Literatur | Nummer 317 - November 2000

Wie die Rache „verloren geht“

Rodrigo Rey Rosa berichtet von guatemaltekischen Abgründen

Hier kommt ein aktueller Roman. Zwar weit entfernt davon, die Kriegs- und Friedensereignisse der vergangenen Jahre ins literarische Gewand zu kleiden, erzählt Rodrigo Rey Rosa (geboren 1958 in Guatemala-Stadt) in Die verlorene Rache doch anhand eines konkreten Konflikts die ständig virulente Geschichte von Schuld und ihrer Bewältigung. Dabei haben einfache Lösungen vor Rey Rosas nüchternem Blick keine Chance.

Valentin Schönherr

Zehn Jahre hat es gedauert, dass von dem guatemaltekischen Erzähler Rodrigo Rey Rosa wieder etwas übersetzt worden ist. Die 1990 unter dem Titel Der Sohn des Hexenmeisters erschienenen kurzen Prosatexte hatten kein weiteres Aufsehen erregt, und so konnte Rey Rosa in den neunziger Jahren in großen spanischen Verlagen fast jährlich Bücher herausbringen, ohne dass er von deutschsprachiger Seite aus mit Übersetzungsplänen behelligt worden wäre.
Nun endlich hat der Züricher Rotpunktverlag das Eis gebrochen und mit Die verlorene Rache (im Original El cojo bueno, Madrid 1996) einen der besten Texte des Autors publiziert. Bleibt zu hoffen, dass die frühen Romane und Erzählungen, etwa Lo que soñó Sebastián (Was Sebastian träumte, 1994) oder das kafkaeske Cárcel de Árboles (Gefängnis aus Bäumen, 1992), bald folgen.
In Die verlorene Rache begibt sich Rey Rosa auf das Terrain des zu Ende gehenden Bürgerkriegs, mitten in den guatemaltekischen Alltag hinein. Es handelt von einem etwas zurückliegenden Entführungsfall und davon, wie das Opfer Juan Luis Luna mit seinen seelischen und körperlichen Verletzungen, seinen Rachegelüsten und seiner Angst weiterlebt. Fünf Männer hatten ihn in dem unterirdischen Tank einer stillgelegten Tankstelle versteckt. Als sich der Vater des Entführten nicht interessiert zeigte, das Lösegeld zu zahlen, greifen sie zu brachialen Mitteln: Sie trennten dem jungen Mann erst einen Zeh, dann einen Fuß ab. Schließlich gelang die Geldübergabe, aber anstatt hübsch durch fünf zu teilen, bringt einer von ihnen zwei seiner Kumpane um und setzt sich ins Ausland ab.
Juan Luis Luna, der die Amputation überlebt hat, verlässt Guatemala gleichfalls und geht mit seiner Frau ins marokkanische Tanger. Aber die Flucht vor seiner erlittenen Geschichte gelingt ihm nicht, er begegnet einem der Entführer wieder und beschließt, sich den Dingen zu stellen und die Rückkehr in die Heimat zu wagen. Hier sucht er – nun Jahre später – einen seiner Peiniger auf und schafft es, aus dem Schatten seiner Angst herauszutreten. Er verlangt nicht nach Rache, sondern will sehen, wie der andere mit seiner Schuld lebt. Als er erkennt, dass da nichts ist als Verschweigen, Verdrängen und Banalisieren, verknüpft mit der Angst, irgendwann zur Rechenschaft gezogen zu werden – da verachtet er ihn nur noch, dreht sich um und geht.

Rey Rosa meidet die einfachen Sicherheiten

Die Entführer standen im Krieg in den Reihen der Armee, vor allem der Chef der Kleingruppe: Er gehörte zu den Kaibiles, der berüchtigten Sondereinheit, die für besonders viele Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht wird. Obwohl Rey Rosa also die konkrete, mittlerweile auch allseits bekannte Frontlage im Bürgerkrieg in den Text integriert, arbeitet er keinen typischen Kriegskonflikt heraus. Das Opfer gehört keiner Guerilla, keiner Menschenrechtsorganisation an, sondern ist üblich-hauptstädtischer Mittelschichtler. Juan Luis Luna wird wegen des Geldes entführt; politische Rechnungen sind keine offen. Aber das macht den Fall nicht banaler, sondern ganz im Gegenteil treffender und allgemeingültiger: Was hier zählt, ist das konkrete menschliche Leiden – damit kann die Entführung aus politischem Kalkül weder von der Täterseite gutgeheißen noch von der Opferseite argumentativ benutzt werden. Es ist offensichtlich, dass Rey Rosa von den Kaibiles und ihresgleichen nichts hält, aber er vermeidet die vereinfachende Sicherheit politischer Parteinahme und legt statt dessen nahe, sich im Geflecht eines konkreten Konflikts zu orientieren. Nicht zufällig beginnt der Roman mit einer Szene, in der sich die Täter vor der Strafverfolgung fürchten, ohne dass man schon genau weiß, was sie verbrochen haben – und ihre Angst fordert zunächst durchaus ein gewisses Mitgefühl heraus.
Dass Juan Luis Luna bei der erwähnten abschließenden Begegnung mit einem der Entführer abgrundtiefe Verachtung empfindet, gibt dem Buch eine überraschende Wendung. Von Konfliktbearbeitung oder gar Versöhnung keine Spur! Dabei hätte alles so gut ausgehen können – klärende Worte, ein Handschlag, ein Lächeln. Aber wir sind Luna auf dem Weg ins Ausland gefolgt, konnten miterleben, wie er darunter litt, in Tanger einen seiner Peiniger wiederzusehen. Er hat seine Heimat aufgeben müssen, und die Liebe zu seiner Frau wird brüchig. Dem seelischen Leiden dieses Mannes steht sinnbildhaft die körperliche Verletzung zur Seite: Er kann nicht mehr ungehindert gehen, er hinkt. Von diesem Schicksal setzt sich der Umgang der Täter mit ihrer Tat umso deutlicher ab. Sie versuchen die Vergangenheit nach Kräften unter der Decke zu halten, und einer behauptet: „Ich bin zum ruhigsten Menschen auf Erden geworden.“ Der mit Feigheit und Angst gepaarte Selbstbetrug macht es allen Beteiligten unmöglich, die Verletzungen wirklich zum Heilen zu bringen.
Rey Rosa warnt damit vor der Illusion, dass es mit der Versöhnung – von der in Guatemala wie in vielen anderen Nachkriegs- und Nachdiktaturländern Lateinamerikas viel die Rede ist – leicht vorangehen könnte. Erklärungen des guten Willens reichen nicht aus, und auch symbolische Gesten verpuffen angesichts des tatsächlich angerichteten Grauens. Der zunächst etwas irritierende Titel der deutschen Ausgabe (der dem spanischen Original nicht entspricht), Die verlorene Rache, gewinnt so seinen Sinn: Mit dem Verzicht auf Rache ist es noch nicht getan, zumal Juan Luis Luna eigentlich auf Rache ja nicht verzichtet, sondern sie als sinnlos erkennt; sie geht tatsächlich irgendwo zwischen seiner Verachtung und der Stumpfheit der Täter „verloren“. Die Abwesenheit von Rache ist nicht etwa die Hauptbedingung für eine Versöhnung, Rache vermag die alten Flüche nicht zu bannen und ist sozusagen nur ein Abfallprodukt.
Ein erstaunliches Buch, das nicht nur intellektuell redlich durchgearbeitet, sondern auch ein vielschichtiges, packendes Stück Literatur ist. Rodrigo Rey Rosa verneigt sich darin vor seinem Freund, Lehrer und Übersetzer Paul Bowles, dem großen, vergangenes Jahr verstorbenen US-amerikanischen Schriftsteller, zu dem er in den Achtzigern nach Tanger gezogen war. Die Reminiszenzen an Bowles sind in Die verlorene Rache nicht mehr nur aus stilistischen Ähnlichkeiten und dem Klappentext zu entnehmen wie in früheren Büchern, sondern hier spielt der hochverehrte Altmeister selbst mit. Rey Rosa schlüpft in die Haut des Juan Luis Luna und lässt ihn sich in Tanger auf die Suche nach Bowles machen. An dessen Cafétisch läuft schließlich die Szene ab, da sich ein anderer Bowles-Bewunderer nähert und Luna in diesem zum ersten Mal einen seiner Entführer wiedererkennt. Die Schlüsselszene des Romans an Bowles zu knüpfen, dürfte Rey Rosas Biographie entsprechen.

Erinnerungen an Paul Bowles

Wie Bowles wählt er eine klare, scheinbar beiläufige, sehr sparsame und vor allem wenig wertende Sprache, die den Leser in eine luftige Beobachterposition versetzt – um ihn mit dem Ungewöhnlichen, dem Kern der Geschichte dann umso einschlagender zu konfrontieren. Nicht zuletzt wird in dem Roman eine anrührende Liebesgeschichte erzählt, es ist der Weg einer Liebe durch die Zumutungen der Biographie des anderen hindurch. So bleibt wenig mehr als festzustellen, dass gute Bücher nicht viele Seiten haben müssen und kurze Bücher einen recht lange beschäftigen können. Dringende Empfehlung.

Rodrigo Rey Rosa: Die verlorene Rache. Aus dem Spanischen von Erich Hackl. Rotpunktverlag, Zürich 2000, 126 S., 29,- DM (Taschenbuch bei
Piper für ca. 8 Euro)

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