Mexiko | Nummer 481/482 - Juli/August 2014

„Wir alle sind autodefensas“

Mexikanische Bürgerwehren schließen sich zusammen

Weil ihnen der Staat keine Sicherheit garantiert, schließen sich immer mehr Menschen in Mexiko Bürgerwehren (autodefensas) an. Bei einem landesweiten Treffen Ende Mai haben sich diese Gruppen nun zusammengeschlossen. Dahinter steht ein neues Konzept von autodefensas, das nicht nur die bewaffneten Bürgerwehren, sondern eine Bandbreite von zivilgesellschaftlichen Initiativen mit einschließt.

Caroline Schroeder, Rabea Weis

Es herrschte eine fast gespenstische Spannung, als das Publikum und die zahlreichen Journalist_innen auf die Teilnehmer_innen des nationalen Forums der zivilen autodefensas (Bürgerwehren) warteten. Bei ihrem ersten landesweiten Treffen am 28. Mai in Mexiko-Stadt waren nicht nur Mitglieder der Bürgerwehren, sondern auch zahlreiche prominente Aktivist_innen aus Politik, Kirche, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien präsent. Sie waren zusammengekommen, um den Anführern der autodefensas-Bewegung José Manuel Mireles und Hipólito Mora ihre Solidarität auszudrücken. Seit über einem Jahr versuchen deren Organisationen in Gemeinden der Region Tierra Caliente im zentralmexikanischen Bundesstaat Michoacán, die lokale Bevölkerung aus dem Griff des Drogenkartells der Tempelritter zu befreien (siehe LN 476).
Die Redner_innen betonten, dass innerhalb Mexikos sehr verschiedene Ausdrucksformen der Gewalt existieren, die ihren Ursprung in Armut, Exklusion sowie dem defizitären Sicherheits- und Rechtssystem haben. Als gemeinsamen Bezugspunkt benannten sie ihren Kampf für die Verteidigung der Menschenrechte. Ihre Redebeiträge illustrierten die Allgegenwärtigkeit der Straflosigkeit und die Ausuferung der Gewalt in Mexiko – nicht nur von Seiten der kriminellen Organisationen, sondern auch von Seiten des Staates, der selbst immer mehr in die kriminellen Geschäfte verwickelt zu sein scheint. Daraus leiten sie ab: Eigeninitiative bleibt die einzige Option, sich zu schützen. Der Tenor des Forums lautet deshalb: „Die Zivilgesellschaft kann, will und hat das Recht sich selbst zu verteidigen.“
Auf Zustimmung und Verständnis aus der Zivilgesellschaft können sie dabei zählen. Laut Raúl Vera, Bischof von Saltillo im nördlichen Bundesstaat Coahuila, sind es gerade die Opfer von Gewalt, die zu Subjekten des Widerstandes werden. Ihre Stimme und ihre Menschenwürde, so Mireles‘ Anwältin Talía Vázquez, seien dabei ihre Waffen. Selbstverteidiger_in zu sein bedeute, seine Freiheit mit Verantwortung zu verteidigen, so Mario Segura, Journalist aus Tamaulipas. Und der Jurist Jaime Cárdenas erklärt:„Da der mexikanische Staat sein Mandat nicht erfüllt, können die Bürger von Widerstandsrecht und Notwehr Gebrauch machen, ohne dabei verfassungswidrig zu handeln.“ Dahinter steht ein neues Konzept von autodefensas, das nicht nur die bewaffneten Bürgerwehren, sondern eine Bandbreite von zivilgesellschaftlichen Initiativen mit einschließt und deren Handeln legitimieren soll.
Dass sich Zivilist_innen bewaffnen, wie derzeit in Michoacán zu beobachten, ist aber keinesfalls neu. Die Existenz solcher Gruppen lässt sich inzwischen laut einer Studie der International Crisis Group (2013) in der Mehrheit der Bundesstaaten Mexikos beobachten, mit einem „Epizentrum“ in den zentralmexikanischen Bundesstaaten Guerrero und Michoacán. Eine allgemeine Aussage über die Gruppen zu treffen, die sich zu ihrem Selbstschutz gegründet haben, ist schwer. Denn sie haben sehr unterschiedliche Hintergründe, Organisationsstrukturen und Interessen, wie allein die Situation in Guerrero und Michoacán verdeutlicht: Die Coordinadora Regional de Autoridades Comunitarias (CRAC) in Guerrero besteht bereits seit 1995. Auch die