Chile | Nummer 437 - November 2010

„Wir können für uns selbst sorgen“

Die Mapuche-Aktivistin Juana Calfunao über ein Leben ohne den Staat

Die chilenische Staatsgründung vor 200 Jahren war auch der Startschuss für die gewaltsame Vertreibung der Mapuche von ihren angestammten Gebieten im Süden des Landes. Bis heute haben sie nur einen Bruchteil des von ihnen zurückgeforderten Territoriums erhalten, ihre Ansprüche nach mehr Selbstbestimmung werden ebenso verwehrt wie eine verfassungsrechtliche Anerkennung der mehr als eine halbe Million Menschen zählenden Ethnie. Die LN sprachen mit der Mapuche-Aktivistin Juana Calfunao, deren Sohn sich am Hungerstreik beteiligte. Sie ist die einzige Frau, die den Titel Lonko, Repräsentantin eines Mapuche-Territoriums, trägt.

Interview: Nils Brock

Frau Calfunao, Sie haben oft darauf hingewiesen, die Repression gegenüber den Mapuche sei eine historische Konstante…
…und genauso ist es auch. Nehmen sie meine Familiengeschichte. Mein Urgroßvater und mein Großvater starben beide in chilenischen Gefängnissen. Meine Großmutter wurde von Großgrundbesitzern vergewaltigt und ermordet. Beim Niederbrennen ihres Hauses starben sechs ihrer acht Kinder, nur zwei konnten sich bei Nachbarn in Sicherheit bringen. Eines dieser Kinder war meine Mutter, die 1973 zum ersten Mal ins Gefängnis kam. Sie wurde geschlagen, misshandelt – und ich mit ihr.

Das geschah kurz nach der Machtergreifung Pinochets. Sie haben wegen tätlicher Übergriffe auf einen Richter auch nach dem Ende der Diktatur eine sechsjährige Gefängnisstrafe absitzen müssen. Was hat sich aus ihrer Sicht an den Haftbedingungen geändert?
Nicht viel. Ich habe über vier Jahre in Einzelhaft verbracht, zwei mal zwei Meter. Eine abgedunkelte Zelle und täglich eine Stunde Hofgang, das ist Folter. Wie kann eine Regierung, die so etwas zulässt, einer Gruppe Hungerstreikender vorwerfen, mit ihrem Fasten Gewalt auszuüben.

Die Regierung nennt oft die Verteidigung des Rechtsstaats als Begründung, wenn Proteste und Straßenblockaden von der Polizei gewaltsam aufgelöst werden. Inwiefern haben Mapuche die Möglichkeit, sich ihrerseits auf diesen Rechtsstaat zu berufen?
Die Gesetze dieses Rechtsstaats ebneten historisch den Weg für die Enteignung der Mapuche-Ländereien. Auch heute nützen sie praktisch nur Großgrundbesitzer und Forstwirtschaftsunternehmen und nicht uns beim Kampf um unser Land. Paramilitärs zündeten drei Mal mein Haus an. Doch statt diese Taten aufzuklären, unseren Anzeigen nachzugehen, wurden mehrere meiner Familienmitglieder aufgrund einer Protestaktion wegen Widerstands gegen die Staatsanwaltschaft angeklagt.

Zielen ihre Forderungen nach einem Autonomiestatus hinsichtlich solcher Erfahrungen auch auf eine eigene Gerichtsbarkeit und Rechtsprechung ab?
Unbedingt. Auf dem letzten Treffen der Lonkos, dem Tragun, haben wir beschlossen, die chilenische Jurisprudenz bezüglich der Mapuche bereits jetzt in Frage zu stellen. Damit wollen wir auch die Hungerstreikenden symbolisch unterstützen. Ihre Forderungen betreffen uns alle. Schluss mit dem Anti-Terror-Gesetz, Schluss mit der Militarisierung der Araukania-Region.

Die chilenischen Medien haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Mapuche untereinander zerstritten seien und es deshalb so schwer für die Regierung sei, mit ihnen zu verhandeln.
Wir sprechen mit einer Stimme. An unserem Tragun haben über hundert Repräsentanten teilgenommen und einen ganzen Tag lang beraten. Es wird weitere solcher Treffen geben, denn sie sind bereits ein erster Schritt zu organisierter Selbstbestimmung. Der Staat soll sich zurückziehen, wir können selbst für uns sorgen. Die chilenische Entwicklungspolitik in der Araukania entspricht für uns einem Ressourcenraub, von dem die Mapuche nur die Umweltschäden zu spüren bekommen.

Und was würde mit den Nicht-Mapuche geschehen, sollte sich die Regierung tatsächlich auf einen Autonomiestatus und eine umfassende Landrückgabe einlassen?
Wir kämpfen nicht gegen die Chilenen, sondern gegen ihren Staat. Viele Nicht-Mapuche im Süden sind genauso arm und benachteiligt wie wir. Das sind potenzielle Verbündete, mit denen könnte man zusammenarbeiten und eine gerechtere und solidarische Gesellschaft aufbauen.

Bei den Demonstrationen in Temuco waren außer ein paar Studierenden aber kaum Verbündete zu sehen.
Sicherlich. Aber ich habe Hoffnung, dass die Chilen so langsam ihr Schweigen brechen und sich mit der staatlichen Politik auseinandersetzen. Von den Großgrundbesitzern und Unternehmern haben wir nichts zu erwarten, klar. Aber die übrigen müssen ein Zeichen setzen, Respekt für die Existenz der Mapuche zeigen. Eine gegenseitige Anerkennung ist die Grundlage für ein gerechtes Zusammenleben, alles andere ist Zeitverschwendung.

Sind die Menschenrechte aus Sicht der Mapuche ein Weg, dieses Zusammenleben zu bestimmen?
Das kommt darauf an. Wenn der chilenische Präsident Sebastián Piñera stolz darauf hinweist, Chile habe das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation unterzeichnet, dann sagt das noch lange nichts über seine Umsetzung aus. Das findet nicht statt. Ebenso wenig wie die der UN-Kinderrechtskonvention. In den Jugendhaftanstalten sitzen Mapuche, die des Terrorismus beschuldigt werden. Manchmal glaube ich, die Menschenrechte sind zu abstrakt.

Und wie könnte man garantieren, dass solche abstrakten Ideen auch umgesetzt werden?
Wir Mapuches lesen die Menschenrechte innerhalb unserer Kosmologie. Eine harmonische Nutzung des Bodens ist dabei die Grundlage für alles. Wir betrachten den Menschen ganzheitlich, unterscheiden nicht Kinder, Erwachsene, Alte. Alles ist mit allem verbunden, ein einziges großes Menschenrecht. Wir müssen nicht alles neu erfinden. Wir haben die Biodiversität in unseren Wäldern verteidigt, lange bevor dieses Wort erfunden wurde. Und wir werden sie weiter verteidigen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren