Colonia Dignidad | Nummer 319 - Januar 2001 | Sachbuch

“Wir brauchen keinen idealisierten Allende“

Interview mit dem Philosophen Víctor Farías über sein Buch “Los Nazis en Chile”

Anja Witte, Nisha Anders, Olga Burkert

Ihr Buch zeigt, daß Chile eine herausragende Rolle in den Beziehungen Lateinamerikas zum dritten Reich einnimmt. Warum gerade Chile?

Deutschlands Kolonialpolitik fußte auf der Schaffung von reinrassigen Enklaven. In Chile gab es die vielleicht größte deutsche Kolonie der Welt. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung war der Anteil der Deutsch-Chilenen sehr hoch, so dass sie in der Verwaltung und der Armee, also den entscheidenden Institutionen, stark repräsentiert waren.
Außerdem war diese Kolonie schon zu Zeiten der Weimarer Republik sehr militaristisch und stark deutsch-national. Das waren beste Voraussetzungen für die Herausbildung einer militanten Kolonie. Schon Kaiser Wilhelm hatte das Ziel mit dem chilenischen soldatischen Volk ein Bündnis zu schließen. Später mündete diese Absicht in der geopolitischen Auffassung der Nazis, Amerika als letzte Bastion der Menschheit zu versklaven. Das Wort „…und morgen die ganze Welt“ bedeutete eben: Morgen kommt Amerika dran. Süd-, besonders aber Nordamerika, weil dort sozusagen der judaisierte, demokratische Hauptfeind sass. Chile spielte dabei eine wichtige strategische Rolle: Von dort aus sollte der Rest Süd- und Mittelamerikas unterworfen, und dann gegen die eingekreisten Vereinigten Staaten zum letzten Schlag ausgeholt werden.

Auffällig ist ja die große Bereitschaft, mit der Teile der chilenischen Gesellschaft und wichtige chilenische Institutionen, beispielsweise die Kirche, die Nazipropaganda aufgenommen haben.

Chile steht in einer alten katholischen Tradition, deren Wurzeln weit vor dem Nationalsozialismus liegen. Diese Tradition ist stark antisemitisch. Der Erzbischof von Santiago schreibt 1927, dass Freimaurer und Juden vereinigt werden durch den Hass gegen unseren Herrn Jesus Christus und seine heilige Kirche. Auch chilenische Diplomaten schreiben in den 20-er Jahren, dass Juden aus rassischen Gründen nicht nach Chile gebracht werden dürfen. Sie hätten keine Fähigkeiten sich anzusiedeln und sich anzupassen und dazu noch wären sie noch hässlich. Verbunden mit der „Indianerrasse“, so ein Minister wörtlich, würden rassische Monster entstehen. Dieses Gedankengut spiegelte sich auch in anderen Institutionen der Gesellschaft wider. Auch über die Institutionen hinaus waren diese ideologischen Tendenzen überall in der Gesellschaft vorhanden. Im gesamten chilenischen Heer und der Marine ist bis heute kein einziger Jude zu finden.

Sie haben im Epilog ihres Buches den Briefwechsel zwischen Präsident Allende und Simon Wiesenthal veröffentlicht, in dem es um die Auslieferung vom Naziverbrecher Walter Rauff geht.Das hat in Chile zu einer großen öffentlichen Diskussion geführt. Sie waren gerade in Chile, was gab es für Reaktionen?

Diese Diskussion wurde auf sehr lustige Weise weiter geführt, lustig im zynischen Sinne des Wortes. Es geschah nämlich eine Art Wunder. Der erzkonservativste Historiker Chiles, Gonzalo Vial, hat Allende verteidigt, gegen Wiesenthal und gegen meine Publikation. Don Gonzalo sagte, er müsse zum ersten und wahrscheinlich letzten Mal Präsident Allende beglückwünschen, weil er die Gesetze in Chile einhielt. Natürlich ist die Frage noch viel komplexer. Wiesenthal argumentierte für die Auslieferung Rauffs mit den selben Argumenten, mit denen heute der Richter Garzón und der Rechtsanwalt Garcés Pinochet attackieren. Allende stützte sich in seiner Ablehnung auf die gleichen Argumente, wie Pinochets Verteidiger heute, nämlich dass die nationale Rechtssouveränität nicht angegriffen werden kann. Aus dem Grunde hat sich Gonzalo vielleicht entschieden, Allende zu verteidigen, obwohl dieser Marxist war. Das ist immer noch besser als einem Mann Recht zu geben, der 500.000 Juden verteidigt.
Aber in der Diskussion kam es noch zu einem zweiten Akt. Als ich nach Chile kam, hatte sich eine Gruppe von Rechtsanwälten zusammengetan und für mich ein Dossier vorbereitet. Darin haben sie geprüft und festgestellt, dass Allende überhaupt keine Kollision mit dem Obersten Gerichtshof in Chile riskiert hätte, hätte er Rauff ausgewiesen, wie Konservative und auch Linke behaupten. Allende hätte sich auf das Ausländergesetz berufen können, welches dem Präsidenten der Republik die Möglichkeit einräumt, jeden Ausländer innerhalb von 24 Stunden aus Chile auszuweisen, wenn dieser das Prestige oder die Sicherheit des Landes in Frage stellt. Wenn Allende gewollt hätte, hätte er dieses Recht in Anspruch nehmen können. Das Dossier goss natürlich noch mehr Öl ins Feuer, jetzt fragen sich viele Leute: Was steckt eigentlich hinter der ganzen Angelegenheit?
Ich habe bei der jüdischen Gemeinde von Santiago einen Vortrag gehalten, wo sich mehrere junge Leute erhoben und fragten, ob sich die Unidad Popular (UP) überhaupt, ganz unabhängig von Wiesenthal, die Mühe gemacht habe, über diesen Verbrecher nachzudenken. Und ob sich die UP irgendeinen Gedanken über die Colonia Dignidad gemacht habe, bevor bekannt war, dass der Mann von Gladys Marín und andere Leute da auf furchtbare Weise gefoltert und getötet worden waren. Das hat niemanden interessiert. Eine Reihe von Studenten, die von mir infiziert wurden, forschen jetzt weiter.

Was können Sie zur Forschungssituation in Chile in diesem Bereich sagen? Sind die Archive in Chile überhaupt zugänglich? Was ist zum Beispiel mit den Militärarchiven?

Die Archive in Chile sind sehr gut ausgestattet. Per Gesetz und auch in der Tat ist jedes Dokument nach 3-5 Jahren für jedermann zugänglich. Das heißt, sämtliche Dokumente aus der Zeit der Unidad Popular sind einsehbar. Die einzige Ausnahme bilden die Archive der Streitkräfte und der katholischen Universität, an diese Geheimdokumente kommt man wirklich nicht ran. Aber man kann mit archivarischen Tricks sehr viel rekonstruieren. Es gibt eine Art natürlicher Filtrierung, das heißt, dass man aus Dokumenten ziviler Archive oftmals Rückschlüsse auf Geheimdokumente ziehen kann. So kann man eine Statue bilden, die natürlich in der Mitte hohl ist, weil der Kern fehlt. Aber die Form sieht oft ziemlich passabel aus.
Die Leiterin eines Archivs bemerkte einmal:“Die politische Geschichte Chiles wurde in den Zeitungsabteilungen der Bibliotheken geschrieben. Hier in die Archive, wo kilometerweise die Dokumente der Verwaltung, der Ministerien liegen, ist bislang noch kaum einer gekommen, weder von rechts noch von links.“ Hier liegt die gesamte Geschichte.

Um nochmal darauf zurückzukommen, dass von Allende die selbe Argumentation benutzt wurde wie heute im Fall Pinochet. Wieso ist das so bedeutsam?

Also die, die mich kennen, wissen, was ich für ein Verständnis von Forschung habe. Mir geht es darum Erstaunen hervorzurufen, die Sicherungen zum Platzen zu bringen, nur so kommt man zu kritischem Denken. In dem Briefwechsel sieht man das ganze Dilemma der chilenischen Geschichtsaufarbeitung.
Erstens: Sollen die fortschrittlichen Menschen in Chile weiter mit Göttern leben, die unerreichbar sind für jede Kritik? Zweitens: Warum wurden wir, wenn wir doch so gut waren, so leicht von der Macht entfernt? Warum endete das sozialistische Projekt in einer absoluten Katastrophe? Drittens: Wo ist die ganze Dokumentation und das kritische Studium, das uns erklärt, warum Pinochet und die CIA so leichtes Spiel mit uns hatten? Also wenn wir selber nicht in der Lage waren diesen übermächtigen Feind im Vorraus zu erkennen und selbst eine Gegenstrategie zu entwickeln, dann brauchen wir dringend eine vernünftige historische Erklärung. Es ist wichtig zu benennen, dass Allende die gravierende Bedeutung nicht gesehen hat, einen Kriegsverbrecher wie Walter Rauff zu Hause ruhig sitzen zu lassen, während im ganzen Land eine sozialistische, halbproletarische Revolution im Gange war. Wenn er das nicht mal kapiert hat, dann ist es nicht primär ein moralisches Problem, sondern ein politisches. Wie kann ein Mann, der entweder willentlich oder aus lauter Ignoranz so handelte, ein Volk in einer Revolution führen?
Ich habe provokativ meine LeserInnen mit dieser skandalösen Tatsache konfrontiert, so dass endlich weiter in der Richtung geforscht werden kann.
Von Gabriel García Márquez stammt ein goldenes Wort: ein gutes Buch fängt erst mit der letzten Seite an. Man könnte sagen, auch mein Buch fängt mit dem Epilog an.

