Film | Nummer 428 - Februar 2010

Wie ein Krebs auf dem Rücken

El vuelco del cangrejo erzählt von einer afrokolumbianischen Gemeinde, in der das Leben und die Natur aus dem Takt geraten sind

Nana Heidhues, Olga Burkert

Sattgrüner Regenwald unter wolkenverhangenem Himmel. Ein junger Mann läuft zügigen Schrittes den schlammigen Weg entlang, sein Atem geht schwer, der Schweiß perlt auf der Stirn. Daniel ist ein Städter, der Rucksack auf dem Rücken, die eng sitzende Hose, die modischen Turnschuhe verraten es. Er ist auf dem Weg nach La Barra, einem abgelegenen afrokolumbianischen Fischerdorf an der Pazifikküste. Von dort aus hofft er auf eine Bootspassage über das Meer, egal wohin, Hauptsache weit fort. Doch einmal in La Barra angekommen wird Daniels Eile gebremst, hier richtet sich das Leben nicht nach dem, was ein Einzelner will. Alles scheint still zu stehen in diesem Dorf, in dem die schläfrig-dunstige Hitze nur von sintflutartigen Regengüssen unterbrochen wird.
Die Natur ist gewaltig an der kolumbianischen Pazifikküste und Regisseur Oscar Ruíz Navia kostet dies in seinem Film El vuelco del cangrejo („Crab Trap“) in vollen Zügen aus. Grünbraunes Dickicht, mächtige Urwaldriesen, weite Blicke aufs endlose Meer bestimmen die Ästhetik. Doch Crab Trap zeigt kein idyllisches Paradies. Wellenrauschen und Grillenzirpen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass La Barra eine nicht mehr intakte Welt ist, in die der Mensch zu sehr eingegriffen hat, ein Ort, an dem die Natur aus dem Rhythmus geraten ist. Es gibt keinen Fisch mehr in La Barra, das Meer gibt nichts mehr her. Cerebro (Arnobio Salazar Rivas), so etwas wie der Dorfälteste, bei dem Daniel Herberge bekommt, verbringt seine Zeit damit, auf die Rückkehr der Fischer zu warten, in der sorgenvollen Hoffnung, dass sie nach Tagen auf dem Meer doch noch etwas mit nach Hause bringen. Und auch Daniel (Rodrigo Vélez) bleibt nichts anderes übrig, als zu warten. Solange die Fischer nicht zurück sind, gibt es kein Boot.
So reiht er sich ein in die langsame Eintönigkeit des Dorfes. Tagsüber hilft er Cerebro, das Treibgut vom Strand zu sammeln, mittags bekommt er von Cerebros Nichte Jazmín (Karent Hinestroza) einen Teller Reis aufgetischt, abends kämpft er gegen seine Erinnerungen. Er bleibt der verschlossene Außenstehende, auf der Flucht vor seiner Vergangenheit. Nur mit dem kleinen Mädchen Lucía (Yisela Álvarez), die nicht von seiner Seite weicht und ihn Tag für Tag aufs Neue hartnäckig zu überreden versucht, das Mittagessen bei ihrer Mutter zu kaufen, verbindet ihn nach und nach so etwas wie eine zarte Freundschaft. Lucía verrät ihm, wie man Krebse fängt: Einmal auf den Rücken gedreht, sind die kleinen Tiere ausgeliefert und nur eine Welle, die sie ins Meer zurückträgt, kann sie retten. Fast scheinen diese hilflosen Krebse eine Parabel zu sein auf die Lebenssituation der Menschen in Crab Trap: In ihrem Warten bleibt ihnen nichts, als stillzuhalten und auf eine wohlwollende Fügung des Lebens und der Natur zu hoffen.
„Aqui el mar ya no es pacífico“ lautet der Untertitel des Films und darin verbirgt sich ein Wortspiel: pacífico ist nicht nur das spanische Wort für Pazifik, es bedeutet auch „friedlich“: Hier ist das Meer nicht mehr friedlich.
Neben der fehlenden Lebensgrundlage, dem Fisch, gibt es im Dorf ein weiteres Problem: „El Paisa“ (Jaime Andrés Castaño), ein Weißer, hat sich in La Barra niedergelassen und will auf einem Privatgrundstück ein Strandhotel eröffnen. Aus mannshohen Boxen beschallt er das Dorf mit wummernden Reggaeton-Bässen. Er ist der einzige, der an Fisch kommt, mit dem er sich die Gunst und den Körper der schönen Jazmín erkauft. Und er versorgt die Jugendlichen, die sich fortträumen von diesem abgelegenen Ort, mit Arbeit und Alkohol. Unterdessen wächst Cerebros Unmut über den Eindringling, der die Ruhe stört und sich über die Tradition des kollektiven Gemeindebesitzes hinwegsetzt.
Die großen politischen Ereignisse in Kolumbien schwappen nur scheinbar beiläufig in das Leben der Gemeinde hinein: Aus einem Radio plärrt ein Propagandaprogramm der Armee, ein im Hintergrund laufender Fernseher meldet die Nachricht von angeblich im Gefecht getöteten Guerilleros, wackelige Bilder von Protestmärschen indigener Gruppen flimmern über den Bildschirm. Die Menschen in La Barra schenken dem ganzen kaum Beachtung, der Krieg scheint wie eine Telenovela an ihrem Bewusstsein vorbei zu rieseln. Es ist gerade diese Beiläufigkeit, die deutlich macht, wie allgegenwärtig Tod und Gewalt auch im entlegensten Winkel des Landes sind. Sie gehören zum Alltag von La Barra, wie das Warten auf den Fisch.
Die Gegensätze zwischen Land und Stadt, der Konflikt von Tradition und Moderne, zwischen jenen, die schon immer hier waren und den fremden Weißen aus der Stadt, die fortschreitende Zerstörung der Natur, das sind die Themen die Crab Trap bestimmen und hinter denen die persönliche Geschichte Daniels zunehmend in den Hintergrund tritt. Auf sachte und unaufgeregte Weise erzählt dieser Film vom Leben einer Gemeinde im Umbruch, einer Gemeinde die es wirklich gibt. Nur zwei professionelle Schauspieler hat Ruíz Navia für sein Erstlingswerk engagiert: die beiden Fremden im Dorf. Die Menschen aus La Barra spielen sich selbst.
In ästhetischen Bildern und reduzierten Dialogen lässt Ruíz Navia seine Figuren agieren, studiert in langen Einstellungen ihre Gesichter und Regungen oder lässt die Kamera unbeweglich auf einem Ausschnitt des Dorfes verharren, durch den das Leben von La Barra hindurch zieht. So gelingt es ihm, eine Authentizität zu schaffen, bei der die Grenzen zwischen dokumentarischer Beobachtung und Fiktion verschwimmen.
Ein stiller Film aus einem unruhigen Land, ungewöhnlich und sehenswert.

El vuelco del cangrejo („Crab Trap“) // Spielfilm von Oscar Ruíz Navia // 95 min. // Kolumbien/Frankreich 2009 // Spanisch, engl. UT // Berlinale Sektion Forum

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