Vereinigung der Organisierten Gemeinden Guerreros (UPOEG) ist eine Bewegung, unter deren Dach sich zahlreiche Bürgerwehren gebildet haben. Sie gehen inzwischen in großen Teilen Guerreros gegen Kriminelle, aber auch gegen staatliche Sicherheitskräfte und Politiker_innen vor, denen sie eine Verbindung zum Organisierten Verbrechen nachsagen. Ihre Sicherheitssysteme basieren auf indigenen Prinzipien und Traditionen. Ein weiteres Beispiel ist der Consejo de Autodefensa (Rat der Selbstverteidigungsgruppen) der indigenen Gemeinde Cherán in Michoacán. Hier leisten die Bewohner_innen seit Jahren Widerstand gegen die illegale Waldrodung in ihrem Territorium. Sie errichteten Barrikaden und gründeten Gruppen von Wächter_innen, die in den Wäldern patrouillieren. Inzwischen sind ihre verschiedenen Einheiten Teil eines integrierten Sicherheits- und Regierungssystems, das im Jahr 2011 formale Autonomie erlangte und vom mexikanischen Staat weitgehend respektiert wird. Diese Gruppen berufen sich zu ihrer Legitimierung unter anderem auf den Artikel 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), der indigenen Völkern das Recht auf Selbstbestimmung gewährt. Sie bezeichnen sich selbst als Policía Comunitaria (Gemeindepolizei) – ein Name, der die gemeinschaftliche Grundlage des Projekts verdeutlicht. Die „Polizist_innen“ werden stets von den Gemeindemitgliedern im Rahmen kommunaler Versammlungen ausgewählt. Auch das Rechts- und Sanktionssystem funktioniert stets in Rücksprache mit der Gemeinde.
Im Unterschied zu den Gruppen in Guerrero wurzeln die autodefensas um Mireles und Mora nicht in indigenen Traditionen. Dennoch sind auch die Bürgerwehren in Michoacán ein kommunales Projekt. Regelmäßig werden Versammlungen abgehalten, in denen die Gemeindemitglieder über die Tätigkeiten der selbsternannten Ordnungshüter_innen berichten und das weitere Vorgehen beschließen. Dieses Modell der Bürgerwehren in Michoacán scheint bisher besonders erfolgreich zu sein. In weiten Teilen des Bundesstaates ist es ihnen gelungen, ihre Gemeinden aus dem festen Griff der Tempelritter zu befreien.
Das Akteursfeld der Bürgerwehren wird aber zunehmend diffuser. Besonders in Michoacán wird immer mehr der Verdacht gehegt, dass die bewaffneten Gruppen im Interesse der Organisierten Kriminalität agieren. Ihnen wird eine Verbindung zum Drogenkartell Jalisco Nueva Generación nachgesagt, einem der Hauptrivalen des Kartells der Tempelritter. In Guerrero wird der Verdacht geäußert, dass sich die Policías Comunitarias zunehmend zu einer Guerillabewegung mit politischen Interessen wandeln. Eindeutige Belege für diese Gerüchte gibt es jedoch bislang nicht. Zusätzliche Verwirrung stiftet zudem das Agieren paramilitärischer Gruppierungen wie der matazetas, die sich an der Golfküste dem Kampf gegen das Kartell der Zetas verschrieben hat. Sie bezeichnen sich als „anonyme Krieger“ und „stolze Mexikaner“, die die Sicherheitskräfte respektieren. Auftraggeber_innen von Paramilitärs seien, so der bekannte Sicherheitsforscher Edgardo Buscaglia, Unternehmer, die von Schutzgelderpressungen und korrupten Polizist_innen genug haben, aber auch Regierungen von Bundesstaaten und Gemeinden. Teilweise sind es kriminelle Organisationen selbst, die auf sie zurückgreifen. Die Generalstaatsanwaltschaft PGR wiederum führt alle diese Gruppen unter dem Label autodefensas. Militärische Operationen der Regierung können dann mit der Bekämpfung Organisierter Kriminalität begründet werden. Schließlich bedeuten Bürger_innen, die in eigener Initiative zu den Waffen greifen, ein Unterlaufen der staatlichen Souveränität. So entsendete die Regierung von Enrique Peña Nieto im Mai 2013 Militärs nach Michoacán mit der Begründung, die autodefensas gehörten kriminellen Vereinigungen an. Ergebnis der Militärpräsenz ist jedoch letztlich nur die Ankurbelung der Gewaltspirale.
Das Verhältnis zwischen den mittlerweile über tausend Selbstverteidiger_innen um Mireles und Mora und dem Staat schwankt zwischen Kriminalisierung und Kooperation. So wurde Mora im März 2014 bei einer Operation des Militärs, das die autodefensas entwaffnen sollte, zeitweise festgenommen. Während er nach zwei Monaten freikam, befinden sich andere politische Gefangene nach wie vor in Haft. Es fanden jedoch auch Verhandlungen über mögliche Kooperationen statt. Im Januar 2014 wurde in Michoacán ein Abkommen ausgehandelt, das eine Zusammenarbeit der Bürgerwehren aus Tierra Caliente mit den staatlichen Sicherheitskräften vorsah. Sie sollten sich unter die Befehlsgewalt des Verteidigungsministeriums stellen, ihre Waffen registrieren und von der Regierung ausgerüstet als defensas rurales (Landpolizei) agieren. Die Regierung konnte durch diese Eingliederung von über 250 defensas rurales Alliierte finden, wie zum Beispiel Estanislao Beltrán, bekannt als Papá Pitufo (Papa Schlumpf). Dies führte zu Spaltungen innerhalb der Bewegung. Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Anführern der Gruppen und die Bewegung drohte an Einheit und Stärke zu verlieren.
In dem Forum Ende Mai 2014 machten Mora und Mireles jedoch gerade ihren Zusammenhalt deutlich. Während ihrer Redebeiträge bauten sich hinter den Rednern mindestens fünf Mitglieder der Bürgerwehren als Leibwächter auf. Mireles und Mora betonten, dass sie keine Guerillas seien und auch nicht gegen den Staat arbeiteten. Vielmehr sähen sie sich als Teil einer sozialen Bewegung, die für ein Ende von Gewalt, Unsicherheit und Korruption kämpft. Sie forderten deswegen, dass der Staat aufhören solle, sie zu kriminalisieren und repressiv gegen sie vorzugehen. „Unser Anliegen ist es nicht, zu einem nationalen bewaffneten Aufstand aufzurufen, sondern zu einem ‚Aufstand des Bewusstseins‘ aller Bürger_innen in Mexiko“, so Mireles. Obwohl sie und die anderen Teilnehmer_innen des Forums für ein friedliches Vorgehen auf dem Weg hin zu mehr Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit in Mexiko plädierten, hält Mireles an seinem Plan fest: Eine Registrierung und Niederlegung der Waffen erfolge erst, wenn die Regierung ihrer Aufgabe nachkomme und die Kriminellen hinter Gitter bringe. Aufgrund der Unsicherheit in ihren Gemeinden und der nach wie vor instabilen Beziehung zum Staat sähen sie sich gezwungen, bewaffnet zu bleiben.
Diese deutlichen Provokationen gegen den Staat von Seiten Mireles führten am 27. Juni 2014, nachdem er die Gründung weiterer Bürgerwehren und die Befreiung des Hafens Lázaro Cárdenas aus der Kontrolle der Tempelritter verkündete, zu seiner Festnahme und der von fast hundert seiner Anhänger_innen. Mireles befindet sich mittlerweile in einem Hochsicherheitsgefängnis im Bundesstaat Sonora. Man hat ihm den Kopf geschoren und seinen charakteristischen Bart abrasiert – Menschenrechtsverletzungen, die klar darauf abzielen, ihn zu demütigen. Viele der Teilnehmer_innen des Forums reagierten mit öffentlichem Protest, der insbesondere in den sozialen Netzwerken Unterstützung findet. Für den Geistlichen Alejandro Solalinde, der eine Herberge für Migrant_innen in Oaxaca leitet, ist dies ein klares Signal für alle Menschenrechtsverteidiger_innen: „Das ist eine Botschaft, eine Warnung an uns alle. Sie werden versuchen ihn irgendwie zu kriegen, ihm eine Falle zu stellen. Und das ist nicht das erste Mal. Mich haben sie schon auf vielfache Weise versucht zu kriminalisieren – immer von Seiten des Staates.“ Um ihre Solidarität zu zeigen, rasierten sich Anhänger_innen von Mireles, darunter seine Anwältin Talia Vázquez, ebenfalls den Kopf.

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