Migration | Nummer 354 - Dezember 2003

Wenn die Einwanderer wieder gehen

Argentinien erlebt die eigene Migrationsgeschichte mit umgekehrten Vorzeichen

Das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt erlebt seit drei Jahren eine nie zuvor dagewesene Auswanderungswelle. Besonders die Mittelschicht entflieht der plötzlichen Armut und sucht neue Perspektiven im Ausland — vor allem in Europa. Glücklich kann sich schätzen, wer europäische Vorfahren nachweisen kann. Argentinische Akademiker arbeiten in Europa unter ihren Fähigkeiten, verdienen aber dennoch weit mehr als zu Hause möglich gewesen wäre — doch ihre Kenntnisse fehlen beim Wiederaufbau des Landes.

Antje Krüger

Viel mehr als einen Koffer hatte er nicht dabei. Darin ein paar Hemden, eine Hose, den letzten Rest der Ersparnisse. Sein ganzes Leben lang hatte Cayetano De Simone auf dem Land gearbeitet, unter der heißen, unbarmherzigen Sonne. Eine dankbare Arbeit, als er jung war. Doch dann kam die Arbeitslosigkeit, das Land versank in Armut, brach wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich zusammen. Zu Hause die Frau mit den sieben Kindern – sie waren nicht mehr satt zu bekommen.
Cayetano De Simone packte den Koffer und machte sich auf den Weg zu dem Teil der Erde, der Arbeit, ein Dach über dem Kopf, ein würdiges Leben versprach. Er machte sich auf den Weg zu jenem Ort, der das geben konnte, was die Heimat versagte, und über den diejenigen, die schon dort waren, Wunder erzählten. Er ging fort, fort aus Rosano, fort aus Italien.
Es war das Jahr 1936. Der 50-Jährige ließ das dürftige Brot der Olivenhaine hinter sich, um im Land am Silberfluss neu anzufangen.
Das Tagebuch musste noch mit in den Rucksack, das Adressheft-chen mit den Telefonnummern und zwei Fotos von zu Hause. Die Ersparnisse, die 2.000 Dollar, die ihm noch blieben, verwahrte Luis Barone am Körper. Er hatte sein Informatikstudium vor zwei Jahren abgeschlossen. Die Aussichten waren vielversprechend, das Leben leicht und gut – bis der Zusammenbruch kam; bis das Land politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich in den Abgrund sauste.
Ein Jahr lang strampelte sich der 26-Jährige ab, sprach in Firmen vor, schrieb über einhundert Bewerbungen – nichts. Selbst Hand-langertätigkeiten waren kaum noch zu bekommen. Die Straßen füllten sich mit Müllsammlern und Bettlern. Luis Barone packte seinen Rucksack und buchte einen Flug auf den Kontinent, der ihm das Leben versprach, das ihm bis vor kurzem noch das eigene Land gegeben hatte. Er ging fort aus Buenos Aires, fort aus Argentinien. Das war im Jahr 2002. Luis hatte einen Pass, einen italienischen Pass, der ihm ein Leben in Europa ermöglichen würde. So gewappnet machte er sich auf den Weg; den gleichen, über den sein Urgroßvater Cayetano De Simone gekommen war – nur rückwärts.

