Argentinien | Nummer 335 - Mai 2002

Wenn Arbeitslose mobil machen, fährt gar nichts mehr

Straßenblockaden, Märsche und Nachbarschaftshilfe

Weil Streiks in Argentinien durch die Massenentlassungen der 90er Jahre ihre Schlagkraft verloren haben, ist die neue Protestform des Piquete, der Straßenblockade, entstanden. Die Arbeitslosen, von Staat und traditioneller Gewerkschaftsbürokratie weitgehend ignoriert, haben eigene Organisationen gegründet. Mittlerweile stehen Verhandlungen mit der Regierung Duhalde über die Einführung einer Art Sozialhilfe kurz vor dem Abschluss. Doch nicht alle Piqueteros sind mit dem Erreichten zufrieden. Sie fordern eine Änderung des Systems, das ihre Not erst hervorgebracht hat.

Timo Berger

Schwarzer, stechender Rauch qualmt aus brennenden Reifenstapeln. Die jungen Piqueteros haben sich Tücher vors Gesicht gebunden. Auf der Nationalstraße 3 in Höhe von San Justo im Distrikt La Matanza, Provinz Buenos Aires, haben Piqueteros ihre Barrikaden und Zelte errichtet. Seit dem Morgen sind sie live im Internet zu sehen, gefilmt von einer Webcam, die alle halbe Minute neue Bilder von der Sperrung der Hauptverkehrsader ins Netz stellt.
Seit kurzem finden die Piquetes auch Widerhall und solidarische Unterstützung bei der übrigen Bevölkerung. Das war nicht immer so: Beim Marsch von La Matanza, wo die Piqueteros ihre größte Basis haben, zur Plaza de Mayo Ende Oktober des vergangenen Jahres, haben die Geschäfte aus Angst vor Plünderungen noch die Rollläden heruntergelassen. Dagegen wurde der sechzehnstündige Marsch am 28. Januar auf der 40 Kilometer langen Strecke zum Triumphzug: Abgesandte der asambleas (Volksversammlungen) begrüßten die DemonstrantInnen an wichtigen Verkehrsknotenpunkten, HändlerInnen und GastronomInnen versorgten sie mit Milchkaffee, Matetee und Brot. Weitere Märsche folgten, der bislang beeindruckendste vom 11. bis 16. März. Von drei Orten, Rosario, Mercedes und Mar del Plata, brachen Gruppen von Piqueteros auf, um schließlich auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires zu einer gemeinsamen Kundgebung zusammenzukommen.

Aufstieg einer neuen Bewegung

Der Piquete ist heute zur typischen Aktionsform argentinischer Arbeitsloser geworden. Kinder wollen neuerdings Piquetero werden. Der Mythos wird genährt durch Bilder von spektakulären Aktionen, die die Achillesferse der argentinischen Wirtschaft treffen: Die Straßensperren behindern den Transport von Produktionsgütern und verursachen große Produktionseinbrüche. Als Bewegung blicken die Piqueteros schon auf eine mehrjährige Geschichte zurück: 1995 begannen sich Arbeitslose im Süden des Landes, in Neuquén, zu organisieren. Auf kommunaler und Stadtteilebene bildeten sie Komitees und entwickelten als neue Aktionsform Piquete genannte Straßensperrungen. Wegen der Massenarbeitslosigkeit hatten Streiks ihre Schlagkraft verloren.
Der Aufstieg der Piquetero-Bewegung ist untrennbar mit dem Niedergang des Peronismus verbunden. 1995 noch stimmten viele spätere TeilnehmerInnen der Piquetes für die Wiederwahl Carlos Menems, in der Überzeugung, der Peronismus könne sie aus ihrer Notlage retten. Nachdem aber ihre Hoffnung radikal enttäuscht wurde, schritten sie zu neuen Aktionen, von mal zu mal mit mehr Gewalt, dem wachsenden Ausmaß ihrer Enttäuschung entsprechend.
Von beiden Seiten des politischen Spektrums her gab es Bestrebungen, die Bewegung der Piqueteros zu vereinnahmen, und so ihre unabhängige Entwicklung zu verhindern. Zum Beispiel versuchte das damalige Regierungsbündnis, die Allianz aus Radikaler Bürgerunion und Frepaso, durch den ihr nahe stehenden Gewerkschaftsdachverband CTA die Proteste zu kanalisieren. Doch während Argentinien unter eben dieser Regierung immer tiefer in die Krise geriet, wurde die Bewegung der Piqueteros stärker und konnte sich national vernetzen. Von ihren ursprünglichen Forderungen nach mehr Rechten und Wohlfahrtsprogrammen gingen sie dazu über, die herrschende Wirtschaftsordnung insgesamt zu kritisieren und das damit verbundene politische Modell in Frage zu stellen. Von isolierten Straßensperren kamen sie zum Generalstreik und zu nationalen Kampfplänen.

Die kurze Einheit der Bewegung

Dennoch blieb bei all den Erfolgen die interne Heterogenität der Bewegung bestehen. Zwar hatte sich auf dem zweiten nationalen Kongress im September 2001 eine landesweite Vereinigung mit einem Präsidium gebildet, doch diese Einheit hielt nicht lange. Die Mitglieder des Präsidium überwarfen sich schließlich an der Frage, inwiefern ein Dialog mit der Regierung eingegangen werden sollte. Ein Teil der Organisationen hat den Dialog mit der Regierung Duhalde über einen Sozialplan aufgenommen, ein anderer fordert dagegen dessen Rücktritt mit dem Hinweis darauf, dass das Mandat des Peronisten nicht verfassungsgemäß sei.
Im Präsidium der landesweiten Bewegung hatten sich vor allem die beiden größten Organisationen hervorgetan, die „Klassenkämpferische Strömung” (CCC – Corriente Clasista y Combativa) unter der Leitung von Juan Carlos Alderete, und die „Vereinigung Land und Wohnraum” (FTV – Federación Tierra y Vivienda) unter der Leitung von Luis D’Elía. Letztere ist innerhalb des Gewerkschaftsdachverbands CTA organisiert, der dem vorherigen Regierungsbündnis Allianza nahe steht. Die dissidenten Piqueteros formieren sich im Bloque Piquetero Nacional. Zusammen kommen sie auf ungefähr dieselbe AnhängerInnenzahl wie CCC und FTV, sie sind aber in mehrere kleine Organisationen aufgeteilt.
Ein klarer Ausdruck für die Spaltung der Bewegung war, dass CCC und FTA dem 3. landesweiten Treffen der Piqueteros in Avellaneda am 16./17. Februar fernblieben. Vorher hatte sich das Präsidium unter der Leitung von D’Elia und Alderete zwei Monate lang geweigert, einen nationalen Kongress von ArbeiterInnen und Arbeitslosen einzuberufen. Das kam einem Waffenstillstand mit der peronistischen Regierung gleich, denn ohne ein Treffen konnten keine gemeinsamen Aktionen beschlossen werden.
VertreterInnen der Dissidenten warfen also CCC und FTV vor, ohne Mandat mit den peronistischen Präsidenten Sáa und später Duhalde paktiert und so ein Bündnis zwischen den Volksversammlungen und den Piqueteros verhindert zu haben. In der Tat hatten die beiden Organisationen in den Tagen vor Weihnachten ihre Mitglieder aufgerufen zu Hause zu bleiben, anstatt wie geplant am 20. Dezember auf die Plaza de Mayo zu ziehen. In dem Moment, in dem der so genannte Volksaufstand dringend einer Führung bedurft hätte, haben sich die Piqueteros zurückgezogen. Nur kleine versprengte Piquetero-Gruppen aus den Reihen der Dissidenten waren daher bei den Unruhen des 20. Dezembers aktiv dabei.
Die Abtrünnigen Piqueteros fordern eine Transformation des Systems, nicht nur die Befriedigung der dringenden Bedürfnisse. Im auf dem dritten nationalen Piquetero-Treffen beschlossenen Programm werden deshalb die Streichung der Auslandsschuld, die Festsetzung eines Mindestlohns von 600 Peso, eine Arbeitslosenunterstützung in Höhe von 500 Peso, sowie die Verstaatlichung des Bankenwesens, die Rückübertragung privatisierter Staatsbetriebe und eine Korrektur des politischen Modells durch direkte Demokratie gefordert.

