Brasilien | Nummer 469/470 - Juli/August 2013

„Wir sind alle Prostitutas!“

Auf evangelikalen Druck hin zensiert das Gesundheitsministerium eine gemeinsam mit Sexarbeiterinnen entworfene Aids-Präventionskampagne

Den Satz „Ich bin glücklich, Prositituierte zu sein“, will das brasilianische Gesundheitsministerium nicht mittragen. Seither tobt in Brasilien ein Streit um religiöse Einflussnahme, falschen Moralismus und um das Recht der Betroffenen, selbst für sich reden zu dürfen.

Friederike Strack

Nilce Machado ist eine glückliche Prostituierte. Auf einem Plakat einer Aidspräventionskampagne des brasilianischen Gesundheitsministerium ist die Sexarbeiterin aus Porto Alegre und Aktivistin für ihre Rechte mit dem Satz abgebildet: „Ich bin glücklich, Prostituierte zu sein.“ Die Reaktion von Medien und Politik auf dieses Plakat ließ nicht auf sich warten: Wie kann das denn sein, in der Sexarbeit tätig und nicht unglücklich zu sein und mit diesem Job nicht so schnell wie möglich aufhören zu wollen? Doch es gibt sie, die selbstbewussten Huren des brasilianischen Prostituiertennetzwerkes, die stolz darauf sind, unabhängig ihr Geld zu verdienen, um ihre Kinder zu ernähren und sich ihr Lebenseinkommen zu sichern.
Auf einem Workshop des Aidsprogramms des Ministeriums im März dieses Jahres in der nordostbrasilianischen Stadt João Pessoa wurden gemeinsam mit Sexarbeiterinnen aus dem ganzen Land Slogans für eine Plakatserie gesammelt und Videos gedreht. Eine Kampagne für ein starkes Selbstbewusstsein der Sexarbeiterinnen sollte es werden. Und die Kampagne sollte dazu dienen, die Kunden für die Nutzung von Kondomen zu sensibilisieren. Am 2. Juni, dem Internationalen Hurentag, wurde die Kampagne in den sozialen Medien lanciert. Drei Tage später war das Plakat mit Nilce aus dem Netz genommen und der Direktor des brasilianischen Aidsprogramms, das in der ganzen Welt als vorbildhaft angesehen wurde, entlassen. Was war geschehen?
Es war die dritte Zensur einer Präventionskampagne des Aidsprogramms. Die erste widerfuhr letztes Jahr einem Video, das sich an junge Schwule richtete. Wegen vermeintlicher Anzüglichkeit wurde es nicht ausgestrahlt und stattdessen ein trockener Text verlesen: „Benutzt ein Kondom in der lockeren Karnevalszeit“. Im gleichen Jahr erfolgte die zweite Zensur: Vom Ministerium wurden Schulmaterialien gegen Homophobie für die Schule enwickelt, aber anschließend nicht verteilt. Dies war der massiven Einflussnahme der evangelikalen Fraktion in der Regierung geschuldet.
Diese mächtige Fraktion von 80 Abgeordneten im Kongress übt zunehmend Druck auf die Regierungsparteien und insbesondere auf die Arbeiterpartei PT aus. Auch die Präsidentin Dilma Rousseff hatte sich schon im Wahlkampf 2010 gegen Abtreibung ausgesprochen – stark beeinflusst vom Druck der religiösen Verbündeten.
Jetzt ist es der Gesundheitsminister Alexandre Padilha, der sich auf die Wahlen im nächsten Jahr vorbereitet, zu denen er sich als Gouverneurskandidat im Bundesstaat São Paulo aufstellen lassen will. Da möchte er sich nicht mit den Evangelikalen im Lande anlegen. Für die Absetzung der Kampagne wurde Padilha auch prompt von dem evangelikalen Pastor Marco Feliciano gelobt, der gegenwärtig als Präsident dem parlamentarischen Menschenrechtsausschusses im Kongress vorsteht (siehe LN 466). Feliciano selbst steht im Kreuzfeuer der sozialen Bewegungen, die er aus den öffentlichen Sitzungen des Menschenrechtsausschusses ausschließt. Wegen rassistischer und homophober Äußerungen wurde er angeklagt und seine Wahl hat zu heftigen Protesten und Rücktrittsforderungen geführt. Feliciano unterstützt derzeit einen Gesetzesentwurf zur „Heilung der Schwulen“, der vom PSDB-Abgeordneten João Campos eingereicht worden war. Der Gesetzesentwurf unter dem Slogan „Cura Gay“ soll Psychologen erlauben, Homosexualität als Krankheit zu definieren und zu behandeln. Mit Protest und Humor forderte daraufhin die LGBT-Bewegung, sogleich den Antrag auf Frührente ausfüllen zu dürfen.
Dirceu Greco war Leiter des Aids-Präventionsprogramms des Gesundheitsministerium und hatte die gemeinsam mit den Sexarbeiterinnen entwickelte Kampagne unterstützt. Nach seiner abrupten Entlassung sprach sich der Mediziner öffentlich gegen die konservative Haltung der Regierung aus und forderte sie auf, „sich weiterhin zusammen gegen Diskriminierung und Stigmatisierung einzusetzen”.
Seit 30 Jahren setzen sich die Sexarbeiterinnen mit ihrer Bewegung gegen ihre Diskriminierung ein und zeigen, dass sie eine eigene Stimme haben. Die Verletzung ihrer Rechte, vor allem des Rechts auf Arbeit, wollen sie nicht hinnehmen. Die landesweite Kampagne „Sem vergonha, garota. Você tem profissão” – „Ohne Scham, Mädchen. Du hast einen Beruf“, in deren Rahmen auch die zensierten Poster entstanden, besteht schon seit 2002. Daher haben die Kolleginnen von Nilce aus Belo Horizonte, aus Recife, Teresina, João Pessoa und São Luiz beschlossen, ein Zeichen zu setzen. Sie haben dem Gesundheitsministerium die Nutzung all ihrer Fotos entzogen und mit einer Klage gedroht, falls diese weiterhin verwendet werden sollten. Stattdessen haben Frauen wie Nanci Feijó aus Recife Poster mit dem Satz des Anstoßes und ihren eigenen Fotos mit enormem Erfolg über die sozialen Medien verbreitet.
„Ich bin Prostituierte und Bürgerin und ich habe das Recht, meine Gefühle auszudrücken”, sagt auch Maria Luzanira da Silva von der Gruppe Apros-PB in João Pessoa. Denn schon lange wird der weltweite Kampf gegen HIV/Aids mit dem Kampf für Rechte und gegen Vorurteile verbunden, wie auch der Bericht der Global Commission on HIV and the Law des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen empfiehlt. UNAIDS und ILO fordern seit Jahren die Entkriminalisierung der Sexarbeit. Auch in Brasilien wurde schon 2004 Prostitution als Tätigkeit vom Arbeitsministerium im Katalog der Beschäftigungskategorien (CBO) aufgenommen und erkannt. Von daher stößt es bei den brasilianischen Gruppen auf besonderes Unverständnis, dass auch die Poster mit den Aussagen „Der größte Traum ist, dass uns die Gesellschaft wie Bürger anerkennt“ und „Menschen mit ihren Tätigkeiten nicht zu akzeptieren ist Gewalt” aus dem Netz genommen wurden. Das Ministerium argumentiert, es könnte Ärger mit dem Rechnungshof geben und diese Poster müssten von anderen Ministerien – wie vom Menschenrechtssekretariat – herausgegeben werden.
Leila Barreto von der Gempac aus dem nördlichen Bundesstaat Pará ließ keinen Zweifel an ihrem Ärger: „Es geht um die Würde unserer Arbeit. Diesen Satz zu streichen, bedeutet eine Verletzung unserer Rechte, besonders in Anbetracht des gesellschaftlichen Stigmas, dem wir ausgesetzt sind“. Gabriela Leite von Davida und Gründerin der Prostituiertenbewegung warf allen Kritiker_innen des Satzes „Ich bin glücklich, Prostituierte zu sein“ vor, den betroffenen Prostituierten nicht die gleichen Rechte wie allen anderen zugestehen zu wollen. „Es ist arrogant zu meinen, eine Prostituierte könne nicht glücklich sein“. Einmal mehr zeige sich daran, wie Prostituierten die Möglichkeit verwehrt würde, ihre Träume und Ideale von Staatsbürgerschaft und Teilhabe zum Ausdruck zu bringen und ihre eigene Identität und soziale Sichtbarkeit selbst behaupten und bestimmen zu dürfen.
Die gesamte Aidsbewegung demonstrierte am 18. Juni mit schwarzen T-Shirts in der Hauptstadt Brasília, um ihre Trauer um den Verlust des einst so modernen Aidsprogramms zum Ausdruck zu bringen und den Rücktritt des Gesundheitsministers Padilha zu fordern. Die skandalösen Vorgänge um die Zensur der Kampagne beträfen alle und seien der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brächte. Die in der Aidsbewegung versammelten Organisationen lehnen es ab, als Feigenblatt für die Beteiligung der Zivilgesellschaft herzuhalten, aus der heraus vor 30 Jahren das Aidsprogramm in Kooperation mit dem Staat entstanden war. Vertreter_innen der Aidsorganisationen aus der bundesweiten Kommission zu Aids, sexuell übertragbaren Krankheiten und Hepatitis haben daher öffentlich ihren Rücktritt erklärt und twittern derweil fleißig unter dem Motto, „Ich bin glücklich, Journalist zu sein” und erklärten solidarisch „Wir sind alle Prostituierte“.
Auch die brasilianische Prostituiertenbewegung hat seit Beginn des Aufbau des Aidsprogramms als wichtiger Partner des Gesundheitsministeriums mitgewirkt. Bereits 2004 war sie die Vorreiterin mit ihrer Kritik am US-amerikanischen Entwicklungshilfeprogramm USAID. Unter Bush Jr. wurden Vergaberichtlinien wie Pepfar verabschiedet, nach denen keine Organisationen mehr unterstützt werden durften, die sich nicht gegen Sexarbeit aussprechen. Diese Woche standen sie auf dem Prüfstand des Obersten Gerichtshofs der USA und es wurde entschieden, dass diese Vergaberichtlinien gegen die Verfassung verstoßen. Nach 2004 hatte sich die brasilianische Regierung noch mit den Sexarbeiterinnen und der gesamten Aidsbewegung solidarisiert und die 48 Millionen US-Dollar für Aidsprävention abgelehnt, da sich das Programm in seiner Zielsetzung gegen die Protagonist_innen und Zielgruppen richtete.
Heute dagegen verletzt das Gesundheitsministerium eines der Prinzipien des öffentlichen Gesundheitssystems (SUS), indem es eben nicht alle Bürger gleich behandelt, kritisiert das Brasilianische Prostituiertennetzwerk. „Wie kann man eine Präventionskampagne machen, ohne die Tätigkeit einzubeziehen?”, fragt sich Nilce.
Mitte Juni kam es zu einem ersten Treffen zwischen Vertreter_innen des Ministeriums und den Prostituierten, wo diese eine Entschuldigung von dem Ministerium forderten. Derzeit warten die Gruppen auf eine Antwort. Davon hängt ab, ob in Zukunft wieder ein Dialog entstehen kann, der die sozialen Bewegungen als „glückliche“ Partner_innen auf Augenhöhe wahrnimmt.

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