Nummer 479 - Mai 2014 | Sport

Wenn einer einen Condoro baut

Interview mit Constanza Silva Lira über die Rolle des Fußballs in Chile

Ein Nationalstadion als Folterstätte, ein Spiel ohne Gegner und ein Torwart, der sich selbst verletzt: Chiles Fußball ist reich an Absonderlichkeiten. Ein Gespräch mit der Zeitzeugin Constanza Silva Lira (siehe Kasten) über die Bedeutung des Fußballs in Chile zu Zeiten der Diktatur und generell.

Interview: Claudia Fix

Was spielt Fußball in Chile für eine Rolle?
Fußball ist wahnsinnig wichtig. Dadurch fallen leider alle anderen Sportarten fast komplett unter den Tisch. Fußball ist auch die einzige Sportart, über die im Fernsehen berichtet wird. Höchstens noch ein bisschen Tennis, weil wir einige gute Tennisspieler haben. Wenn Chile an einem internationalen Fußballturnier teilnimmt, dann wird das überall übertragen, alle sprechen darüber. Oder man trifft sich und sieht sich das Spiel zusammen an. Und wenn Chile an der WM teilnimmt, dann ist das eine wirklich große Sache. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als sich Chile für die WM 1982 qualifizierte, mitten in der Diktatur. Als die Mannschaft das Qualifikationsspiel in Santiago de Chile gewonnen hatte, kamen wir gerade vom Land zurück. Auf den Straßen rannten lauter Menschen, die Fahnen schwenkten und ich dachte: „Huch, ist Pinochet jetzt gefallen oder was?“ Aber es war nur die WM-Qualifikation.

Stichwort Fußball in der Diktatur – ist es den Militärs gelungen, den Fußball für sich zu vereinnahmen?
Naja, es war komplizierter. Das Nationalstadion wurde ja nach dem Putsch zu einem Ort, an dem viele tausend politische Gefangene interniert waren. Von September bis November waren die Gefangenen dort, direkt im Stadion wurde auch gefoltert. Aber dann stand das WM-Qualifikationsspiel zwischen Chile und der Sowjetunion an, dafür musste das Stadion geräumt werden. Die Sowjetunion ist aber aus Protest gegen die Diktatur und die Folterungen nicht angetreten. Das heißt, Chile hat alleine gespielt, das Spiel wurde trotzdem angepfiffen. Und Carlos Caszely hat ein Tor geschossen. Er rannte und schoss ein Tor – und dann wurde abgepfiffen. Das war eine ziemlich absurde Geschichte, denn so hat sich Chile für die WM 1974 qualifiziert. Und es war symbolisch für die internationale Isolation Chiles während der Militärdiktatur.

Carlos Caszely war einer der Spieler, die als Gegner Pinochets galten. Welche Erinnerungen an ihn haben Sie?
Ich habe selbst sein Abschiedsspiel 1984 im Nationalstadion miterlebt. Caszely stand politisch links, das wussten alle. Seine Mutter wurde nach dem Putsch verhaftet und er selbst ist von 1973 bis 1978 nach Spanien emigriert und hat dort gespielt. Wir sind alle zu seinem Abschiedsspiel ins Nationalstadion gegangen, aber eigentlich nicht so sehr, weil wir uns für Fußball interessierten, sondern weil die linken Parteien, die Schüler- und Jugendorganisationen dazu aufgerufen hatten. Die ganze Schülerbewegung war dort, und hat mit Fahnen und Sprechchören gegen die Diktatur protestiert. Das Stadion war voll, es war eine super tolle Stimmung: Unten wurde Fußball gespielt und wir haben gegen die Diktatur geschrien! Das Spiel wurde ganz klar ein Protest gegen die Regierung.
Caszely hat bei seinem Abschied ziemlich viele Tore geschossen, aber auch einen Elfmeter versemmelt, worüber wir viele Witze gemacht haben. Als das Spiel zu Ende war, wartete draußen die Polizei auf uns, soweit ich mich erinnern kann, auch mit Tränengas. Wir sind dann ziemlich schnell weggerannt, damit sie uns nicht verhaften, was mir auch geglückt ist. Wir haben solche Momente immer genutzt, damit die Medien auf uns aufmerksam wurden. Natürlich haben sie in dem Sinne berichtet, dass „subversive Elemente“ im Stadion Randale gemacht hätten.

Gab es auch Fußball-Skandale in Chile, so wie in anderen Ländern?
Der größte Skandal betraf den Torwart Roberto Rojas, dessen Spitzname „Cóndor“ war. Er hat beim WM-Qualifikationsspiel 1989 gegen Brasilien im Maracanã einen ziemlich großen Fehler gemacht. Chile musste gewinnen, lag aber gegen Ende des Spiels 0:1 zurück. Da fiel der „Cóndor“ plötzlich zu Boden und blutete. Er behauptete, dass ihn gerade ein Feuerwerkskörper getroffen hätte. Daraufhin hat die chilenische Mannschaft sofort aufgehört zu spielen und sich geweigert weiter zu machen, weil ihre Sicherheit gefährdet sei. Das Spiel wurde dann abgepfiffen. Aber als man später die Videoaufzeichnungen von dem Spiel angesehen hat, konnte man sehen, dass der Feuerwerkskörper den Torwart gar nicht berührt hatte. Irgendwann hat er gebeichtet, dass er selbst eine Rasierklinge dabei hatte und sich selbst eine Wunde zugefügt hat, die stark blutete. Das alles war von der Mannschaft so geplant worden: Wenn sie dabei wären zu verlieren, wollten sie erreichen, dass das Spiel abgebrochen und wiederholt würde. Tatsächlich wurde die chilenische Mannschaft für die WM von 1990 und 1994 gesperrt. Und seitdem, bis heute noch, sagt man: „Te mandaste un Condoro“, wenn Du einen Fehler gemacht hast. Oder „Condorito“, wenn Du Mist gebaut hast. Das ist in die Umgangssprache eingegangen.

Infokasten:

Constanza Silva Lira
ist Lateinamerikanistin und lebt in Berlin. Nach dem Putsch in Chile emigrierte sie 1974 mit ihrer Mutter nach Deutschland. 1980 kehrte sie allein nach Chile zurück, um dort 1989 die Schule zu beenden. Heute arbeitet sie als Referentin des Globalen Lernens vor allem an Schulen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren