Literatur | Nummer 421/422 - Juli/August 2009

„Wie schön der Tag ohne Nacht…“

… und wie unverbraucht die Gedichte der Alfonsina Storni! Eine Wiederentdeckung

Die schweizerisch-argentinische Lyrikerin Alfonsina Storni (1892-1938) gehört in Argentinien zu den großen Modernen und gilt als selbstbewusste Lyrikerin, die sich für Frauenrechte starkgemacht hat. Ein repräsentativer zweisprachiger Auswahlband, dessen Übertragungen ins Deutsche allerdings weniger überzeugen, rückt ihre Gedichte nun auch bei uns wieder ins Licht.

Valentin Schönherr

Alfonsina Storni hatte ihr Leben lang mit existenziellen Bedrohungen zu kämpfen. Schon vier Jahre nach ihrer Geburt (1892 in Sala Capriasca, Tessin) verlässt ihre Familie das italienischsprachige Umfeld, um in die argentinische Provinz auszuwandern. Der alkoholkranke Vater stirbt 1906. Um diese Zeit, fast noch ein Kind, schließt sie sich einer Wandertheatertruppe an und lernt die große Bühnenliteratur kennen. Sie kehrt zurück, um Lehrerin zu werden, und zieht schließlich 1911 nach Buenos Aires, schwanger, im Koffer ärmliche Kleider, ein paar Bände Rubén Darío und eigene Gedichte. In den folgenden Jahre wird sie zu einer erfolgreichen, berühmten Lyrikerin: Sie kann in wichtigen Zeitschriften publizieren, erhält Preise, findet Kontakt zu namhaften Autoren ihrer Zeit. 1935 wird ein Brustkrebs entdeckt. 1938 nimmt sie sich vor Mar del Plata das Leben.
Ein kurzes, heftiges Leben, dessen Spuren sich in ihren Gedichten auffinden lassen. Dass sie in formaler Hinsicht nicht gerade avantgardistisch schrieb, hat sicherlich zu ihrer Beliebtheit bei einem größeren Publikum beigetragen. Ihr Versmaß ist das der traditionellen spanischen Lyrik seit der Renaissance, die Sonette sind mustergültig. Erst in den letzten beiden Gedichtbänden schreibt sie teilweise in freien Versen.
Umso provozierender muss gewirkt haben, worüber sie schrieb. Dass Männer, wenn sie über Liebe schreiben, die lyrisch Angebetete benutzen, um die eigenen dichterischen Fähigkeiten unter Beweis zustellen – selbstverständlich. Dass hier aber eine Frau den Spieß umdreht und den Mann zum Objekt macht, das ist unerhört. An anderer Stelle verlangt sie von einem Mann, der sie „weiß“ und „keusch“ will, dass er sich erst selbst läutern soll – und was für eine Prozedur schlägt sie da vor!
Keines der Gedichte, die in den neuen Auswahlband aufgenommen wurden, wirkt angestaubt oder banal. Ob bei Liebeserklärung oder Liebesklage, ob im Auflehnen gegen alles Einengende oder in der Vorahnung des Todes, Alfonsina Stornis Metaphorik ist faszinierend klar, ihr thematischer Zugriff direkt; schwierig, von ihr nicht berührt zu sein. Mit Federico García Lorca (als dieser 1933/34 in Buenos Aires lebt, lernen sich beide kennen, und sie widmen sich gegenseitig je ein Gedicht) scheint sie poetisch verwandt zu sein, auch wenn sie von dessen Strahlkraft dann doch noch weit entfernt ist.
In dieser Ausgabe der Storni-Gedichte sind allerdings die Übersetzungen zu kritisieren, die bestenfalls als Lesehilfe für die originalen Verse dienen können. Nur ganz selten versuchte der Übersetzer Reinhard Streit, die sprachlichen Eigenheiten der spanischen Gedichte im Deutschen anklingen zu lassen. Rhythmen, Zeilenlängen und der pure Wortklang ignoriert er meist. Und wie leicht wäre es oft, dem Original näher zu kommen. In „Rebeldía“ heißt es, in wunderbar fließendem Duktus: „¡Qué hermosas las sendas / Que no tienen fin! … / ¡Qué hermosos los días / Que no tienen noche!“ Streit übersetzt: „Wie schön sind Wege / ohne Ende! … / Wie schön Tage / ohne Nacht!“ Warum (wenn er schon die verbfreie erste Zeile mit einem „sind“ ausstattet, was nicht sein müsste) nicht wenigstens: „Wie schön sind Tage“?
Streit macht mehrmals grundlos aus zwei kurzen Zeilen eine, er fügt in die Verse halbe Erklärungen ein oder vergreift sich anderweitig an der lyrischen Substanz. Aus „guirnaldas rojas“ wird doch wirklich „Kettchenkränze aus rotem Amarant“. Und warum kann das geflüsterte „¡Mía! ¡Mía!“ nicht einfach als „Mein! Mein!“ übersetzt werden statt, wie bei Streit, als „Du bist mein! Du gehörst zu mir!“?
Trotzdem ist dieses Buch lesenswert. Der spanische Teil ist phantastisch, und auch wer nur über lückenhafte Spanischkenntnisse verfügt, kann die Schönheit der Gedichte von Alfonsina Storni genießen. Die Reihe mit lateinamerikanischer Lyrik vom Zürcher teamart Verlag wird, so ist angekündigt, im kommenden Jahr mit Stornis uruguayischer Kollegin Delmira Agustini (1886-1914) fortgesetzt. Sicher in derselben schönen Aufmachung wie seit vielen Jahren. Man darf gespannt sein, welche Schätze dann gehoben werden..

Alfonsina Storni // El murciélago azul de la tristeza / Blaue Fledermaus der Trauer // Gedichte spanisch-deutsch // Übersetzung von Reinhard Streit // teamart Verlag // Zürich 2009 // 166 Seiten // 19 Euro

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