Es stört sie also nicht, dass gerade der Briefwechsel von der chilenischen Presse als „Aufhänger“ benutzt wurde?

Einerseits ist es schade, weil das Buch noch 99 Prozent mehr Inhalt hat. Andererseits hatte ich befürchtet, dass man das Buch totschweigt. Das Schweigen ist das Schlimmste, was passieren kann. Durch die Diskussion um den Briefwechsel ist das Buch noch bekannter geworden und auf den Schreibtischen gelandet. So werden die restlichen 99 Prozent, die in der Presse jetzt nicht besprochen werden, doch irgendwann gelesen. Es ist doch notwendig, so ein wichtiges Thema wie die Beziehung eines Landes zu einem der verbrecherischsten Regime der Menschheit zu analysieren und damit den Demokratisierungsprozess voranzutreiben.

Also wird Ihr Buch einen Einfluss auf die geschichtliche Aufarbeitung in Chile nehmen?

Ich habe das Buch mit dieser Intention geschrieben. Aber ich kann nichts Konkretes sagen und lasse mich gerne überraschen. Ich sah so viele interessierte Gesichter, so viele Menschen, die fragten und fragten. Ältere Damen und Herren, die kamen und mir Briefe gaben, auch Tips, wo es weitere Materialien, privaten Ursprungs zu finden gibt. Es gibt noch Berge von Papieren aus der deutschen Kolonie, die im Verborgenen liegen.
Und dann habe ich ja auch die berühmte Liste aufgestellt, die hinten im Buch steht. Dazu ist ein großer Aufsatz in der Tageszeitung El Mercurio erschienen: Farías Liste, in Anspielung an den Film Schindlers Liste. Das ganze Land sucht jetzt Leute und das ist natürlich interessant. Übrigens ist eine der Firmen von der Liste, die mit den Nazis zusammenarbeitete, genau die Firma, die Rauff aufgenommen hat.

Wird es weitere Forschungsprojekte geben?

Mit der jüdischen Gemeinde in Santiago werde ich eine systematische Arbeit beginnen, ebenso mit dem von der Simon Wiesenthal Stiftung iniziierten Zentrum für Toleranz, das an den Holocaust erinnern will. Präsident Lagos hat für dieses Projekt schon ein Gelände zur Verfügung gestellt.
Außerdem sind Vorträge und Vorlesungen meinerseits, aber auch Seminare und Dissertationen an den Universitäten geplant.
Was die Leute selber machen werden? Ich weiss es nicht. Als Halb-Historiker und Halb-Philosoph bin ich weder optimistisch noch pessimistisch, sondern liefere die Sache so gut verpackt es geht, ohne Verfallsdatum. Ich werde weiter kämpfen, um die Tatsachen ans Licht zu bringen.

Wann wird voraussichtlich eine deutsche Übersetzung erscheinen?

Keine Ahnung. Es gibt diesen Verlag in Barcelona, der seine Kontakte in alle Richtungen spielen lässt. Ich hoffe sehr, dass es bald eine deutsche Übersetzung geben wird. Wahrscheinlich wird das aber noch eine Weile dauern.
Übrigens, ich habe Material genug für den zweiten Band. Es gibt zwei Aspekte, die bisher noch nicht berücksichtigt wurden. Zum einen müßte die gesamte Finanzpolitik, d.h. die Archive der Firmen und Banken beleuchtet werden.
Und ein zweiter riesiger Aspekt ist die Rezeption des Nazismus in Chile von 1933 bis 1945 in der politischen, sozialen, religiösen und institutionellen Presse. Diese Untersuchung wird vieles klären, sowohl rechts, wie auch links. Auch bei den Linken findet man viele Ungereimtheiten. So kämpfte zum Beispiel Pablo Neruda, anfangs konsequent gegen Nazideutschland und machte Propaganda. Damit hörte er schlagartig auf, als Ribbentrop und Molotov sich getroffen hatten. Dass Stalin mit dem Pakt aufhörte, gegen Hitler zu polemisieren, um sich selbst bewaffnen zu können, kann man verstehen. Aber dass Neruda in Chile auf die Bremse trat, das kann man nicht erklären. Er fängt erst wieder an als die Nazis in die Sowjetunion einmarschieren. Ich möchte diese lange Pause dokumentieren, weil es Licht bringt in unsere Gesellschaft. Wir brauchen keinen idealisierten Neruda oder Allende, sondern eine kritische Sicht auf Licht und Scheisse der gesamten chilenischen Gesellschaft.

Interview: Anja Witte, Nisha Anders und Olga Burkert

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