Literatur | Nummer 270 - Dezember 1996

Wie ein Liberaler zum Rassisten wird

T. C. Boyle’s Roman über die Ängste einer Einwanderungsgesellschaft

“Es sind keine Menschen. Ein Mensch würde nicht so leben wie sie. Ein Mensch könnte es nicht aushalten, so im Dreck und im Elend zu leben.” Dieses Zitat aus John Steinbeck’s “Die Früchte des Zorns” ist nicht umsonst der Geschichte T. C. Boyles vorangestellt. Es gibt viele Parallelen und Anspielungen bei T. C. Boyle auf diesen Migrantenroman aus dem Jahr 1939. Das Buch ist der gelungene Versuch, das Thema auf die USA der 90er Jahre zu übertragen.

Andreas Kühler

Vier Protagonisten beherrschen die Story. Hier Delaney und Kyra Mossbacher, ein Mittelschichtsehepaar, wohnhaft in einer schicken Neubausiedlung in der Nähe von Santa Monica. Dort Cándido Rincon und América, illegale Einwanderer aus Mexiko. Letztere campieren in einer Schlucht in unmittelbarer Nähe der Siedlung. Zwei Welten treffen aufeinander, zunächst in Form eines Unfalls. Delaney, mal wieder auf Recherche für seine monatliche Kolumne in einer Naturfreunde-Zeitschrift, streift Cándido mit dem Auto. Fortan stoßen die beiden Klassen und “Rassen” – zwar in großen Abständen, aber regelmäßig – aufeinander. Boyle schlüpft dazu in schöner Gleichmäßigkeit abwechselnd für ein Kapitel in die Perspektive des einen beziehungsweise des anderen Paars. Da das Buch aus drei Teilen mit jeweils acht Kapiteln besteht, ist das Erzählschema nicht gerade kunstvoll. Auch die Sprache ist teilweise quälend detailgenau. Ob das die Spannung steigert oder zum Weiterblättern anregt, sei dahingestellt.
Die eigentliche Hauptperson ist Delaney, der mit wachsendem Unmut die zunehmende Bedrohung seiner vormals intakten Umwelt wahrnimmt. Zu Beginn denkt er noch fortschrittlich: “Einwanderer sind die Lebenskraft dieses Landes – wir sind eine Nation von Einwanderern, und keiner von uns würde heute hier stehen, wenn’s nicht so wäre!” Später läßt das Ehepaar Mossbacher einen drei Meter hohen Gartenzaun um ihr Grundstück ziehen, natürlich von Einwanderern, unter ihnen Cándido. Die Eigentümergemeinschaft der Siedlung beschließt die Errichtung einer Schutzmauer mit einer bewachten Zufahrt. Delaney – es lebe die Freiheit – besorgt sich eine Waffe.
Seine Frau Kyra, eine Gesundheitsfanatikerin par exellance, als Maklerin tätig, war schon länger den Migranten feindlich gesonnen: “Jemand mußte etwas gegen diese Typen unternehmen – sie waren überall, sie vermehrten sich wie die Karnickel, und für das Geschäft bedeuteten sie den Tod.” Er, ohnehin unter ihrem Pantoffel stehend, formuliert zunächst in einer seiner Kolumnen: “Die Coyoten jedenfalls sind auf dem Vormarsch, sie vermehren sich, um die Nischen zu füllen, siedeln sich dort an, wo das Leben am leichtesten ist. Sie sind gerissen, scharfsinnig, hungrig und nicht aufzuhalten.” Er meint damit hier in der Tat noch die Tiere, die trotz des Zauns inzwischen beide Hunde der Familie gerissen haben. Aber wenig später formt sich sein Weltbild in bezug auf Einwanderer entsprechend dieser Skizze aus dem Tierreich.
Der Autor als Provokateur?
Es ist die Frage, ob das Bild der zweigeteilt strukturierten Welt zur Beschreibung der Situation heute noch taugt. Ein Vorteil dieser einfachen, manchmal stark überzeichneten Darstellung ist ihre Provokation. Das Buch wurde von Konservativen und Liberalen in den USA attackiert. Von links kam die Kritik, Boyle hätte weder das Recht noch die Fähigkeit aus der Perspektive eines Mexikaners zu schreiben. Von rechts kamen Schmähbriefe, er sei zu nachsichtig mit den Einwanderern. Der Autor freut sich über die Kritik von beiden Seiten. In mehreren Interviews gab er zu verstehen, genau das gewollt zu haben, herauszufinden, inwieweit das liberale Ethos aus John Steinbeck’s Tagen heute wirklich noch funktioniert. Er will einen demokratischen und sozialen Grundkonsens in den USA verteidigen, sich aber nicht im Namen der Political Correctness bei der Wahl der Methode dabei einschränken lassen.
Im Rahmen der Globalisierung wird die Migration wohl eher noch zunehmen. Boyle weiß auch keine Patentlösung dazu. Er pocht gleichwohl auf die nationale Souveränität, einschließlich Personalausweis und Meldegesetz. Ob Kontrollen und ein Grenzzaun die Einwanderer von ihrem Marsch nach Norden abhalten, darf allerdings bezweifelt werden. Umfragen zeigen, daß selbst Chicanos, die schon länger in den Staaten leben, dafür sind, niemanden mehr hereinzulassen. Es gibt eine breite Antiimmigrationsstimmung in den USA und die wird eher noch stärker. Die Liberalen, die sich heute noch über prügelnde Grenzpolizisten aufregen, denken ganz anders, wenn sie persönlich mit der Einwanderungsproblematik konfrontiert werden. Wer das nicht glaubt, sollte dieses Buch unbedingt lesen.

T. C. Boyle: “América”. Carl Hanser Verlag 1996, 384 Seiten, 45,-DM
(TB, Dtv 2006, 8,95 Euro).

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