Guatemala | Mexiko | Nummer 492 - Juni 2015

„Wir arbeiten mit dem Schmerz“

Interview über psychosoziale Arbeit im Kontext von kontinuierlichen Gewalt­situationen in Mexiko und Guatemala

Menschenrechtsverteidiger*innen in Mexiko und Guatemala leben gefährlich. Opfer von systematischer politischer Gewalt erhalten kaum Unterstützung durch die staatlichen Behörden. Die Organisationen ECAP und Aluna leisten in diesem Klima psychologische Unterstützung für Personen, Gemeinden und Organisationen. Die LN sprachen mit den Psychologinnen Laura Espinosa und Paula Martínez über ihre Arbeit.

Interview: Jan-Holger Hennies

Frau Espinosa, Sie betreuen derzeit die Eltern von Julio César Mondragón, der in Iguala gefoltert und ermordet wurde. Was richtet die absolute Straflosigkeit, wie sie in Mexiko immer weiter um sich greift, in einer Gesellschaft an?
Laura Espinosa: Hoffnungslosigkeit. Denn man sieht, dass sich nichts ändert, egal was passiert. Das alles ist nicht neu, aber Ayotzinapa markiert einen wichtigen Moment, weil es die Straflosigkeit und Verbindung von Regierung und Organisierter Kriminalität offenlegt. Was ich bei der Familie von Julio César Mondragón gesehen habe, ist außerdem Furcht und Wut. Aber auch Verwirrung über die Art und Weise, wie sich die staatlichen Autoritäten ihnen gegenüber verhalten haben. Den Leichnam mussten sie fast flüchtend nach Mexiko-Stadt holen. Die Familie ist bisher zusammengeblieben, aber es gibt Konflikte – auch, weil jeder anders darüber denkt, was jetzt zu tun sei. Viele in der Gesellschaft und auch Menschenrechtsorganisationen fühlen sich machtlos. Es gibt Menschen, die ihre Zukunft und politischen Projekte überdenken.

ECAP und Aluna sind beide auf die psychosoziale Begleitung von Menschenrechtsver-teidiger*innen und Opfern in ihren Ländern spezialisiert. Welche Möglichkeiten sehen Sie in einer Zusammenarbeit?
L.E.: Wir kooperieren seit dem letzten Jahr. Da ist zum Beispiel die Migration durch Mexiko und das gewaltvolle Verschwindenlassen von Migranten. Derzeit arbeiten wir bei Aluna nicht auf diesem Gebiet, aber es zeigt den Kontext, in dem beide Organisationen sich befinden.

Paula Martínez: Bei unserer gemeinsamen Reise nach Deutschland zeigen wir die Regionalisierung der Gewaltkontexte auf, in denen wir arbeiten. In Mexiko existiert heute eine Situation – mit all ihren besonderen Charakteristiken – wie in Honduras, El Salvador und Guatemala: die gleichen, nicht offiziell erklärten Kriege mit hohen Zahlen an gewaltvollen Todesfällen. Guatemala wurde extrem durch die Gewalt geprägt und wir leben weiterhin in dieser Atmosphäre. Unsere Zusammenkunft gab die Möglichkeit zur Reflektion über dieses Thema. Die langjährige Erfahrung von ECAP mit Opfern von Gewalt brachte uns auch dazu, mit Migranten zu arbeiten und wir haben eine Studie zu Frauen in Migrationskontexten gemacht. Das erlaubt uns, die Kontinuität der Gewalt aufzuzeigen – vom Genozid zum Feminizid.

Wie genau sieht die Arbeit von ECAP und Aluna in diesen Kontexten der Gewalt aus?
P.M.: ECAP wurde 1995 von Psychologinnen und Psychologen gegründet, um die Auswirkungen der sozio-politischen Gewalt in Guatemala zu behandeln und die Menschen bei ihrer Suche nach Angehörigen zu unterstützen, die während des bewaffneten Konfliktes verschwunden waren. Wir hörten Aussagen von Frauen, die durch das Militär vergewaltigt worden waren. Darunter waren auch Frauen, die angaben, von der Armee versklavt worden zu sein. Wir registrierten die Fälle und unterstützten die Frauen, ihre Geschichten öffentlich zu machen. 2010 entstand so mit verschiedenen Organisationen und den Frauen das Tribunal de la Conciencia (Tribunal des Gewissens), das über sexuelle Gewalt gegen Frauen sprach. So konnten wir die sexualisierte Gewalt als eine im Krieg verwendete Waffe in Guatemala kontextualisieren. Nicht einmal die Wahrheitskommission hatte damals eine Strategie, um die Gewalt gegen Frauen unter der Militärdiktatur aufzuarbeiten. Heute arbeiten wir mit 45 bis 50 Sozialarbeitern und Psychologen. Und da Guatemala ein Land mit 83 Prozent indigener Bevölkerung ist, ist unser Team aus Mayas und Mestizos zusammengesetzt. Denn wir arbeiten immer in der Sprache der Menschen.
L.E.: Bei Aluna arbeiten Spezialisten für mentale Gesundheit und Menschenrechte. Wir versuchen, Menschenrechtsverteidiger, Opfer von Gewalt, aber auch Organisationen zu unterstützen, damit diese ihrer risikoreichen Arbeit nachgehen können. Denn Menschenrechte in Mexiko zu verteidigen ist derzeit sehr kompliziert. In diesem Kontext helfen wir den Menschen, weiter Widerstand zu leisten. Ein Teil davon ist psychologische, ein anderer Teil politische Arbeit. Politisch wollen wir die Suche nach Erinnerung, Gerechtigkeit und Wahrheit unterstützen. Und eine weitere Komponente ist die Unterstützung von Gruppenprozessen – denn die sozio-politische Gewalt in Mexiko zielt darauf ab, uns zu polarisieren.

Frau Martínez, Sie sprachen von dem Fall der vom Militär versklavten Frauen, dem „Caso Sepur Zarco“. Wie weit ist dieser Prozess heute fortgeschritten?
P.M.: 2011 reichten 15 Frauen ihre Anklage ein. Ihre Ehemänner ließ man während des bewaffneten Konfliktes gewaltsam verschwinden. Sie selbst wurden in den Norden des Landes, zwischen Alta Verapaz und Izabal, gebracht. Hier gab es eine Militärkaserne, die als Erholungsstätte für die Soldaten genutzt wurde. Als Teil dieser „Erholung“ wurden die Frauen als Sexsklavinnen gehalten und mussten den Militärs außerdem das Essen machen, ihre Wäsche waschen… 2012 konnten die 15 Anklägerinnen ihre Zeugenaussagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor einem nationalen Gericht machen. Jetzt warten wir auf die öffentliche Debatte. Und es gibt bereits zwei Verhaftete – einen Oberst und einen Militärkommissar – die wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit sowie sexueller und häuslicher Sklaverei angezeigt sind.

Diese Verbrechen fanden zur Zeit des bewaffneten Konfliktes in Guatemala statt. Inwieweit ist systematische sexuelle Gewalt gegen Frauen auch heute noch ein Thema in Guatemala?
P.M.: Wir haben Frauen betreut, die im Zuge der extraktivistischen Staatspolitik Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind. Guatemala verfügt über viele Ressourcen. Um sie zu erschließen, gibt es systematische Landvertreibungen, vor allem im Polochic-Tal, wo die Q‘eqchi‘-Frauen leben, mit denen wir gearbeitet haben. Um den Widerstand der Gemeinden gegen die Vertreibungen zu brechen, wurde hier erneut sexuelle Gewalt gegen Frauen als Strategie angewandt. So können wir die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden und die Kontinuität dieser Gewalt in Konfliktsituationen aufzeigen.

Eines der Ziele von ECAP ist es, den Schmerz der Frauen zu „entprivatisieren“. Wie leisten Sie diese Arbeit?
P.M.: Die Frauen müssen ausdrücken können, was sie erlebt haben. Und das ist eine Arbeit über Jahre hinweg. Es ist für indigene, nicht alphabetisierte, nur Maya sprechende Frauen nicht einfach, ihre Geschichten zu erzählen. Vor allem unter Beachtung dessen, was das gesamte System der patriarchalen Gesellschaft Guatemalas und die bis heute dauernde Kultur des Schweigens mit ihnen gemacht hat. Deswegen fangen wir mit Hilfe- und Selbsthilfegruppen an. So sehen die Frauen, dass sie nicht alleine sind. Zusammen mit weiterer, auch individueller Betreuung stellen wir Kontakte unter den Frauen her und helfen ihnen eine kollektive Erinnerung der Frauen zu schaffen. Auf diese Weise werden sie ermächtigt, selber weitere Netzwerke aufzubauen und weiteren Frauen zu helfen. Wir merken, dass heute mehr Frauen Vergehen gegen sie anzeigen als früher.

Ebenfalls schufen Sie mit den Frauen eine Radionovela. Wie wurde diese in den Gemeinden aufgenommen?
P.M.: Die Radionovela machte es möglich, dass man uns durch das Radio wahrnahm. Am Anfang gab es fünf Kapitel von 15 Minuten Länge, die von der Gewalt gegen die Frauen erzählten. Und mit der Suche der Frauen nach Gerechtigkeit entstanden weitere sechs Kapitel. Das Radio war vor allem eine gute Möglichkeit, auch die Männer anzusprechen, vor allem die jüngeren. Außerdem wurde die Novela in Schulen benutzt und so wurden junge Menschen befähigt, die Geschehnisse in ihren Gemeinden zu artikulieren. Es entstanden Puppentheatergruppen. Zusammen mit den Frauen entwickelten die Jugendlichen Theaterstücke über die erlebte Gewalt und die Situation der Frauen in ihren Gemeinden heute. Außerdem waren wir an die Schulen gegangen, da nach dem Friedensabkommen 1996 zwar Unterricht zur historischen Erinnerung vorgesehen war, aber nie durchgeführt wurde. Die Kinder und Jugendlichen wissen nichts über die Geschichte Guatemalas.
Unsere Arbeit haben wir auch in Büchern systematisiert und die Frauen selbst haben Leitfäden erstellt, damit andere Menschen eine Basis für ihre Arbeit mit Opfern sexueller Gewalt haben. So konnte unsere Arbeit in verschiedenen Kontexten reproduziert werden.

Außerhalb der Gewalt selbst – welches sind die größten Hindernisse, denen Aluna und ECAP bei ihrer Arbeit begegnen?
L.E.: Generell wird unsere Arbeit oft in einem Friedenskontext aufgefasst und nicht innerhalb der systematischen sozio-politischen Gewalt, die wir erleben. Und oft verstehen Geldgeber deshalb nicht, warum Organisationen hier vor Ort plötzlich ihre politischen Projekte neu definieren müssen, weil die Gewalt sie so sehr trifft. Aber wenn Mitstreiter verschwinden oder ermordet werden, muss überlegt werden, inwieweit die Arbeit weitergehen kann. Allerdings sehen wir derzeit auf diesem Gebiet viel Aufgeschlossenheit.

P.M.: In anderen Fällen wurde von ECAP gefordert, sich selbst finanzieren zu können. Aber unsere Arbeit kann nicht selbstfinanzierend sein. Wir können keine Therapien verkaufen, wenn die Menschen mit acht Quetzales am Tag (rund 92 Cent, Anm. d. Red.) leben. Außerdem ist es schwierig, dass unsere Arbeit nur über mehrere Jahre funktioniert und am Ende kein konkretes Projekt steht. Daneben denken wir über unser eigenes Wohlbefinden nach. Bei ECAP haben wir seit mehreren Jahren auch eine Betreuung für das Team selbst. Denn wir arbeiten mit dem Schmerz und bei zu vielen Informationen kann das zu „Ansteckung“ führen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht selbst zu Opfern unserer Arbeit werden.

Paula María Martínez Velásquez
ist auf gendersensible Therapie spezialisierte Psychologin. Sie arbeitet für die guatemaltekische Organisation ECAP (Organisation für Kommunitäres Engagement und Psychosoziale Aktion) in der psychosozialen Begleitung von Opfern sexualisierter Gewalt und Zeuginnen des Völkermordes während der Militärdiktatur unter Ríos Montt. Mit anderen Organisationen formt ECAP in Guatemala die Alianza Rompiendo el Silencio y la Impunidad (Allianz zum Brechen des Schweigens und der Straflosigkeit).

Laura Espinosa Gómez
arbeitet seit anderthalb Jahren als Psychologin für die 2013 gegründete mexikanische Organisation für psychosoziale Begleitung Aluna. Davor war sie Mitarbeiterin der Menschenrechtskommission Mexiko-Stadts. Sie begleitet Menschenrechtsverteidiger*innen und Opfer von Gewalt.

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