Bolivien | Nummer 369 - März 2005

Wenn das Volk siegt…

Das Problem der Basisdemokratie am Beispiel der Wasserversorgung

Wer bringt in Bolivien die Demokratie voran?

Seit den Revolten im bolivianischen Hochland im Oktober 2003, die den Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada aus dem Amt jagten, erfahren die Sozialen Bewegungen in Bolivien hierzulande eine große Aufmerksamkeit. Teile der globalisierungskritischen Linke sehen darin ein neues widerständiges Subjekt entstehen. Die Bolivien-Experten Simón Ramírez Voltaire und Ulrich Goedeking beantworten die Frage „Wer bringt in Bolivien die Demokratie voran?“ kontrovers.

Ulrich Goedeking

Mit der Privatisierung der Wasserversorgung von El Alto ist es vorbei. Breiter öffentlicher Protest hat die französischen Investoren zum Rückzug gezwungen. Erinnerungen werden wach an den „Krieg um das Wasser“ in Cochabamba im Jahr 2000. Auch dort stand am Ende einer Massenmobilisierung der Abschied ausländischer Investoren aus der Wasserversorgung. Hat „das Volk“ gesiegt? Geht es um einen Vorgang von herausragender demokratischer Qualität? Ja und Nein.
Ja, weil öffentlicher Protest in Cochabamba und El Alto erzwungen hat, wozu die Politik nicht in der Lage war, nämlich eine Privatisierungswelle rückgängig zu machen, die nicht funktionierte. Weltbank und Co. waren überzeugt davon, mit Wasserversorgung aus privaten Händen werde alles effizienter, billiger und besser. Inzwischen verbreitet sich die Einsicht, dass das im Bereich Wasser nicht klappt. Nur fällt es schwer, daraus die politischen Konsequenzen zu ziehen, sind erst einmal Verträge unterschrieben und Konzessionen erteilt.
Nein, denn zum einen diente das Thema Wasser in vieler Hinsicht eher als Vehikel für andere Interessen. Zum anderen kam der Protest in El Alto nicht gar so demokratisch daher, wie es von außen gerne interpretiert wird.
Die Zukunft der Wasserversorgung ist mehr als ungewiss, ein Konzept jedenfalls hat offensichtlich niemand in den Reihen der Protestierenden. Nur eins scheint für sie klar zu sein: Jetzt sollen, ganz basisdemokratisch, die „sozialen Organisationen“ von El Alto beteiligt werden, kontrollieren sollen Kirche und Menschenrechtler. Nur von Fachleuten, ob auf der technischen Seite oder auch im Management, spricht niemand. Eine bizarre Vorstellung: Der Priester und die Menschenrechtsaktivistin sitzen vor Papierbergen und versuchen, die Finanzen der Wasserversorgung von El Alto erstens zu verstehen und zweitens auch noch zu kontrollieren. Ist das ihre Aufgabe? Bestimmt nicht. Dahinter steht der etwas hilflose Versuch, eine Kontrolle durch anerkanntermaßen „gute Menschen“ sicherzustellen. Wenn dabei sofort Kirche und Menschenrechtler im Vordergrund stehen, macht das gleichzeitig das ganze Dilemma der so genannten „sozialen Organisationen“ deutlich.
Es gibt sie, die Nachbarschaftsvereinigungen, die Organisationen von Berufsgruppen, gewerkschaftliche Gruppen, das ganze Spektrum mehr oder weniger organisierter Interessenvertretungen, die mit dem im Spanischen ebenso eindeutigen wie unübersetzbaren Adjektiv „popular“ bezeichnet werden. Lautstarke Forderungen an Staat und Regierung, unterstrichen durch Blockaden und Hungerstreiks, gehören zur Normalität. Untereinander aber herrscht alles andere als Einigkeit. Viele kleine Oppositions-Caudillos kämpfen darum, wer „im Namen des Volkes“ sprechen darf. Tiefe politische Gräben trennen die verschiedenen Fraktionen. Hältst Du es mit den Gewerkschaften oder mit der latent rassistischen Aymara-Ideologie des „Mallku“ Felipe Quispe? Mit dem MAS von Ex-Cocabauer Evo Morales oder vielleicht mit dem populären, gerade wiedergewählten Bürgermeister von El Alto? Einig sind sie alle sich nur in einem: im Misstrauen gegenüber den jeweils anderen. Und so mancher, der hier politisch sein Süppchen kocht, hat gar kein Interesse an einer konstruktiven Lösung für eine bessere Wasserversorgung, sondern setzt politisch auf Unruhe, auf Protest, auf Polarisierung.
