Nachruf | Nummer 420 - Juni 2009

Wie die Straße zur Bühne wurde

Der brasilianische Theaterautor und -pädagoge Augusto Boal machte ZuschauerInnen zu ProtagonistInnen

Helena Klassen

Augusto Boal war Begründer verschiedener Theaterformen wie des Theaters der Unterdrückten, des unsichtbaren Theaters und des Forumtheaters. Er ist am 2. Mai im Alter von 78 Jahren an den Folgen einer Leukämieerkrankung gestorben.
„Wir sind alle SchauspielerInnen“, so Augusto Boals Credo. Genau dieser Leitspruch schlug sich in Boals Theatermethoden nieder und wird mitt-lerweile von Theatergruppen auf der ganzen Welt umgesetzt. So werden überfüllte Straßen, vornehme Restaurants, ungemütliche Bahnhöfe oder auch liebliche Parkanlagen in Bühnen verwandelt. Ohne Vorwarnung werden PassantInnen in konstruierte Situationen hineingeworfen, und dann heißt es, diese zu hinterfragen, zu bewerten und zu agieren – wie auch immer, denn Regieanweisungen leisten keine Hilfestellungen. Und ehe man sich versieht, ist man nicht nur unbeteiligteR ZuschauerIn, nein, man besetzt – ohne von seinem Glück zu wissen – plötzlich die Hauptrolle des gespielten Geschehens. „Theater soll nicht die richtigen Antworten geben, sondern die ZuschauerInnen dazu bringen, die richtigen Fragen zu stellen.“ Der „Bertold Brecht Lateinamerikas“ – wie er genannt wird – forderte durch friedliche, künstlerische Provokation Veränderungen. Kunst und die individuellen Erfahrungen gehen nach Boal Hand in Hand mit politischem Handeln. Die im täglichen Leben oft vernachlässigten sozialen und kommunikativen Fähigkeiten sollen in der spielerisch-theatralen Begegnung von unterschiedlichen Menschen aktiviert werden. Augusto Boals Theater der Unterdrückten geht davon aus, dass der/die ZuschauerIn nicht passiv das Geschehen betrachten, sondern vielmehr aktiv daran teilhaben soll. Zudem soll sich das Theater nicht nur mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern auch mit der Zukunft. Immer wieder lud der Theaterpädagoge und Theaterautor die Menschen dazu ein, politische Vorgaben und Gegebenheiten kritisch zu hinterfragen und Alternativen in Erinnerung zu rufen.
Nach dem Studium der Chemie und Theaterwissenschaften in New York entwickelte Augusto Boal in den 1950/60er Jahren sein Konzept des „Theater der Unterdrückten“ am Teatro de Arena in São Paulo. 1971, während der Militärdiktatur (1964-1985), wurde Boal verhaftet, gefoltert und schließlich des Landes verwiesen. Zunächst lebte er einige Jahre im Exil in Buenos Aires, später in Europa, wo er an verschiedenen Hochschulen lehrte. Als Boal 1986 nach Brasilien zurückkehrte, gründete er das Zentrum des Theaters der Unterdrückten. In Zusammenarbeit mit Bürgerinitiativen entstanden unterschiedliche Theaterszenen, die sogar mittels der Publikumsreaktionen Gesetzesvorschläge entwickelten. „Bürger leben nicht nur in einer Gesellschaft, sie verändern diese auch“, war Boals Ansatz.
„Boal hat mehrere Generationen auf der ganzen Welt inspiriert“, sagte Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva anlässlich seines Todes. Seine Methoden werden nicht nur von seinem Sohn Julian, der seit zehn Jahren mit seinem Vater zusammengearbeitet hat, weiter getragen, sondern weltweit in Workshops gelehrt. Sie sind zu elementaren Ansätzen der Theaterpädagogik und sozialen Arbeit geworden. So werden die Ideen Boals auch in Zukunft ZuschauerInnen in ProtagonistInnen verwandeln.

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