Brasilien | Nummer 381 - März 2006

Wer ist hier TerroristIn?

Das brasilianische Parlament kriminalisiert die Landlosenbewegung MST

Im Dezember 2003 hatte der brasilianische Staatspräsident Luís Inácio Lula da Silva eine gemischte parlamentarische Untersuchungskommission eingesetzt, um die Landbesitzstruktur in Brasilien untersuchen zu lassen. Ende letzten Jahres legte sie ihre Ergebnisse endlich vor. Doch das Schriftstück demonstriert, dass die Chancen auf eine Landreform in Zukunft schlechter stehen als bisher.

Kirsten Bredenbeck, Kooperation Brasilien KoBra

Landbesetzungen seien „ekelhafte Verbrechen“ und „terroristische Akte“. Mehr als die Hälfte des Schriftstücks handelt von der Landlosenbewegung MST und versucht, diese zu kriminalisieren. Mit dem Adjektiv „terroristisch“ wird offenkundig versucht, dem MST in der aktuellen weltpolitischen Lage jegliche Legitimation abzusprechen.
Der Abschlussbericht der „gemischten parlamentarischen Untersuchungskommission zur Landfrage“ (CPMI) spricht die Sprache der bancada ruralista, der Lobby der Großgrundbesitzer. Verfasst wurde er von dem Abgeordneten Abelardo Lupion, der die Aktivitäten der bancada koordiniert.
Dabei war dieser Abschlussbericht nur ein Parallelbericht, der nichts mit den Untersuchungen der CPMI zu tun hat. Die Originalanalyse jedoch lehnte die Kommission, die von konservativen Politikern dominiert ist, mit 13 zu 8 Stimmen ab.
Statt dessen zog Lupion den aktuellen Bericht aus der Tasche. Den meisten Untersuchungen der CPMI war er fern geblieben – eine zweifelhafte Grundlage, um einen Abschlussbericht zu verfassen. Nachdem die linken Abgeordneten die Sitzung unter Protest verlassen hatten, verabschiedeten die verbliebenen Parlamentarier am 29. November 2005 mit zwölf zu einer Stimme den Parallelbericht.
Den ersten Bericht hatte der offizielle Berichterstatter der CPMI, der Abgeordnete von der Partei PSOL (eine Linksabspaltung der Regierungspartei PT) João Alfredo, kurz zuvor vorgelegt. Der Bericht nahm im Gegensatz zum nun verabschiedeten eine detaillierte Analyse der Landfrage in sämtlichen Bundesstaaten vor. Er untersuchte die bisherigen Agrarreformbemühungen und wies auf die Gewalt auf dem Lande und ihre Ursachen hin. Er widmete sich sklavereiähnlichen Arbeitsverhältnissen und untersuchte sowohl die politischen Organisationen von LandarbeiterInnen als auch der Land besitzenden Schicht. Am Ende der etwa 750 Seiten lieferte er zudem eine Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung der Agrarreform. Der Bericht spiegelte vor allem die Positionen der sozialen Bewegungen wider, die sich in Brasilien für eine umfassende Agrarreform einsetzen.

Die Ursprünge der Untersuchungskommission

Doch mit dem jetzigen Ergebnis der CPMI entspricht der Bericht tatsächlich den Interessen, die ursprünglich zu dieser Untersuchungskommission geführt hatten. Als Lula bei einem Treffen mit Vertretern der Landlosenbewegung MST im Juli 2003 kurz die MST-Mütze aufgesetzt hatte, kam das der bancada ruralista gerade recht. Lautstark forderte sie nach einer gemischten parlamentarischen Kommission, um die Beziehungen zwischen Lula und der MST zu untersuchen. Im Dezember 2003 hatte Lula diese Kommission schließlich eingesetzt – allerdings erweitert um den Auftrag, die Grundbesitzstruktur in Brasilien zu erheben und zu dokumentieren, die Agrarreformprozesse auf dem Land und in der Stadt zu analysieren und die sozialen Bewegungen wie auch die Landbesitzervereinigungen zu untersuchen.
Doch diesem erweiterten Auftrag kommt der nun verabschiedete Bericht in keiner Weise nach. Die Analyse der Landbesitzstrukturen und des Agrarreformprozesses nehmen nur noch eine Randstellung in dem Bericht ein. Probleme wie die Gewalt auf dem Lande, Privatmilizen von GroßgrundbesitzerInnen, die Fälschung von Landtiteln sowie Sklavenarbeit finden keinerlei Erwähnung.
Ein weiteres Mal zeigt sich, wie unverfroren die Besitzenden in Brasilien die tatsächlichen Verhältnisse auf den Kopf stellen können. Seit Jahren organisieren die GroßgrundbesitzerInnen bewaffnete Milizen, die gegen jeden vorgehen, der auch nur einen Fuß auf ihr Land zu setzen wagt. Morddrohungen und Auftragsmorde an LandrechtsaktivistInnen gehören in etlichen Gegenden zum Tagesgeschehen.
Die im Februar 2005 ermordete Nonne Dorothy Stang ist dabei nur das prominenteste Opfer des Terrors, mit dem GroßgrundbesitzerInnen ihre oft noch aus Kolonialzeiten stammenden Besitztümer verteidigen. Häufig werden die eigentlichen DrahtzieherInnen der Verbrechen von einer korrupten Justiz gedeckt. In den allermeisten Fällen können sie straflos weiter machen.

Ein anderer Bericht

Genau dies aber nahm der ursprüngliche Bericht von João Alfredo unter die Lupe. Etliche Organisationen, beispielsweise der nationale Kirchenrat in Brasilien CONIC, drückten ihr Befremden über die Entscheidung der Kommission aus.
Doch dass das Parlament nicht den von João Alfredo verfassten Bericht, sondern den Parallelbericht verabschiedete, zeigt deutlich, wie stark der Einfluss der bancada ruralista ist, der die allermeisten Vertreter der Kommission angehörten. Nun werden die Organisationen der Landlosen, die tatsächlich unter den ungerechneten Landbesitzverhältnissen zu leiden haben, für die Gewalt verantwortlich gemacht. Bis Ende 2006 wollte Präsident Luís Inácio Lula da Silva gemäß dem II. Nationalen Plan zur Agrarreform 400.000 landlose Familien zu Kleinbauern machen.
In Brasilien sind knapp fünf Millionen Familien landlos, während nur 4.000 Großgrundbesitzern mehr als 85 Millionen Hektar Land gehören. Viel Land liegt seit Jahrzehnten brach. Gleichzeitig sind Millionen Landlose gezwungen sind, gegen einen Hungerlohn auf riesigen Fazendas zu arbeiten.

Reformpläne…

Nach der brasilianischen Verfassung darf Landbesitz, der nicht genutzt wird, gegen Entschädigungszahlungen enteignet werden. Diese Enteignungen sollten kombiniert mit anderen Instrumenten, wie der Vergabe öffentlicher Ländereien, eine gerechtere Landverteilung in Brasilien ermöglichen. Auch qualitative Maßnahmen sah der Agrarreformplan vor: Die Ansiedlungen ehemaliger Landloser sollten Straßen, Stromleitungen und Sanitäreinrichtungen bekommen, ebenso wie landwirtschaftliche Beratung, fachliche Schulungen, Kreditlinien und Vermarktungsförderung.
Doch die Umsetzung dieser Ziele ließ auf sich warten. 2003 bekamen lediglich 36.000 Familien Land, und auch im Jahr 2004 lag die Regierung mit 81.000 angesiedelten Familien weit hinter ihren eigenen Zielen zurück. 2005 wartete sie dann kurz vor Jahreswechsel mit der Zahl von gut 117.000 Neuansiedlungen auf. Das war sogar etwas mehr als vorgesehen. Lula kommt damit auf einen Jahresdurchschnitt von 78.000 angesiedelten Familien – deutlich mehr als sein Vorgänger Cardoso. Auch die Maßnahmen innerhalb der Siedlungen weitete Lula im Vergleich zur Regierung Cardoso stark aus.
Allerdings hat Lula weitgehend auf die verfassungsmäßigen Enteignungen unproduktiver Ländereien verzichtet. Nur die wenigsten Landvergaben gingen auf das Konto der Agrarreform im Sinne einer Strukturreform, die der ungerechten Landverteilung in Brasilien entgegenwirkte. Dies kritisierten auch soziale Bewegungen wie MST, CPT und Terra de Direitos, die sich in Brasilien für die Landfrage engagieren. So sprechen die im Nationalen Forum für eine Agarreform zusammengeschlossenen Organisationen in ihrer Bilanz des Jahres 2005 auch von einem reinen Ansiedlungsprogramm, das hinter den ursprünglichen Vorhaben deutlich zurück bleibe.

…aus denen nichts wird

Diese Kritik bestätigt sich, wenn man einen Blick auf die weiteren Maßnahmen des Agrarreformplanes wirft. Ungesicherte Eigentumsverhältnisse und das skrupellose Vorgehen, beispielsweise von Holzfirmen mit gefälschten Besitzurkunden, sind verantwortlich für viele gewaltsame Landkonflikte in Brasilien. Bis Ende 2006 sollten daher zusätzlich 500.000 Familien Eigentumstitel für ihr Land bekommen, das sie seit Jahrzehnten bewirtschaften. Doch bis Ende 2004 hatten noch nicht einmal ein Prozent dieser Familien Landtitel erhalten. Ebenso traurig sieht es bei den Vorarbeiten zur Klärung der Eigentumsverhältnisse aus: mit knapp 17.000 über Geographische Informationssysteme (GIS) registrierten Anwesen war die Regierung Ende 2005 noch Lichtjahre von den im Plan genannten 2,2 Millionen Höfen entfernt, die sie bis Ende 2006 registriert haben wollte.
Auch einige gesetzliche Normen wollte Lula überarbeiten lassen, wie die Produktivitätskennzahlen, die festlegen, ab wann Ländereien aus sozialen Gründen enteignet werden können. Dies ist bislang nicht geschehen. Die Produktivitätskennzahlen zu aktualisieren, scheitert bislang vor allem am konservativen Agrarminister Roberto Rodrigues.
Das Gesetzesvorhaben, Ländereien zu enteignen, auf denen es de facto Sklavenarbeit gibt, harrt ebenfalls noch seiner Verabschiedung. Im letzteren Fall hat die Regierung Lula die Initiative hierzu durchaus ins Parlament eingebracht, der Nationalkongress muss sie jedoch noch verabschieden.
Immerhin stockte Lula das Personal der hoffnungslos überlasteten Landreformbehörde INCRA auf. Angesichts der Größe des Landes ist das Personal mit zukünftig 6.000 Angestellten jedoch noch immer nicht ausreichend, um tatsächlich eine Agrarreform in Brasilien zu realisieren.
So zeigt sich, dass Lula gerade bei den strukturellen Veränderungen weit hinter seinen selbst gesetzten Zielen zurückgeblieben ist. Die Ansiedlungen erfüllen sicherlich eine Funktion in der Sozialpolitik des Landes. Die bisherigen Maßnahmen zur Agrarreform rühren aber nicht wirklich an den Ursachen von Gewalt und Ungleichheit auf dem Land. Der kürzlich abgelieferte Abschlussbericht der CPMI zeigt, dass die wahren Urheber der Gewalt noch immer großen Einfluss auf den Staat haben. Und so bleibt Brasilien das Land mit der weltweit ungerechtesten Landverteilung – auch unter Lula.

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