Kontrolle über Hilfsgelder

Trotz aller utopischer Projektion bleibt aber die ganz alltägliche Not der Ausgangspunkt für das Handeln der Piqueteros: Da es immer noch keine individuelle Arbeitslosenhilfe gibt, wurden im Land jahrelang Hilfsgelder an Bedürftige verteilt. Wer als bedürftig galt, bestimmten keine objektiven Kriterien, sondern Leute an der Basis der peronistischen Bewegung, denen die Verwaltung der Hilfsfonds anvertraut war. Die so genannten Punteros zweigten dabei zum einen viel Geld in die eigene Tasche ab, zum anderen nutzen sie die Gelder zum Stimmenkauf und um den aufgeblähten Parteiapparat zu finanzieren, der das Recycling abgewählter Abgeordneter und Amtsträger garantierte.
Die Piqueteros haben erreicht, dass ihnen die Kontrolle über die Hilfsgelder der Regierung überlassen wurde. Durch ihre Selbstorganisation in den Ansiedlungen und Elendsvierteln haben sie den Einfluss der peronistischen Basisorganisationen weitestgehend zurückgedrängt. An Stelle eines Vergabesystems, das auf Klientelismus und Stimmenkauf basierte, haben sie nun durch kollektive Strukturen die individuellen monetäre Zuwendungen in solche für die Gemeinschaft umgewandelt. Bei der MTD Solano beispielsweise wurden so Werkstätten aufgebaut, in denen Arbeitslose beschäftigt werden. Die Straßensperrungen hatten als eine ihrer zentrale Forderungen immer die Einführung oder Erneuerung dieser Unterstützungen durch die Provinz- beziehungsweise die Bundesregierung.

Ein nationaler Sozialplan?

Präsident Duhalde verhandelt nun unter Einbindung der beiden großen Organisationen CCC und FTV einen neuen Sozialplan. Er sieht vor dass die bis zu zwei Millionen argentinischen Arbeitslosen ab Mai als Familienoberhäupter Anträge auf 150 Peso Unterstützung stellen können. Werden sie von einer Firma angeworben, zahlt der Staat auch weiterhin, der Arbeitgeber stockt den Betrag bis zum Mindestlohn auf. Finanziert werden soll das Programm mit einer Steuer auf Exporte.
Dieser Plan würde für die Piqueteros einige Änderungen mit sich bringen: Vorher haben sie selbst über die so genannten Planes Trabajar bestimmt, die Fonds aus denen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanziert wurden. Jetzt sollen Vergabe und Ausrichtung eines neuen Sozialplans durch einen nationalen Rat durchgeführt werden. Darin sind zwar die Piquetero-Organisationen, zumindest die von der Regierung einzig als Gesprächspartner anerkannten CCC und FTV, vertreten, aber daneben noch die Kirche, die peronistischen Gewerkschaftsverbände, die Unternehmerverbände und NROs.
KritikerInnen befürchten nun, dass nur ein bestimmter Sektor der Piqueteros über die Gelder mit entscheiden darf, und dass durch die Einbeziehung der Gewerkschaften das alte System der Punteros zurückkehren könnte. D’Elia und Alderete argumentieren dagegen, dass zum ersten Mal ein nationales Programm eingerichtet werden soll, während die Planes Trabajar immer nur eine begrenzte Reichweite hatten.
Ob dieser Sozialplan in der Form allerdings wirklich verabschiedet wird, ist immer noch fraglich. Mehrmals musste Duhalde bereits die angekündigte Einführung verschieben. Bezweifelt wird vor allem, ob eine Exportsteuer ausreichen wird, um dieses umfangreiche Programm zu finanzieren. Zudem sind 150 Peso nach der Abwertung nicht mehr viel Geld. Und bis die Gelder gezahlt werden, werden viele Familien monatelang ohne Unterstützung sein, denn im Dezember letzten Jahres sind die meisten Maßnahmen ausgelaufen.

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