Die Flucht zurück
Argentinien schreibt heute seine Geschichte mit umgekehrten Vorzeichen. Die Nachkommen ehemaliger Immigranten verlassen das nach den USA zweitgrößten Einwanderungsland der Erde. Sie gehen dorthin zurück, wo ihre Vorfahren herkamen – nach Europa. Die Gründe sind damals wie heute die gleichen: Arbeitslosigkeit, Armut, politische Instabilität, ökonomisches Desaster und keine Zukunftsperspektiven – weder persönliche noch gesellschaftliche. Wer geht, sucht in der Ferne, was die Heimat nicht mehr bieten kann.
Seit 1850 hatte es die Europäer in den südlichsten Zipfel Lateinamerikas gezogen. Es kamen vor allem Italiener und Spanier, aber auch Russen, Deutsche, Ös-terreicher und Schweizer. Sie be-siedelten die fast menschenleeren Weiten der Pampa. Ende des 19. Jahrhunderts waren von den drei Millionen Einwohnern Argentiniens ein Drittel Ausländer. Und da hatte die Einwanderung gerade erst begonnen. Ununterbrochen brachten Überseeschiffe Heerscharen von Auswanderern ins Land.
Insgesamt 6,4 Millionen vor allem europäische Immigranten suchten zwischen 1856 und 1932 in Argentinien ihr Glück. Später kamen die Kriegsflüchtlinge – erst die von den Nazis Verfolgten, dann die Nazis selbst. Europa „schuf sich sein Amerika“, wie es damals hieß.
Nun gehen sie zurück, die ehemaligen Einwanderer. Nie zuvor in der Geschichte hat Argentinien eine derartige Auswanderungswelle erlebt wie in den letzten drei Jahren. Nicht einmal zu Zeiten der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 verließen so viele ArgentinierInnen das Land wie nach dem Kollaps im Dezember 2001.
Ex-Präsident Fernando De la Rúa floh damals vor dem Zorn der Massen auf der Straße. Kurz zuvor hatte sein Wirtschaftsminister Domingo Cavallo sämtliche Guthaben und Ersparnisse auf den Konten einfrieren lassen. Vor allem die breite Mittelschicht des Landes stand plötzlich ohne Geld da. Übergangspräsident Adolfo Rodriguez Saá erklärte das Land für zahlungsunfähig. In nur einem Jahr sackte die Hälfte der Bevölkerung in die Armut ab. Die offizielle Arbeitslosenquote lag bei 23 Prozent, die Dunkelziffer wird noch viel höher gewesen sein.
Inmitten dieser Ungewissheit des Zusammenbruchs besannen sich viele ArgentinierInnen ihrer eigenen Geschichte – oder besser gesagt der Geschichte ihrer Groß- und Urgroßeltern. Was bisher nur eine unbedeutende Anekdote gewesen war, wurde plötzlich zum Hoffnungsschimmer. Glücklich schätzt sich, wer nachweisen kann, dass seine Vorfahren aus Europa nach Argentinien kamen. Deren Flucht vor der Armut wird nun zur Chance für die Enkel, ihrerseits der Misere zu entrinnen. Denn mit europäischen Vorfahren kommt man an europäische Pässe. Und diese wiede-rum öffnen die Tür zum alten Kontinent jenseits des Atlantiks. „Rückauswanderung“ heißt das Phänomen, das trotz einer scheinbaren Besserung der Lage Argentiniens seit der Wahl von Präsident Néstor Kirchner im Mai diesen Jahres fast unvermindert anhält.

