Amazonien | Nummer 418 - April 2009

„Wir müssen Belo Monte unbedingt verhindern“

Ein Interview mit Antonia Melo von der Stiftung Leben, Produzieren und Schützen

Die 59-jährige Antonia Melo kam in den 1950er Jahren in den Bundesstaat Pará. Seit 20 Jahren ist sie in verschiedenen sozialen Bewegungen aktiv. Im Gespräch äußert sie sich zum Widerstand gegen das geplante Staudamm- und Wasserkraftprojekt Belo Monte und zu möglichen Entwicklungsalternativen der Region am Rio Xingu.

Tina Kleiber

Die Stiftung, bei der Sie mitarbeiten, verfolgt das Ziel, eine nachhaltige Entwicklung in der Region Altamira voranzutreiben, gemeinsam mit Kleinbauern an der Transamazônica, den Frauen in der Stadt Altamira, Flussanwohner und indigenen Gemeinden. Inwiefern steht das Staudammprojekt diesem Ziel entgegen?
Die Regierung hat zwar ankündigt, eine Summe von fast sieben Milliarden Reais (rund 2,3 Milliarden Euro, Anm.d. Red.) öffentlicher Gelder zu investieren, um die Staudämme von Belo Monte zu bauen. Doch weder wurde vorher die Landfrage noch die Ansiedlung von Kleinbauern geklärt. Hunderte Familien warten bisher vergeblich auf Land und Unterstützung. Der Staat hat sich hier in Altamira noch nicht im geringsten um Infrastruktur, Sozial- oder Umweltpolitik gekümmert. Es ist eine Schande. Denn um eine Verbesserung der Situation der Menschen von Altamira zu erreichen, ist es unabdingbar, dass eine ganzheitliche Politik entwickelt und umgesetzt wird. Die muss Bildung, Gesundheit, eine Landreform und die Landregulierung einschließen. Vor allem die Kleinbauern brauchen technische Begleitung, Kredite und Fortbildung.

Welche sozialen Auswirkungen befürchtet Ihr, wenn das Wasserkraftwerk Belo Monte kommt?
Der Bau von Belo Monte würde alles in Frage stellen, was wir bisher erreicht haben. Wir setzen uns seit 15 Jahren für die Entwicklung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft ein. Für uns bedeutet das Wasserkraftwerk den Verlust des Landes für sehr viele Familien. Es führt dazu, dass neue Gebiete für Ackerland gerodet werden. Es bedeutet zudem, dass zehntausende Menschen hierher kommen werden, um dem Geist der angeblich durch die Staudämme geschaffenen Arbeitsplätze nachzujagen. Die Folgen wären eine zunehmende Armut, die umliegende Orte werden aufgebläht, das dünne soziale Netz zerreißt und die ländliche Bevölkerung, Indigene und Flussanwohner werden hier stranden. Wir wissen aus dem Beispiel des Tucuruí-Staudamms (gebaut 1984 im Bundesstaat Pará, Anm. d. Red.), dass ein derartiges Projekt der lokalen Bevölkerung nicht nützt.

Welche ökologischen Auswirkungen sind zu erwarten?
Es ist eine kaum kalkulierbare Katastrophe. Der Xingu wird sich komplett verändern, da der Wasserfluss durch zwei Kanäle kontrolliert werden soll, für deren Konstruktion hunderte Millionen Kubikmeter Erdreich und Felsgestein ausgehoben werden müssen. Fische und Wasservögel werden massiv betroffen sein, wie wir bereits in Tucuruí beobachten konnten. Am oberen Teil des Xingu wird es konstante Überschwemmungen geben, während der Xingu unterhalb der Staumauern zum Rinnsal wird. Teile der Volta Grande do Xingu (unter staatlichem Naturschutz stehendes Gebiet, Anm. d. Red.) werden somit trocken fallen und damit wird der Schiffsverkehr zum Rio Bacajá unterbrochen, dem einzigen Zugang zu den Gemeinden der Flussanwohner und Indigenen.
Es gibt aber noch ein weiteres Problem. Da der Xingu sechs Monate im Jahr Niedrigwasser führt, geht es nicht nur um einen, sondern um mehrere Staudämme. Das zeigt ganz klar eine Untersuchung der Universität von Campinas, die besagt, dass nur durch weitere Stauseen der Wasserstand gehalten werden kann, den die Turbinen von Belo Monte brauchen.
Und wenn der Wald durch den sich bildenden Stausee geflutet wird, kommt es zur Fäulnis der Holzbestände, die dann klimaschädliche Gase freisetzt. In Tucuruí gab es ein zusätzliches Problem: Als der Wald überschwemmt wurde, entstanden durch die Fäulnis Insektenplagen, welche die Flussanwohner zwangen, ihr Land am Ufer zu verlassen.

Wie viele Menschen werden schätzungsweise von Umsiedlung betroffenen sein?
In der Region leben rund 250.000 Menschen. Das Rückgrat bilden die Transamazônica, der Xingu sowie die Stadt Altamira mit ihren 80.000 Einwohner. In Altamira ist mit der Umsiedlung von 2.000 Familien zu rechnen. Die leben bereits heute unter schwierigen Bedingungen am Stadtrand. Weitere 800 Familien aus Vitória do Xingu und 400 Familien, die direkt am Flussufer als Kleinbauern leben, würde die Umsiedlung betreffen. In der Volta Grande do Xingu werden mindestens 6.000 Bewohner ihr Zuhause verlassen und ein Leben an einem anderen Ort neu beginnen müssen.

Welche Position hat die Bewegung für eine nachhaltige Entwicklung an Transamazônica und Xingu-Fluss (MDTX) zum Argument der Schaffung von Arbeitsplätzen durch das Wasserkraftwerk?
Die Betreiberfirma Eletronorte spricht von 100.000 Arbeitsplätzen. Doch nur ein Viertel davon sind direkte Arbeitsplätze, der Rest indirekte. Sie sollen für eine Dauer von fünf bis zehn Jahren entstehen. Wir gehen hingegen von maximal 5.000 Arbeitsplätzen aus, die neu geschaffen werden. In Altamira allein gibt es bereits 20.000 Arbeitslose. Wo sollen die vielen Menschen arbeiten, die auf der Suche nach Arbeit nach Altamira kommen werden? Es wird letztlich die Gewalt verschärfen, Unsicherheit und Elend steigern. Eletronorte wird diesen sozialen Prozess nicht steuern können.

Aus den bisherigen Erfahrungen mit Großprojekten: Wer hat durch dieses Großprojekt am meisten zu verlieren?
Es sind die, die ohnehin schon am Rande der Gesellschaft leben: Indigene, Flussanwohner und Frauen. Projekte dieser Größenordnung haben erhebliche Konsequenzen vor allem für arme Frauen: Sie und ihre Kinder werden vertrieben. Sofern sie einen Mann haben, geht dieser auf die Suche nach Arbeit weg und die Familie bleibt allein zurück. Die Frauen kämpfen darum, die Kinder groß zu ziehen, ohne dazu die Mittel zu haben. Aus Tucuruí und Balbina kennen wir den Anstieg von Armut, Gewalt, Prostitution und Perspektivlosigkeit für ihre Kinder.

José Muniz Lopes, ehemaliger Präsident von Eletronorte, nun von Eletrobrás, hat gegenüber brasilianischen Medien zugegeben, dass die Indigenen unterhalb der Staudämme betroffen seien. Auch sagte er, dass eine Umsiedlung ihres Dorfes an den Rand des Stausees das Problem zügig lösen könne. Wie sehen Sie dies?
Diese lapidaren Aussagen, dass man Indigene einfach umsiedeln könne, lassen tief blicken. Sie zeigen, wie wenig Respekt ihnen entgegengebracht wird. Wir erlebten das auch anlässlich von Protestveranstaltungen gegen Belo Monte. Im Mai 2008 trafen sich 3.000 Vertreter verschiedener vom Staudamm betroffener Gruppen, darunter viele Kayapó Indigene. Der Eletronorte-Vertreter ging in seinem Vortrag über sämtliche Bedenken hinweg, hat die wissenschaftlichen Studien der Universität von Campinas, die das Projekt unter mehreren Gesichtspunkten in Frage stellen, lächerlich gemacht und den Bau des Kraftwerks als unumstößlichen Fakt präsentiert. Daraufhin haben einige der Kayapó den Ingenieur mit einer Machete bedroht und leicht verletzt. Erst durch diesen Zwischenfall kam das Protesttreffen überhaupt in die Medien. (Siehe dazu LN 409/410)

Die Rede ist auch von hohen Kompensationssummen für soziale und ökologische Kosten …
Es geht um Lizenzgebühren. Sie sollen als Entschädigung für Umweltschäden und die soziale Zerstörung an die Gemeinden gezahlt werden. Es fehlt aber jegliche öffentliche Kontrolle. Nicht nur in Tucuruí, auch in Parauapebas, Oriximará und Barcarena werden Unsummen gezahlt. Und hat die Bevölkerung dort Arbeit? Hat sie Kanalisation, Schulen, eine Gesundheitsversorgung? Gibt es Ausbildung für die Jugendlichen? Kompensation kann nur mit öffentlicher Kontrolle und Transparenz im Mitteleinsatz erfolgen. Andernfalls profitieren davon lediglich die amtierenden Bürgermeister. Ausserdem reichen diese Gelder nie, um den tatsächlichen Schaden zu kompensieren.

