Nummer 432 - Juni 2010 | USA

„Wir sind alle Arizona“

Das neue Migrationsgesetz des US-amerikanischen Bundesstaats Arizona erntet scharfe Kritik

Während das neue Migrationsgesetz des Bundesstaates Arizona laut den US-RepublikanerInnen die „Invasoren der amerikanischen Souveränität“ aufhalten soll, brandmarken KritikerInnen das Gesetz und dessen Umsetzungsanweisungen als rassistisch. MigrantInnen- und Bürgerrechtsorganisationen riefen gemeinsam mit Gewerkschaften sowie Regierungen verschiedener US-Städte zu Protesten und einem Boykott Arizonas‘ auf.

Börries Nehe

Trotz des dichten Nieselregens füllen beinahe 90.000 Menschen den Zócalo, den zentralen Platz in Mexiko-Stadt. Unter dem Motto „Wir sind alle Arizona“ protestieren sie gegen die neue Migrationsgesetzgebung in dem US-Staat. Im Gegensatz zu den meisten Themen von sozialer Relevanz finden die DemonstrantInnen diesmal mächtige Unterstützung. Seit die republikanische Gouverneurin Arizonas, Jan Brewer, am 23. April den „Support Our Law Enforcement and Safe Neighborhoods Act“ unterzeichnete, übertreffen sich mexikanische PolitikerInnen aller Parteien ebenso wie die großen Medienanstalten gegenseitig mit ihrer Kritik. Anlass dafür gibt es mehr als genug: Nach dem als Senate Bill 1070 (SB1070) eingeführten Gesetz müssen alle Nicht-US-BürgerInnen stets gültige Papiere mit sich führen. Bei Zuwiderhandlung droht bis zu einem Monat Haft. Staatlichen Stellen ist es fortan untersagt, Bundesgesetze, die Migration betreffen, weniger als in vollem Umfang anzuwenden. Zudem stellt das Ende Juli in Kraft tretende Gesetz Handlungen unter Strafe, die „illegale Einwanderung fördern oder herbeiführen“. MigrantInnen Unterschlupf zu gewähren oder im Wagen mitfahren zu lassen, wird demnach mit Geldstrafen geahndet.
Im Mittelpunkt der Kritik stehen fraglos jene Paragraphen des Gesetzestextes, laut denen PolizistInnen dazu gezwungen sind, den Aufenthaltsstatus all jener zu ermitteln, bei denen ein „begründeter Verdacht“ besteht, dass sie sich illegal in den USA aufhalten. Für illegalisierte EinwanderInnen bedeutet das ständige Bedrohung. Zudem bleibt die Frage, woraus sich dieser „begründete Verdacht“ ableiten lassen soll, so die Kritik der MigrantInnen- und Bürgerrechtsorganisationen. Zwar hatte der Gesetzgeber in Arizona auf die massive Kritik scheinbar reagiert: Aus einem erläuternden Absatz des Gesetzes, laut dem polizeiliche und andere staatliche Stellen den begründeten Verdacht „nicht ausschließlich von Rasse, Farbe oder nationalem Ursprung“ ableiten sollten, wurde das Wort „ausschließlich“ wieder gestrichen. Woran man einem Menschen dann aber den vermeintlich fehlenden legalen Aufenthaltsstatus ansehen könnte, das wusste selbst Gouverneurin Brewer auf Nachfragen hin nicht zu erklären. Das SB1070 bedroht damit nicht nur die schätzungsweise 500.000 in Arizona lebenden undokumentierten EinwanderInnen, von denen 95 Prozent aus Mexiko stammen, in jedem Moment willkürlich festgenommen und abgeschoben werden zu können. Auch für das knappe Drittel von Arizonas sechseinhalb Millionen BewohnerInnen, das als hispanic gilt, dürften die als racial profiling bezeichneten Erkennungsmethoden der Polizeibehörden allerlei Schikanen mit sich bringen.
Gleichwohl sind die KritikerInnen des Gesetzeswerkes eine klare Minderheit in Arizona. Etwa siebzig Prozent der Bevölkerung heißen das SB1070 Umfragen zufolge gut, nur etwa zwanzig Prozent lehnen es explizit ab. Diese überwältigende Zustimmung zeugt nicht zuletzt von der Effektivität der migrationsfeindlichen Rhetorik, in der sich republikanische PolitikerInnen Arizonas seit geraumer Zeit üben. Der Schöpfer des Gesetzestextes, Senator Russell Pearce, hat die undokumentierten EinwanderInnen wiederholt als „Invasoren der amerikanischen Souveränität“ bezeichnet, womit er in dem Staat mit den meisten illegalen Grenzübergängen scheinbar auf offene Ohren stieß. Gouverneurin Brewer unterzeichnete das Gesetz zudem genau einen Monat nach dem Mord an dem arizonischen Rancher Robert Krentz, für den die Medien zunächst „illegale Migranten“ verantwortlich machten. Dank des Medienspektakels stiegen nicht nur die Waffenkäufe in Arizonas Süden, sondern auch die Zustimmungsquoten für eine repressive Migrationspolitik sprunghaft an.
MigrantInnen- und Bürgerrechtsorganisationen riefen gemeinsam mit Gewerkschaften sowie Regierungen verschiedener US-Städte zu Protesten und einem Boykott Arizonas‘ auf. Und auch US-Präsident Barack Obama hatte das ihm zufolge diskriminierende Gesetz noch vor dessen Unterzeichnung kritisiert. Auch während des Mitte Mai erfolgten ersten Staatsbesuches des mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón stimmten beide Staatsoberhäupter in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem SB1070 überein. Die Sorgen der beiden dürften jedoch verschiedener Art sein. Für Obama, der das Scheitern der Bundesregierung in der Frage der zwar versprochenen, aber weiterhin ungeklärten Migrationsreform offen eingesteht, birgt Arizonas Schritt die Gefahr einer weiteren Zerstückelung der Migrationspolitik. Vierzehn Bundesstaaten bereiten derzeit neue und schärfere Migrationsgesetze vor – die Androhung Washingtons, das SB1070 eventuell mit einem Verfassungseinspruch stoppen zu wollen, ist demnach wohl vor allem als Versuch zu werten, nicht die Hoheit über die Einwanderungsgesetzgebung zu verlieren.
Für Felipe Calderón hingegen dürften andere Überlegungen ausschlaggebend sein, warum er zumindest für die Dauer seiner Dienstreise die Wichtigkeit der „Menschenrechte“ wiederentdeckte, die er für mexikanische MigrantInnen einforderte. Zu Beginn seiner Regierungszeit hatte er noch geäußert, das Thema der Migration gegenüber den USA nicht mehr prioritär zu vertreten. Er wolle „die Agenda entmigrantisieren“, bezeichnete Calderón dies. Doch angesichts des Bedrohungsszenarios in Arizona musste Calderón zumindest indirekt eingestehen, dass der massive Export billiger Arbeitskräfte derzeit alternativlos für das Funktionieren der mexikanischen Gesellschaft ist und bleibt. Knapp 30 Millionen MexikanerInnen und mexikanisch stämmige US-BürgerInnen leben heute in den USA, jedes Jahr folgen ihnen weitere 350.000. Die Geldsendungen der MigrantInnen nach Mexiko, die trotz einer krisenbedingten 15-prozentigen Abnahme 2009 noch immer 21 Milliarden US-Dollar betrugen, stellen die zweitwichtigste Devisenquelle des Landes dar. Eine Verschärfung der Migrationsgesetzgebung in den USA hätte für Mexiko sowohl in finanzieller als auch sozialer Hinsicht unvorhersehbare Konsequenzen.
Tatsächlich offenbart die in Mexiko geführte Debatte um Arizonas Migrationsgesetz vor allem, dass die versprochene „Desmigrantisierung“ für die Regierung Calderón eben nicht die Suche nach Alternativen zum Exodus der mexikanischen Bevölkerung und die Bekämpfung seiner Ursachen bedeutet. Im Gegenteil, die regierende Partei der Nationalen Aktion (PAN) treibt, ebenso wie die US-Regierung, die neoliberale Umstrukturierung und die damit einhergehende rapide Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für die mexikanische Bevölkerung aggressiv voran. So hat sich die jährliche Migration von Mexiko in die USA mit dem Inkraftttreten der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA (1994) und trotz massiver Militarisierung der gemeinsamen Grenze mehr als verdoppelt. Während der von den Vereinigten Staaten errichtete Grenzzaun zu Mexiko mittlerweile knapp 700 Meilen misst und die Polizei, die Nationalgarde und die Bürgerwehren Jagd auf MigrantInnen machen, überschwemmen US-amerikanische Agrarprodukte weiterhin den mexikanischen Markt. Seit 1994 hat dies allein im Agrarsektor zum Verlust von mehr als zweieinhalb Millionen Arbeitsplätzen geführt. Mexikos gescheitertes Entwicklungsmodell hat der Bevölkerung heutzutage kaum mehr zu bieten, als die Wahl zwischen der so genannten „informellen Ökonomie“, in der etwa 26 Millionen MexikanerInnen tätig sind, und der Auswanderung in die USA. Felipe Calderón will und wird daran nichts ändern.
So hatte der mexikanische Staatspräsident während des dreitägigen Staatsbesuchs in den USA seinen dort lebenden Landsleuten auch nichts als Durchhalteparolen und das Versprechen anzubieten, man werde für ihre Rechte eintreten. Und mehr als warme Worte konnte er auch seinem Amtskollegen Obama nicht abringen. In seiner Rede vor dem US-Kongress widmete Calderón sich stattdessen seinem Lieblingsthema, dem „Krieg gegen den Drogenhandel“. Doch während die Republikaner sehr schnell dabei sind, gegen MigrantInnen eine harte Gangart einzufordern, reagierten sie mit eisigem Schweigen auf Calderóns Gesuche, den Waffenverkauf an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze zu regulieren. 300.000 Feuerwaffen werden mexikanischen Regierungsangaben zufolge jährlich aus den USA nach Mexiko geschmuggelt. Eingesetzt werden sie nicht nur im blutigen Krieg zwischen rivalisierenden Drogenkartellen oder diesen und dem Militär, sondern ebenfalls zur permanenten Einschüchterung der Zivilbevölkerung – sei es durch die Kartelle, durch von UnternehmerInnen bezahlte Banden oder durch paramilitärische Gruppen. In Mexikos Norden gibt es Städte, aus denen die Hälfte der Bevölkerung vor der Gewalt, die seit Calderóns Amtsantritt 23.000 Tote gefordert hat, in die USA geflohen ist. Die Republikanische Partei hält auch diese Flüchtlinge für gefährlich und läßt Grenzzäune und Gesetzeswerke gegen sie errichten. Allein entlang der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze gibt es fast 7.000 lizenzierte Waffenläden, aus ihnen stammen 95 Prozent der von mexikanischen Banden eingesetzten Waffen. Republikaner und ihre AnhängerInnen halten ihren freien Verkauf für ein fundamentales Bürgerrecht, und auch die Regierung Obama lehnte während Calderóns Besuch eine Verschärfung der Waffengesetze kategorisch ab.
An dem Tag, an dem die Protestierenden auf dem Zócalo ausharren, überqueren etwa 800 neue Schusswaffen die Grenze von Norden nach Süden. Statistisch geschieht dies jeden Tag. Und an jedem Tag überqueren Tausende auf der Suche nach Arbeit die Grenze von Süden nach Norden. Das SB1070 wird daran nichts ändern, sondern bloß den Preis erhöhen, den die MigrantInnen für ein besseres Leben zahlen müssen.

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