Es wäre ja auch allzu mühsam, sich auf eine ernsthafte Debatte um die Zukunft der Wasserversorgung einzulassen. So viele Fragen müssten beantwortet werden: Woher nimmt man die technische und betriebswirtschaftliche Kompetenz für eine wie auch immer strukturierte Wassergesellschaft? Welche Kontrollmechanismen sind sinnvoll – denn auch die Kontrolleure müssen kompetent sein? Woher kommt das Geld für die nötigen Investitionen, um in einer rapide wachsenden Stadt immer neue Stadtviertel mit Wasserleitungen auszustatten? Und wenn der Protest gegen zu hohe Wasserpreise laut ist, mit welchem Geld sollen die Wasserpreise subventioniert werden?
Schnell ertönt der Ruf nach dem Staat. Aber haben die demokratisch legitimierten staatlichen Instanzen überhaupt eine Chance, wenn sie immer und sofort mit einem ganzen Korb von Maximalforderungen, von Blockaden und Hungerstreiks konfrontiert sind? Es wäre zu reden über eine mögliche kommunale Wassergesellschaft, darüber, ob eine Art Aufsichtsrat die schlimmsten Auswüchse von Korruption verhindern könnte, ob Mechanismen für die Besetzung von Spitzenfunktionen etabliert werden könnten, die Vetternwirtschaft unmöglich machen oder zumindest erschweren.
Ein Prozess in diese Richtung könnte große demokratische Qualität haben, setzt aber – ganz altmodisch und leicht pathetisch gesagt – konstruktives Engagement für das Gemeinwohl voraus, eine demokratische Qualität, die insgesamt in Bolivien, ob in den Villen des noblen Vorortes Calacoto oder oben in El Alto, nicht besonders verbreitet ist. Zum Beispiel ließe sich fragen, wer in Bolivien eigentlich bereit ist, Steuern zu zahlen, um dem Staat überhaupt die Möglichkeit zu geben, seinen Aufgaben nachzukommen. Es ist ein Mythos, ganz El Alto sei bitterarm. Längst gibt es eine Aymara-Bourgeoisie, die vor allem im Handel viel Geld umsetzt, aber um deren Steuermoral ist es nicht besonders gut bestellt.
Und die „große Politik“? Dem amtierenden Präsidenten Carlos Mesa darf, bei aller möglichen Kritik an einzelnen Entscheidungen, ein ernsthaftes Interesse an der demokratischen Entwicklung Boliviens unterstellt werden. Chancen sind gegeben, aber mit dröhnendem Protest von Oppositionsseite, mit Maximalforderungen und simplen Etikettierungen nach dem Muster „Agent des internationalen Kapitals“ lassen sich diese kaum konstruktiv nutzen.
Der nächste Kandidat für dieses Dilemma befindet sich schon in der Warteschleife: MAS-Chef Evo Morales. Gut möglich, dass er Präsident wird, gut möglich, dass er mit besten Absichten im Sinne der „Interessen des Volkes“ sein Amt antreten wird. Noch laviert er zwischen Oppositionsrhetorik und dem Gestus des zukünftigen Staatsmannes. Aber sobald ein gewählter Präsident Morales unpopuläre Entscheidungen trifft, sobald klar wird, dass er nicht aus dem Füllhorn finanzielle Wohltaten über das Volk regnen lassen kann, sobald er seine erste Benzinpreiserhöhung verkündet, wird es heißen „Verrat“ – und das Rad aus Protesten und Blockaden beginnt sich erneut zu drehen. Kann diese Dynamik durchbrochen werden? Die Frage richtet sich nicht nur an die politische Mächtigen, sondern auch an diejenigen, die für sich in Anspruch nehmen, „das Volk“ von unten zu vertreten.

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