Wie sollten alternative Modelle für die Transamazônica und den Xingu aussehen?
Die Flusslandschaft des Xingu ist eine der wertvollsten des Landes, sowohl in ökologischer als in ästhetischer Hinsicht. Die wirtschaftliche Entwicklung des Flusses für die Sportfischerei, für Wassersport oder Ökotourismus könnte viele Arbeitsplätze schaffen. Diese Gegend ist eine der reichsten des Bundesstaates Pará, sie besitzt eine der größten Kaffee- und Kakaoproduktionen, Rinderfarmen und andere Agrarprodukte. Sie verfügt zudem noch immer über 75 Prozent ihres Waldbestandes. Wenn diese Ressourcen schonend genutzt würden, könnten mit entsprechenden Anreizen verarbeitete Sammelprodukte und Möbelherstellung diese Gegend zu einer der reichsten Brasiliens machen.

Welche Vorschläge bestehen seitens der MTDX?
Die Bewegung schlägt die nachhaltige Nutzung von Naturressourcen vor, um neue Einkommensquellen zu erschließen und die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern. Wir brauchen ausgebildete Fachkräfte, eine Agentur für die wirtschaftliche Entwicklung der Region mit entsprechenden Mitteln. Damit sollen Kleinunternehmen gefördert und ländlichen Produzenten und Produzentinnen Investitionen ermöglicht werden. Warum sollen wir die Flusslandschaft des Xingu für die Stromerzeugung opfern, wenn sie in ihrer jetzigen Form ein so wichtiges ökologisches Kapital darstellt? Ist es nicht zudem absurd, wenn die G7 (Gruppe der sieben wirtschaftlich mächtigsten Staaten, A.d.R.) auf der einen Seite 300 Millionen US-Dollar investieren, um die Abholzung in Amazonien zu verhindern und auf der anderen Seite deren Banken gleichzeitig Milliarden in Projekte investieren, die gigantische Ökosysteme zerstören?

// Interview: Tina Kleiber

Kasten:
Antonia Melo (rechts im Bild) ist Gründerin der Frauenorganisation Bewegung der arbeitenden Frauen Altamiras (MMTA-CC) und eine von drei Direktorinnen der Stiftung Leben, Produzieren, Bewahren (FVPP). Auf der Flucht vor der Trockenheit im Nordosten Brasiliens kam sie gemeinsam mit ihren Eltern und ihren zwölf Geschwistern in den 1950er Jahren in den Bundesstaat Pará. Sie kämpft insbesondere gegen das Staudamm- und Wasserkraftprojekt Belo Monte und für eine nachhaltige Entwicklung entlang der Transamazônica und am Xingu-Fluss. Für ihr Engagement wurde sie 2006 mit dem Menschenrechtspreis der brasilianischen Menschenrechtsbewegung MNDH ausgezeichnet.

Kasten:
Das Staudamm- und Wasserkraftprojekt Belo Monte
Max.Kapazität: 11.181,3 MW. Kritiker sagen, dass wegen Niedrigstand des Flusses 7-8 Monate keine Energie erzeugt werden kann. Durchschnittliche Kapazität: 4.796 MW. Höhe: 97 m. Zahl der Staudämme: Ursprünglich geplant: 5-6, jetzt nur noch 1. Befürchtet wird, dass erst ein Staudamm gebaut wird und dann die anderen folgen, da technisch mit einem Staudamm nicht genügend Gefälle zu produzieren ist. Baukosten: 7 Milliarden Reais. Überschwemmte Fläche: Ursprünglich 1.225 km² jetzt runter gerechnet nur noch 440 km², davon 200 km² regulärer jährlicher Wasserhochstand. Überschwemmtes indigenes Land: Keines, laut Eletrobrás (Mutterfirma von Eletronorte). Umzusiedelnde Anwohner: 3.200 Familien, laut Eletrobrás. Größte Protesttreffen: 1989: 650 Kayapó und 400 VertreterInnen der Zivilgesellschaft, 2006: 19 von 21 Kayapó-Gemeinden, 2008: 4.000 Beteiligte. Größte Energieabnehmer: Aluminiumindustrie ALCOA Verletzte internationale Abkommen: ILO- Konvention 169 zum Schutz Indigener Völker und traditioneller Bevölkerung. Saubere Energie?: Wasserkraftwerke mit Staudämmen wie Belo Monte sind keinesfalls klimafreundlich. Durch die enorme Abholzung, die ihr Bau verursacht, tragen sie negativ zur CO2-Bilanz bei. Die Überflutung von Regenwaldflächen für die Stauseen führt zu Fäulnisprozessen, die klimaschädliche Gase freisetzen. // TK

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