Kunst | Nummer 399/400 - Sept./Okt. 2007

„Wir sind alle Erroristen“ – Errare humanum est

Das Kunstkollektiv Erroristas

Olga Burkert

Die Gruppe erroristas machte im Jahr 2005 mit einer spektakulären Aktion auf sich aufmerksam: Anlässlich des Besuchs von US-Präsident Bush im argentinischen Mar del Plata, kam am Morgen des 12. November eine bewaffnete Gruppe an den Strand des beliebten Badeorts. Bewaffnet mit Gewehren aus Holz und Karton, aus denen rote Fahnen mit dem Schriftzug „Bang“ flattern. Mit dieser Performance wollten die Erroristen auf die starke Desinformation, die ihrer Meinung nach im Vorfeld des Bush-Besuchs in den Medien herrschte, und die geschürte Paranoia vor Terroranschlägen kritisch aufmerksam machen. „Es war ein Irrtum“, verkündeten die Mitglieder der erroristas in Mar del Plata. Gekleidet waren sie in legerer Strandkleidung. Trotzdem zogen umgehend 20 Polizeipatrouillen auf. Nach dem ersten Schreck beruhigten die PolizistInnen jedoch die Leute: „Erschreckt euch nicht, das sind nur ein paar Clowns.“
Die erroristas sind Teil des argentinischen KünstlerInnen-Kollektivs grupo etcetera. Die 1998 gegründete Gruppe tritt immer wieder mit Interventionen in den öffentlichen Raum oder Performances in Erscheinung. „Unsere Grundidee ist die Bewegung“, sagt Cristian Forte, einer der Mitglieder von etcetera. „Wir arbeiten viel mit politischen Organisationen, wie den H.I.J.O.S. oder anderen Menschenrechtsorganisationen, sowie mit SchriftstellerInnen oder TheaterschauspielerInnen zusammen.“ Die Aktionen von etcetera werden alle kollektiv beschlossen und geplant. „Jede Woche treffen wir uns ein paar Stunden“, so Cristian weiter, „und entwickeln unsere Ideen.“ Zwischen 50 und 60 Personen kämen so oft bei den urbanen Interventionen zusammen. Außerdem bedient sich grupo etcetera den Mitteln der Straßenkunst, wie beispielsweise Schablonen-Graffitis, so genannten Stencils.
„Im speziellen Fall von Mar del Plata wählten wir die Aktion „Bang“, um auf die Manipulation der Medien aufmerksam zu machen“, erzählt Cristian. „Für uns ist das Thema Terrorismus sehr wichtig, deswegen haben wir versucht, das stereotype Bild des Terroristen aufzugreifen, das unserer Meinung nach durch die Manipulation der Medien erzeugt wird.“ Mit ihren Aktionen versuchen sie, die Themen an die Oberfläche zu holen und sie zur Diskussion zu stellen.
In dem Namen erroristas steckt ein doppeltes Wortspiel: nur das T fehlt, um aus Erroristen Terroristen zu machen, außerdem ist error das spanische Wort für Irrtum, Fehler. „Wir nennen uns auch erroristas, weil wir glauben, dass der Irrtum die fundamentale Basis für den Beginn jeder Konstruktion ist. Wir irren uns ständig, machen Fehler“, erklärt Cristian. Im Internationalen Manifest der Erroristen legt das Kollektiv seine Grundsätze fest.

KASTEN:
Das Manifest der Internationalen Erroristen
Erste Erklärung (Oktober 2005)

1. Der Grundgedanke des „Errorismus“ besteht darin, dass ein Irrtum das Ordnungsprinzip der Wirklichkeit darstellt.
2. „Errorismus“ ist eine irrtümliche philosophische Haltung mit dem Ritual der Verneinung, eine unorganisierte Organisation: der Fehler als Perfektion, der Irrtum als Treffer.
3. Das Aktionsfeld des „Errorismus“ umfasst alle Praktiken, die der BEFREIUNG des Menschen und seiner Sprache dienen.
4. Verwirrung und Überraschung, schwarzer Humor und das Absurde sind die bevorzugten Werkzeuge der „Erroristas“.
5. Lapsus und Fehlhandlungen sind für den „Erroristen“ die reinste Wonne.

Errorismus und Politik
POLITIK ist LEBEN, heißt es im Errorismus.
Der Errorismus ist re-EVOLUTIONÄR, seine Praktiken re-evolutionieren auf der Suche nach Autonomie und sozialer Selbstgenügsamkeit.
Im Errorismus ist man der Ansicht, dass der Kapitalismus als Erfolg beschönigt wird, jedoch im Grunde der größte Irrtum überhaupt ist.
Errorismus und Sexualität
Die Erotik ist in der erroristischen Unzucht der Schlüssel des Liebesspiels.
Wir lesen das, was wir lesen müssen. Wir berühren das, was wir eigentlich nicht berühren dürfen.
Erroristische LIEBE ist LIEBE frei von Fehlern.
Wir Erroristen fordern die Masturbation als Weg zu Autonomie und Selbsterkennung.
Errorismus und Sprache
Wir wollen ein deutliches Beispiel für die Anwendung des erroristischen Effekts in einer normalen alltäglichen Situation aufzeigen: Beim Schreiben von Texten am Computer mit einem Textverarbeitungsprogramm. Diese Programme enthalten eine Funktion zur Vermeidung von „Fehlern“ durch das Rechtschreibprogramm. Wenn das Wort, das Konzept oder der Vorschlag von diesem nicht erkannt werden, macht es unverzüglich einen Korrektur-Vorschlag. Es suggeriert, dass wir einen Fehler begangen haben. Beispielsweise das Wort „Errorismus“ erkennt das Rechtschreibprogramm nicht und schlägt uns stattdessen das Wort „Terrorismus“ vor. (Im Spanischen wird auch erotismo vorgeschlagen!) Dies ist ein „erroristisches“ Beispiel, da wir eigentlich „Errorismus“ oder „errorista“ sagen wollten, dies aber scheinbar ein Irrtum sein muss, da „Errorismus“ gar nicht existiert. Wenn wir jedoch den Errorismus als die Existenz des Irrtums, als Grundlage aller Dinge anerkennen, dann entdecken wir, dass die Kommunikation erroristisch sein muss. Wir fordern die Metapher als bestgeeignete und daher bevorzugte Waffe der Erroristen.
Der „Terrorismus“ ist eine neue Figur, die dazu dient, Kriege, Genozid und Unterdrückung von Völkern zu rechtfertigen. Terrorismus ist ein Konzept und schafft das Bild, in dem die Straftat „für alles verdächtig zu sein“ sichtbar gemacht wird. So werden nicht-westliche Gesellschaften, Oppositionelle, Arme, Andersartige oder -denkende und Ausländer auf uniforme und generalisierte Art und Weise kriminalisiert. Im so genannten „Globalen Krieg gegen den Terrorismus“ ist alles erlaubt:
Wohnhäuser zerstören, religiöse Kulte abwerten, den „Feind“ demütigen und foltern.
Jemanden aufgrund seines (verdächtigen) Aussehens zu töten: Schießen und erst anschließend erkennen, um wen es sich eigentlich handelt, um ihn dann in ein Bild zu verwandeln.
Ein aktuelles Beispiel solcher Irrtümer, denen wir Erroristas uns entgegensetzen ist der Fall des „irrtümlichen“ Mordes an einem vermeintlichen „Terroristen“ in der Londoner Metro.
„Es war ein Irrtum“, rechfertigen sich die Polizisten, die den jungen Brasilianer erschossen.
Eine Verwechslung? Also? Kann dann nicht jede/r ein Terrorist sein?

WIR SIND ALLE ERRORISTEN!
Durch den durch die Medien verbreiteten Terror werden wir Teil der Strategie des Globalen Krieges. Woche für Woche identifizieren die Medien ein neues Kriegsgebiet, ein neues möglicherweise „gefährliches“ Subjekt, sei es wegen bereits begangener Attentate, der Angst vor ihnen oder den von ihnen möglicherweise ausgehenden Bedrohungen, wir fühlen uns eingesperrt in einer Welt, die sich in Alarmbereitschaft und Paranoia befindet. Etcetera…

Wenn du diese Nachricht gelesen hast… War es ein Irrtum.
// Los erroristas
Übersetzung: Antje Kleine-Wiskott

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren