Kolumbien | Nummer 441 - März 2011

Wir sind auch noch da

Die marginalisierte Bevölkerung in Kolumbiens aufstrebender Großstadt Medellín kämpft um politische und soziale Teilhabe

Das öffentliche Bild von Kolumbiens zweitgrößter Stadt Medellín ist meist durch Drogengewalt und Wirtschaftsaufschwung geprägt. Dabei organisiert sich in den Armenvierteln der Stadt eine Bewegung, die für die Rechte der Ausgeschlossen eintritt.

Sabrina Apicella

Die Medelliner Metro schlängelt sich einmal durch das Aburrá-Tal, von dem aus die Stadt in die umliegenden Berge hinauf gewachsen ist und immer weiter wächst. Sie macht etwas her, die sogenannte „schöne Stadt”, mit ihrer im ganzen Land einzigartigen Hochbahn, Prestigeobjekt der Stadt und TouristInnen-Magnet. Nicht bloß werbewirksam, sondern auch ein wichtiges soziales Projekt sei die Bahn, zumindest der Stadtregierung zufolge, denn sie verbindet durch das Metrocable, eine Gondel-Linie, auch die ansonsten verkehrstechnisch abgeschiedenen Armenviertel der Stadt mit ihrem Zentrum. In den Medien lassen sich entsprechend dankbare BewohnerInnen des Armenviertel Comuna 13 finden, die – so heißt es – ohne die Metro bei ihren täglichen Fahrten um ihr Leben fürchten müssten. Sie sollen zeigen: Die Stadtverwaltung unternimmt etwas gegen die Unsicherheit und Kriminalität in der Stadt.
Aber auch sonst gibt sich Medellín modern: Es gibt eine internationale Börse, wichtige Wirtschaftsmeetings finden statt, ebenso große Modemessen. Auch ist Medellín Hauptsitz der Öffentlichen Unternehmen Medellín (EPN), die die Produktion, Distribution und Kommerzialisierung von öffentlichen Dienstleistungen in nahezu ganz Kolumbien und verschiedenen süd- und zentralamerikanischen Ländern dominieren. Im Departement Antioquia, in dem Medellín liegt, wird 35 Prozent der elektrischen Energie Kolumbiens produziert, hier existiert eine der größten hydroelektrischen Potenzen ganz Lateinamerikas.
Dieses Stadtbild bleibt jedoch nicht ungebrochen: Denn die Stadt entwickelt sich innerhalb der neoliberalen Logik als Stadt der Dienstleistungen, in der die großen Industrien liquidiert und tausende von ArbeiterInnen in die Peripherie der Stadt entlassen worden sind. Gegen diese Logik kämpft der Journalist und Stadtaktivist Olimpo Cárdenas Delagado. Ihm liegen die vom Modernisierungsprozess Ausgeschlossenen am Herzen, meist ehemalige Bauern, die am Rande der Stadt leben: „Der Neoliberalismus hat die Landwirtschaft zerstört, so enden die erwerbslosen Bauern und Arbeiter in den Peripherien der großen Städte. Aber die Bauern gehen nicht freiwillig oder wegen mangelnder Arbeit in die Städte, sondern weil sie von Paramilitärs gezielt verfolgt und vom eigenen Staat vertrieben werden. Dies geschieht, um sich deren Ländereien anzueignen und sie an die transnationalen Unternehmen oder Großgrundbesitzer oder die Bourgeoisie des Landes weiterzugeben“, so Cárdenas Delgado.
Hinzu kommt, dass auch Medellín stark von paramilitärischen Strukturen durchzogen ist, die nicht nur eine soziale Kontrolle vieler städtischer Räume und deren BewohnerInnen erreicht haben, sondern auch ökonomisch groß in das Geschäft von Sicherheitsdiensten oder der Schutzgelderpressung vor allem im Bereich des Nahverkehrs eingestiegen sind. Eng verwoben bleiben sie mit der Polizei und der öffentlichen Politik. Medellín weist heute die höchste Mordrate Kolumbiens auf: 97 auf 100.000 EinwohnerInnen.
Angesichts der ungleichen Entwicklung spricht Aktivist Cárdenas Delgado von Medellín als zwei Städten: „Zum einen die schöne, elegante, teure Dienstleistungsstadt, zum andere die arme Stadt in der Peripherie, ausgeschlossen, gewaltvoll, ungeschützt, vernachlässigt.“ Ihm zufolge drückt sich in der Peripherie all das Schlechte der kapitalistischen Gesellschaft aus, denn dort reproduzieren sich die Banden von Auftragsmördern, rekrutiert von der Bourgeoisie und den Drogenhändlern. Gleichzeitig werde dort auch der Widerstand gelebt, aber unter großer Marginalisierung und ständiger Bedrohung.
Entsprechend sei es schwierig, von einer starken sozialen Bewegung in den Städten zu sprechen. Die alternative Zeitung Periferia, für die Cárdenas Delgado arbeitet, versucht in Basisarbeit Jugendliche und Gemeinschaften in der städtischen Peripherie zu ermächtigen, ihre eigene Geschichte und ihre Probleme zu formulieren sowie selbst Lösungsvorschläge zu entwickeln und vorzubringen. Die Zeitung diene hier, so Cárdenas Delgado, als Sprachrohr für verschiedene kommunitäre Prozessen, das die Probleme und Proteste transportiere.
Zusammen mit anderen Organisationen der sozialen Bewegungen in Medellín und anderen Städten Kolumbiens arbeitet die Periferia an einer „Lesart der kolumbianischen Stadt“. Gemeint ist damit, die kolumbianische Stadt und ihre Dynamiken zu verstehen, die auf der einen Seite eine Menge gemeinsame Charakteristiken mit anderen Städten in der Welt teilt, auf der anderen Seite aber mit großen Eigenheiten versehen ist, wie die Gewalt und die extreme Armut. Diese Lesart bleibt angebunden an die Proteste und deren Auseinandersetzungen, vor allem zu angemessenen öffentlichen Dienstleistungen.
„Die Idee ist, kollektive Vorschläge zu erarbeiten, die es den Menschen erlauben, widerständig zu sein und gleichzeitig zu überleben. Aber um das zu erreichen, müssen wir auf dem Feld der politischen Bildung hinzugewinnen und uns mit den ultrarechten Gruppen konfrontieren, die überall sind und jede Form von kommunitärer Organisation verfolgen“, meint Cárdenas Delgado. Außerdem gehe es um ein Verständnis von Territorium, das auch die Liebe der Menschen zu ihrem Lebensraum erfasse. „Das ist aber sehr schwer erreichbar“, so der Journalist weiter, „weil die Menschen in den Armenvierteln gar nicht von dort kommen, sondern dort leben müssen und davon träumen, wieder auf ihr Territorium zurückzukehren.“
Trotz der schwierigen Ausgangsbedingungen können die sozialen AktivistInnen Erfolge vorweisen. So wird im Stadtteil Altos de la Torre an einem längerfristigen Projekt gearbeitet, in dem die BewohnerInnen die Geschichte des jungen, schnell wachsenden Viertels rekonstruieren, an der sie selbst maßgeblich beteiligt sind. In gemeinsamer Arbeit werden Gemeinschaftsräume geschaffen, in denen sich etwa Frauengruppen treffen. Dank einer Initiative aus dem Stadtteil konnte im vergangenen Jahr durchgesetzt werden, dass Trink- und Abwasserleitungen entsprechend der Pläne der StadtteilbewohnerInnen verlegt wurden, ohne dass dafür Häuser abgerissen werden mussten.
Der wohl wichtigste Akteur ist die Mesa Interbarrial de Desconectad@s, ein viertelübergreifendes Forum der Marginalisierten. Seit Juli 2009 artikulieren und treffen sich in diesem Rahmen vor allem StadtteilbewohnerInnen und -initiativen zusammen mit den ansässigen Nicht-Regierungsorganisationen und auch mit der Periferia, um gemeinsame Aktivitäten zu entwickeln. Im Vordergrund der Arbeit der Mesa Interbarrial stehen die Stärkung kommunitärer Prozesse, die Sichtbarmachung der schlechten Lebensverhältnisse und die gelebten Alternativen. Speziell das Thema der öffentlichen Dienste, der Kämpfe gegen zu hohe Kosten der öffentlichen Güter und der desconexión (Abgeschlossenheit von Strom und anderer Infrastruktur) waren zuletzt zentral und sind durch verschiedene Proteste an die Öffentlichkeit getragen worden. Die AktivistInnen organisieren Diskussionsforen und symbolische Aktionen vor dem Rathaus, verfassen Petitionen und organisieren eigene Projekte, etwa im Bereich der Anlegung von Gemeindegärten oder der selbst organisierten Bildungsarbeit. Zentrale Forderungen der Mesa Interbarrial sind der Schuldenerlass bei allen Haushalten, deren Wasser- und Stromzugänge gekappt worden sind, die Sicherstellung einer minimalen Versorgung mit Trinkwasser und Strom sowie der Anschluss der Armenviertel an die Kanalisation. Dies sei innerhalb des städtischen Budgets für Infrastrukturmaßnahmen gut leistbar, so das Forum.
Cárdenas Delgado betont im Zusammenhang des Kampfes um Teilhabe auch die Bedeutung der Kämpfe von AnarchistInnen, jungen Arbeitslosen und Homosexuellen und Lesben, auch wenn diese bislang nur schwach artikuliert seien.
Kämpfe gegen die neoliberale Stadtentwicklung, die durch eine Aufwertung insbesondere des Stadtkerns und Vertreibung und Kriminalisierung der armen BewohnerInnen gekennzeichnte ist, gibt es also nicht nur in den Metropolen der sogenannten Industriestaaten. Gerade in Auseinandersetzung mit diesen weltumspannenden Stadtphänomenen, das die Sozialwissenschaften als Gentrifizierung bezeichnen, könnten die Erfahrungen in Medellín – welche Organisationsprozesse an der Basis und Proteste selbstverständlich mit einbeziehen – ein wichtiger Bezugspunkt für „Kämpfe um das Recht auf Stadt“ an anderen Orten der Welt sein.
In Kolumbien wird dieses Thema im großen Rahmen diskutiert, zuletzt beim Kongress der Völker, bei dem sich im Oktober 2010 in Bogotá über 17.000 VertreterInnen der sozialen Bewegungen Kolumbiens trafen, um einen gemeinsamen Lebensplan als Alternative zum kapitalistischen Entwicklungsmodell und zum elitären und repressiven politischen System zu entwickeln.
Cárdenas Delgado hofft auf eine weitergehende Vernetzung des Widerstandes: „Unsere Türen stehen offen, um Vorschläge anzunehmen. Wir würden sie diskutieren, um neue Formen von Beziehungen zueinander zu schaffen.“ Dies wird angesichts der weltweit beschleunigten Gentrifizierungsprozesse auch notwendig sein.

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