Nummer 366 - Dezember 2004 | Uruguay

“Wir müssen gegen den Würgegriff der internationalen Märkte angehen”

Interview mit dem uruguayischen Schriftsteller Eduardo Galeano

Eduardo Galeano pflegt seine InterviewerInnen im Café Brasileiro zu empfangen, einem der wenigen traditionellen Lokale, die in Montevideos Altstadt übrig geblieben sind. So auch am 3. November diesen Jahres, als sich gerade der Sieg der Republikaner in den USA abzeichnete. Zweimal wird unser Gespräch von Bewunderern des Autors unterbrochen, die spontan auf ihn zugehen. Zwischendurch nimmt er einen Anruf aus Argentinien entgegen – von einem Arzt, der gerade entdeckt hat, dass er Protagonist einer der 333 Geschichten in Galeanos letztem Buch Bocas del tiempo ist.

Gerhard Dilger

Herr Galeano, noch einmal vier Jahre Bush & Co. – was bedeutet das für uns?
Es ist ein Sieg der Angst. Die Welt ist einer Diktatur der Angst unterworfen, einer unsichtbaren Diktatur, die nur manchmal sichtbar wird. Die US-Öffentlichkeit ist besonders empfindlich, wenn Panik gesät wird. 60 Prozent glauben an die Existenz des Teufels. Er wechselt seine Verkleidung. Immer gibt es irgendeinen Teufel, um die Unschuldigen zu erschrecken.
Es ist kein Zufall, dass wenige Tage vor dem Wahlsieg von Bush, dieser Katastrophe für die Menschheit, Bin Laden aufgetaucht ist, um seine Drohungen auszustoßen und große Katastrophen anzukündigen. Ich weiß nicht, ob er von Bush bezahlt wird, aber verdient hätte er es. So deute ich diese Wahl als Sieg der Angst. Vorher war es die Angst vor dem Kommunismus, heute ist es die Angst vor dem islamischen Terrorismus. Es ist die Kontinuität des Bösen. Was wäre das Gute ohne das Böse?
Was das System das „Gute“ nennt, ist eine absolut verrückte Art, die Welt zu organisieren: Am Tag werden 2,5 Milliarden US-Dollar in die Industrie des Todes gesteckt. Mit den Ausgaben von zehn Tagen könnte man das Leben aller Kinder retten, die jedes Jahr an heilbaren Krankheiten sterben oder verhungern. Aber zur Rechtfertigung dieser Militärausgaben braucht der kapitalistische Himmel einen Teufel, und wer eignet sich besser als Bin Laden mit seinem Bärtchen, seiner Maschinenpistole, diesem Blick.
(Er blättert in Die Füße nach oben (1998) und zeigt auf einen Kasten mit dem Titel „Wird ein Star geboren?“: Mitte 1998 stellte das Weiße Haus weltweit einen neuen Bösewicht vor: Er hört auf den Künstlernamen Ussama bin Laden, trägt Bart und Turban und hält auf dem Schoß zärtlich ein Gewehr. Wird dieser neue Star Karriere machen? Wird er ein Kassenerfolg sein? Wird er es schaffen, die Grundmauern der westlichen Zivilisation zu erschüttern, oder wird er nur ein zweitklassiger Schauspieler sein? Im Gruselkino weiß man das nie.“ (deutsche Ausgabe, Wuppertal 2000, S. 135)

Diese Stelle hat mir den Spitznamen Nostradamus eingebracht!

Kerry wäre Ihnen also lieber gewesen?
Wäre ich US-Bürger, ich hätte für Ralph Nader gestimmt. Denn ich glaube, das Schlimmste für eine Demokratie ist eine Einheitspartei, die sich als zwei Parteien ausgibt, wie wir es in Uruguay 170 Jahre lang mit den Blancos und den Colorados gehabt haben. Mit Nader gab es eine kleine Möglichkeit, das etwas anderes hätte entstehen können. Aber das verleitet mich nicht zu der Ansicht, dass Bush das Gleiche ist wie Kerry, natürlich ist Bush viel schlimmer für uns.
Wir sind in der Hand eines Verrückten, der von Leuten umgeben ist, die alles andere als verrückt sind und diesen irrationalen Diskurs organisieren. Wie die Betrunkenen negieren die Verrückten das Offensichtliche. Bush sagt, dass die Welt immer sicherer wird, während sie in Wirklichkeit an allen Stellen explodiert.

Manche sagen ja, solange die USA in anderen Teilen der Welt beschäftigt sind, können sie in Lateinamerika nicht soviel Unheil anrichten. Sehen Sie das ähnlich?
Auf die direkten militärischen Unternehmungen trifft das zu, die Marines sind im Irak beschäftigt. Aber bei uns landen andere Soldaten, die genauso viel oder sogar mehr zerstören: die Technokraten des IWF, der Weltbank, der Welthandelsorganisation, all jene Vertreter der weltweiten Machtstruktur die uns mehr zusetzen als je zuvor. Es stimmt also nicht, dass ihnen Lateinamerika egal ist, dass sie uns in Ruhe lassen. Sie zwingen uns nicht nur die Wirtschaftspolitik auf, sondern absolut alles. Unsere Regierungen können keine Entscheidung treffen, ohne dass vorher eine Delegation nach Washington reist und um Erlaubnis bittet.
Nun ist ja auch in Uruguay gewählt worden…
Ja, aber hier war es ein Sieg über die Angst. Das ist neu. Hier hat die Rechte ebenfalls eine Angstkampagne gefahren: Die Frente Amplio (Breite Front, FA) wurde mit den Tupamaros gleichgesetzt und es wurde suggeriert, die Linke seien Entführer, Mörder, Diebe, Vergewaltiger und Feinde der Demokratie.
Und auch der Sieg im Wasser-Plebiszit (Siehe Artikel in dieser Ausgabe, Seite 12-13) war ein Sieg über die Angst. Es wurde verbreitet, Uruguay werde sich ohne die Privatisierungen in ein Land der schwarzen Brunnen verwandeln, die Uruguayer seien Exoten, Marsmenschen in einer Welt, wo das Wasser privat verwaltet werde. Diese Lüge hat der Kulturminister verbreitet!

Tatsache ist: Die Spielräume für die neue Linksregierung werden eng sein.
Ja, es ist klar, dass Uruguay nicht die Kraft hat zu sagen, wir werden die Schulden nicht mehr bezahlen, das wäre realitätsfremd. Aber Uruguay kann und muss sich mit den anderen lateinamerikanischen Ländern zusammentun, um gemeinsam gegen den Würgegriff der Verschuldung und der internationalen Märkte anzugehen. Die Großen, Brasilien, Argentinien und Mexiko, müssen davon überzeugt werden, dass auch sie denselben stählernen Gesetzen der internationalen Machtstruktur unterworfen sind. Wenn sie glauben, sie können sich alleine retten, sind sie geliefert. Es gibt keinen Raum für die Einsamkeit.

Was ist das Besondere an der uruguayischen Linken?
Die Frente Amplio ist ein Bündnis mit viele Widersprüchen. Als Sohn von Marx und Enkel von Hegel bin ich davon überzeugt, dass der Widerspruch der Motor der Geschichte ist. Deswegen mache ich mir auch nicht das Geringste aus den Widersprüchen der Frente, sie sind ja der Beweis, dass sie lebendig ist. Andere Genossen sind darüber entsetzt, die kommen sich superrevolutionär vor und sind Anhänger einer linearen Logik. Sie verwechseln Einheit und Konformismus.
Und dann die Geduld. Die Frente ist ganz langsam aufgebaut worden, ab 1971 und mit einer brutalen Unterbrechung durch die Militärdiktatur. Danach ist dieser Impuls, diese Energie wieder aufgegriffen worden und Bewusstsein für Bewusstsein, Haus für Haus, erobert worden, mit einer geradezu chinesischen Geduld. Das war unglaublich, denn üblicherweise ist die Linke sehr ungeduldig. Jetzt ist diese Entwicklung in den Wahlsieg gemündet.
Ich glaube, in dieser fantastischen Nacht war ganz Montevideo auf der Straße, eine Million, anderthalb Millionen Menschen. Wir waren schon erschöpft, und um vier, fünf Uhr, kurz vor der Morgendämmerung, sagte jemand: „Ich will, dass diese Nacht nie zu Ende geht.“ So haben wir uns alle gefühlt.