Die Illusion
Der große Korb über dem Arm wog schwer. Bis an den Rand war er mit Knoblauch gefüllt. Im Morgengrauen lief Cayetano De Simone los. Bis zum Sonnenuntergang zog er seine Runden durch das Häusermeer von Buenos Aires. „Ajo“, Knoblauch, verkaufte er den Hausfrauen auf der Straße. Abends war er heiser vom Anpreisen seiner Ware. Doch der Knoblauch war es wert – mehr als die Oliven im heimatlichen Rosano. Der Hain dort in Kalabrien hatte nicht einmal seine Familie ernährt. Mit dem hier verdienten Knoblauchgeld konnte De Simone sogar mehrmals zwischen Argentinien und Italien hin und her pendeln. In Italien erzählte er dann von dem Häuschen, das er sich in Buenos Aires mieten konnte und von den Chancen in Argentinien. Er schwärmte so lange, bis ihm 1939 schließlich seine Frau und die sieben Kinder folgten – und jenseits des Ozeans für immer blieben.
Die Kinder heirateten, die Enkel hörten schon nur mehr die Großeltern italienisch sprechen. Geblieben sind Pizza, Gnocchis und ein paar typisch italienische Gesten. In nur zwei Generationen verlor sich das Herkunftsland. Wer jetzt, in der dritten und vierten Generation, nach Europa geht, tut dies als Argentinier.
Luis Barone war zwar einmal in Kalabrien, hat dort sogar den dort noch ansässigen Teil seiner Familie seines Urgroßvater besucht und den Olivenhain gesehen, „aber meine Welt ist Italien nicht“, sagt er. Ihn zog es, wie die meisten aus Argentinien ausgewanderten, eher nach Spanien. Schon alleine der Sprache wegen.
In Madrid stellen Argentinier-Innen mit knapp 10.000 registrierten Einwanderern inzwischen die siebtgrößte Immigrantengruppe dar. „Das argentinische Spanisch ist immer mehr auf der Straße zu hören. Oft tut es gut, auf Landsleute zu treffen. Wir merken erst hier, wie verschieden Spanien doch von Argentinien ist. Die Umstellung fiel mir schwerer, als ich dachte. Aber zurück möchte ich nicht“, sagt Luis.
Dumpf dröhnende Bässe überdecken jedes Gespräch. Bei Dämmerlicht und rauchiger Luft ist kaum etwas zu erkennen. Die Bar ist eng und muffig, die Nacht weit fortgeschritten. Doch in Madrid wird bis zum frühen Morgen gefeiert. Hinter der Theke poliert Luis Gläser. Er hat Augenringe, sieht müde aus. Allerdings nicht vom stundenlangen Programmieren, wie er es sich erhofft hatte, als er in Buenos Aires ins Flugzeug gestiegen war. Und dennoch: „Mit dem, was ich hier als Kellner verdiene, bin ich um vieles besser gestellt, als wenn ich in Argentinien in meinem eigenen Beruf arbeitete. Ich kann sogar reisen. Zweimal habe ich meine Eltern inzwischen schon besucht. Da ist es mir egal, dass ich völlig unter meinen Fähigkeiten arbeite“, sagt er.

Erste Auswanderungswelle startete im Jahr 2000
Diese Geschichten aus der Ferne sind es, die den Ausreisewillen Argentiniens schon lange nähren. Bereits im Jahr 2000 wollte jeder dritte Argentinier gehen, wäre es nur möglich gewesen. Vor allem die Botschaften Spaniens und Italiens kollabierten zeitweise durch den plötzlichen und unerwarteten Andrang von Ausreisewilligen. Tagelang standen die Menschen an, Geburtsurkunden der Großeltern in den Händen. Wer selbst nicht das Glück europäischer Vorfahren hatte, verdiente sich ein paar Pesos, indem er den Platz in den kilometerlangen Schlangen über Nacht freihielt.
Laut Angaben der Migrationsleitung von Buenos Aires verließen mehr als 260.000 ArgentinierInnen in den letzten drei Jahren das Land. „Es ist vor allem die Mittelklasse, die geht – diejenigen, die im Argentinien der 90er Jahre davon überzeugt wurden, in der „Ersten Welt“ zu leben. Doch ihre Erwartungen sind enttäuscht worden: das Land, in dem sie lebten, war nicht real. Jetzt begeben sie sich auf die Suche nach der „wirklichen Ersten Welt““, erklärt Lelio Mármora, Migrationsexperte der Universität von Buenos Aires (UBA).
Eine Hochrechnung der Universität von Morón geht davon aus, dass 40 Prozent der Auswanderer einen Hochschulabschluss besitzen. Die Arbeitslosigkeit hatte vor allem AkademikerInnen getroffen. Damit steht Argentinien vor dem Problem, seine Intelligenz zu verlieren.
Auch jetzt noch, obwohl die vielversprechenden politischen Maßnahmen von Präsident Néstor Kirchner fast euphorisch verfolgt werden, bleibt die Skepsis der Menschen bestehen. Einer Umfrage der Universität Morón zufolge glauben 98 Prozent der Studierenden, keinen Platz in der argentinischen Wissenschaft zu finden. Jeder Achte will nach Abschluss seines Studiums ins Ausland gehen, 23 Prozent von ihnen für immer.
Mehr als 30 Jahre, so schätzt Lelio Mármora von der UBA, wird Argentinien brauchen, um den Verlust wieder aufzuarbeiten, den die Auswanderer ökonomisch wie intellektuell dem Land zufügten.

Die Desillusion
Die Sonne wirft ihre ersten schrägen Strahlen gegen die Häuserwände. Die Straßen sind mit Flaschen und Müll übersät. Luis Barone hat Feierabend. Zusammen mit Fernando verlässt er die Bar. Müde und wortkarg machen sich beide auf den Heimweg. Fernando, ein alter Schulfreund von Luis, hat bei ihm Unterschlupf gefunden. Er lacht ein wenig bitter: „Ich konnte den Stammbaum meiner Familie nicht nachweisen. Aber raus aus Argentinien wollte ich auf jeden Fall. Ich habe versucht, ein Stipendium zu beantragen, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen – alles umsonst. Egal wo in der EU, sie igeln sich ein. Ohne Pass hast du keine Chance hier.“
Fernando kam schließlich, wie schätzungsweise mehr als 100.000 andere ArgentinierInnen, als Tourist nach Europa und ging nicht mehr fort. Sein Visum ist seit einem Jahr abgelaufen. Noch immer hat er es nicht geschafft, seinen Aufenthalt zu legalisieren.
Das Problem der illegalen Immigranten beschäftigt inzwischen auch das Außenministerium Argentiniens. Es hat eine eigene Abteilung für Staatsangehörige im Ausland eingerichtet und bemüht sich um deren Rechtsstatus.
Mit Spanien wurde erst kürzlich ein Abkommen unterzeichnet, demzufolge ab Januar 2004 ArgentinierInnen ein Dreimonatsvisum erhalten sollen, mit dem sie Arbeit suchen können. Haben sie innerhalb dieser Frist nichts gefunden, müssen sie zurück. Viel Hoffnung weckt das Abkommen angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in Spanien allerdings nicht. Viel mehr als eine Geste wird es kaum sein.

Ungewisser Aufenthaltsstatus
Fernando sucht sich in der Zwischenzeit eine Frau. Er wird das tun, was auch der Großvater von Luis tat, als Argentinien seine offenen Arme schloss und die Einwanderung an Bestimmungen knüpfte. Er wird heiraten. „Meine Großmutter, die Tochter von Cayetano De Simone, lebte ja schon in Argentinien. Ihr Verlobter aus Italien aber durfte nur noch ins Land, wenn er eine Unterkunft nachweisen konnte und heiraten würde“, erzählt Luis die Familiengeschichte und schüttelt den Kopf darüber, wie sich alles wiederholt: die Motive des Weggangs, die Hoffnungen, die Schwierigkeiten in der Ferne, das Werben, wenn Arbeitskräfte gebraucht werden und die geschlossenen Tore, wenn das El Dorado „voll“ ist, die gesetzlichen Steine im Weg und die Tricks, diese zu umgehen.
Manchmal jedoch helfen auch keine Tricks mehr. Für einen Bekannten von Luis und Fernando war das Rote Kreuz der letzte Ausweg. „Auch er kam als Tourist mit ein paar Ersparnissen, fand aber keine Arbeit. Dann verfiel sein Rückflug und das Geld reichte nicht mehr für ein neues Ticket. Auf Hilfe von zu Hause konnte er nicht hoffen, die hatten ja selbst nichts“, erzählt Luis. Das Rote Kreuz zahlte schließlich den Rückflug zurück in das Land, das einstmals die Hoffnung derjenigen war, die nun selbst keinen mehr aufnehmen wollen.

Die Namen von Luis Barone und Fernando wurden geändert, um die Identität vor allem Fernandos zu schützen.

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