachten Wohnvierteln mit exklusivem Zugang, ab. Auch Shopping Malls und etablierte Kulturzentren richten sich nur an eine bestimmte Klientel. Auf der anderen Seite sorgt der schleichende Prozess der Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums für Ausgrenzung derer, die daran durch Konsum nicht teilhaben können. Die „Unerwünschten“ sollen daher aus dem städtischen Erscheinungsbild verschwinden. Ein Student einer privaten Jurafakultät im Zentrum von Rio erzählt, dass nach der Sanierung des öffentlichen Platzes vor der Fakultät dort keine Obdachlosen mehr zu sehen waren. Der Mittel- und Oberschicht sei daran gelegen, öffentliche Plätze „sauber“ zu halten. Als eine „Hygienisierung des öffentlichen Raumes“ bezeichnet der Student das Vorgehen. Dies ist stellenweise im wahrsten Sinne des Wortes der Fall; die Stadtverwaltung lässt in bestimmten Stadtteilen nachts die Bürgersteige mit Chlorwasser reinigen – weniger zum Zweck der Reinigung selbst, sondern vielmehr um Obdachlose zu vertreiben.
Der öffentliche Raum hält somit der Gesellschaft einen Spiegel vor. Bei genauerem Hinsehen werden die Machtverhältnisse hinter der Fassade deutlich. Wer nicht als KonsumentIn im „öffentlichen“ Raum teilnehmen kann, soll gefälligst draußenbleiben.
Was das Recht auf Stadt betrifft, weist Brasilien hinsichtlich seiner verfassungsrechtlichen Norm eigentlich eine durchaus progressive Ausgangslage vor. In der Verfassungsreform 1988 wurde das Recht auf einen angemessenen Wohnraum, sowie weitreichende Partizipationsmechanismen für die Bevölkerung festgeschrieben. So soll der Verfassung nach der Generalplan für die Stadtentwicklung, in einer öffentlichen Anhörung diskutiert und seine Umsetzung von repräsentativen Sektoren der Zivilgesellschaft direkt begleitet werden. Im Munizipalrat (etwa mit einem Gemeinderat vergleichbar) haben zivilgesellschaftliche Gruppen direktes Mitspracherecht. Das Problem liegt jedoch in der breiten Lücke zwischen dem, was die Verfassung vorsieht, und der Praxis; zu oft sind es eher die nicht öffentlichen Kanäle zwischen PolitikerInnen und Lobbygruppen, die die entscheidenden Schrauben in der Stadtplanung drehen. Nelson Saule Júnior, arbeitet beim POLIS Institut in São Paulo, einer Nichtregierungsorganisation, die sich mit dem Recht auf Stadt auseinandersetzt. Er fasst den Gegensatz zwischen Verfassung und Praxis so zusammen: „Die Politiker haben überhaupt kein Interesse daran, dass die Munizipalräte funktionieren.“ Die Beteiligung der Bevölkerung reduziere sich auf einen rein protokollarischen Akt, auf eine „Pseudo-Partizipation“, kritisiert Rafael Almeida aus Rio de Janeiro: „Das Volk äußert seine Meinung und der Staat macht, was er will.“
Anstelle einer institutionell verankerten Bevölkerungsbeteiligung wie in Brasilien, beschränkt sich in Deutschland dagegen die Mitbestimmung lediglich auf punktuelle Einflussmöglichkeiten, wie bei einem Volksentscheid oder Runde Tische. Dass diese auch schlichtweg ignoriert werden können, zeigt der Fall des Mediaspree-Projekts in Berlin, wo trotz eines ablehnenden Bürgerentscheids das Investorenprojekt am Spreeufer fortgeführt wurde. Das Großprojekt „Stuttgart 21“, zur Tieferlegung des Hauptbahnhofs, veranschaulicht auf eindrückliche Weise, dass hierzulande Stadtpolitik in der Regel nach dem Motto „Decide and Defend“ gemacht wird: Entscheidungen werden im kleinen Kreis gefällt, danach erst wird die öffentliche Legitimation gesucht.
In Brasilien zeigt sich der Konflikt zwischen dem Recht auf Privateigentum und dem Recht auf Wohnen in besonderer Schärfe. Bei dem Widerspruch zwischen den beiden Verfassungsrechten werden fast immer die Interessen der privaten InvestorInnen bevorzugt. Oft sind es jedoch auch öffentliche Gebäude, die jahrzehntelang leer stehen, ohne sie dem sozialen Wohnungsbau zu überlassen. Mit vereinzelten Initiativen, wie dem nationalem Programm „Mein Haus, mein Leben“ oder der kommunalen „sozialen Miete“ versuchen die Regierungen Abhilfe zu schaffen. Jedoch kritisieren AktivistInnen, dass diese Programme spät, unzureichend und nur begrenzten Personenkreisen zukommen. Anstatt daher auf wohltätige Einzelaktionen der Stadtverwaltung zu warten, setzen die sozialen Bewegungen ihre Rechte selbst in die Tat um. In Rio de Janeiro gibt es unzählige Besetzungen: Dabei kann es sich um brachliegende Flächen in der Peripherie oder um leerstehende Häuser im Zentrum handeln. Viele werden relativ spontan durchgeführt, einige sind von der Obdachlosenbewegung Movimento Sem Teto organisiert. Mitglieder und Besetzungen sind allerdings einer steten Repression ausgesetzt, insbesondere seit der Amtseinführung von Bürgermeister Eduardo Paes. Besonders eindrücklich wurde dies am Beispiel der Räumung des besetzten Hauses Guerreiros 234 im Szeneviertel Lapa deutlich, als die Polizei mit Tränengas und Schlagstöcken gegen die BesetzerInnen vordrang, unter ihnen ein Säugling, eine schwangere Frau und mehrere ältere Menschen.
Abgesehen von den direkten Aktionen zur Umsetzung des „Rechts auf Stadt“, versuchen Organisationen, wie zum Beispiel die „Nationale Vereinigung für einen sozialen Wohnbau“, sich zu formieren, um in den Institutionen an Einfluss zu gewinnen. Evaniza Rodrigues, eine Vertreterin dieser Gruppe in São Paulo, erläutert, dass es ihr Anliegen sei, im Munizipalrat den Einfluss zivilgesellschaftlicher Gruppen zu sichern, um bei der Ausarbeitung des Generalplans direkt mitwirken zu können.
Im Gegensatz dazu bestehe in Deutschland „mehr Skepsis an partizipativen Instrumenten seitens der sozialen Bewegungen“, so Britta Grell vom Berliner Verein metroZones. Anstelle einer stadtübergreifenden sozialen Bewegung, die sich vor allem aus den direkt Betroffenen der unteren Schichten zusammensetzt, sind es hierzulande eher einzelne Initiativen, die sich in einem Haus oder in einem Stadtviertel formieren. Angetrieben werden diese im Gegensatz zu Brasilien vor allem von KünstlerInnen, Studierenden oder politisch Autonomen. Ein Beispiel für eine erfolgreiche Wiederaneignung des öffentlichen Raumes ist der Fall des Hamburger Gänge-Viertels, welches an InvestorInnen verkauft werden sollte und stattdessen von KünstlerInnen besetzt wurde. Dabei konnten die AktivistInnen mit dem Rückhalt der AnwohnerInnen rechnen, denen die Nutzung des Gebiets als öffentlicher Raum ebenfalls lieber war als ein durch Investitionsprojekte privatisierter Raum. Für Britta Gritt zeigt dies, dass „soziale Bewegungen, getragen von jungen Kunstschaffenden, zu Motoren des Widerstandes werden.“

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