In puncto Vergangenheitsbewältigung haben sich die führenden Frente-Vertreter sehr vorsichtig geäußert…
Ja, wie eigentlich auf allen Gebieten. Wir müssen um die Rückgewinnung der Erinnerung und gegen Uruguay als Paradies der Straflosigkeit kämpfen. In den Jahren des erzwungenen Gedächtnisverlustes mussten wir den Müll unter dem Teppich verstecken und den Mund halten. In der ersten Etappe geht es darum, den Artikel vier des entsetzlichen Amnestiegesetzes auszuschöpfen, gegen das wir 1989 erfolglos ein Plebiszit organisiert hatten. Dieser Artikel ist nie angewendet worden, er zwingt zu Untersuchungen und öffnet dem Kampf gegen die Straflosigkeit einen gewissen Raum. In dieser ersten Etappe könnte man schon einiges erreichen.

Aber hat die künftige Regierung den politischen Willen dazu?
Ja, zur ersten Etappe bestimmt, das hat Tabaré Vázquez auch versprochen. Dann sehen wir weiter. Es ist ein langer Weg, aber es nützt nichts, groß herumzuschreien, es geht darum, langsam mit klarem Ziel zu handeln.

All das klingt doch sehr nach dem, was der brasilianische Präsident Lula immer sagt. Nur ist der jetzt schon fast zwei Jahre im Amt, und die Ergebnisse sind bescheiden. Die neoliberale Logik scheint übermächtig.
Die Politik der Regierung Lula ist sehr paradox. Die Freigabe des Gensojas zum Beispiel ist schwer zu verstehen. Die besten Signale gehen in die Richtung, die gemeinsame Front des Südens zu erweitern, im Mercosur, oder innerhalb der Welthandelsorganisation der Versuch, mit Indien, Südafrika und China zusammenzuarbeiten. Doch auch hier ist der Ausgang offen. Uruguay jedenfalls ist zur Kooperation mit Argentinien und Brasilien verurteilt, wir können uns nicht in ein eigenes Abenteuer stürzen.

Wie fühlen Sie sich heute angesichts der Nachrichten aus den USA und der Hoffnung, die in Uruguay mit den Händen zu greifen ist?
Solche Situationen sind eine Herausforderung. Viele US-Amerikaner denken, sie seien die Welt. Die Welt sieht das vielleicht anders. Es ist an der Zeit, Nein zu sagen, wir dürfen uns nicht weiter wie Blätter im Wind treiben lassen. Wir müssen den Widerstand organisieren, im Namen des Planeten, der in diesem Rausch der Gewalt und des Konsums unterzugehen droht.
Die Welt muss ihnen sagen, ihr dürft nicht über uns verfügen. Das gilt besonders für uns Lateinamerikaner, denen die Erniedrigung Jahrhunderte lang eingetrichtert worden ist. Es ist schwierig, sich gegen diese kranke Macht zu wehren, gegen eine Vorstellung von den Dingen, die mit unserem Planeten und mit der Menschheit aufräumen wird. Es ist diese Vorstellung, dass die Welt in einem texanischen Supermarkt gekauft wurde und deswegen verschleudert werden kann. Sogar die Russen haben sich jetzt mehr oder weniger dem Kyoto-Protokoll gebeugt, auch in dieser Hinsicht ist die Bush-Wahl eine Katastrophe.

Aber die UruguayerInnen halten dagegen…
Der Wahlsieg ist von nationaler, das Wasser-Plebiszit von weltweiter Bedeutung. Uruguay ist ein kleines, fast geheimes Land, das nie in den Medien auftaucht. Niemand schert sich um uns. Jetzt ist das Wasser als Menschenrecht und Gut für alle in der Verfassung verankert und die privaten Geschäftemacher sind draußen. Das sollte man uns nachmachen!

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