Jamaika | Nummer 459/460 - Sept./Okt. 2012

Wir sind zwar klein, aber doch ganz groß

Jamaica feiert das 50. Jubiläum seiner Unabhängigkeit

Die Jubiläumsfeierlichkeiten im August wurden durch den Olympiaerfolg Usain Bolts noch befeuert. Doch der Freudentaumel überdeckt nur schwach die Probleme der jungen Demokratie.

Birte Timm

Am 6. August 1962 errang Jamaica als erste der britischen Karibikinseln die formale Unabhängigkeit vom Vereinten Königreich. Die Beziehungen zum »Mutterland« sind bis heute ambivalent. Doch in diesen Tagen überwiegt Optimismus, nicht zuletzt angesichts der grandiosen Siege der Sprinter_innen bei den Olympischen Spielen in London.
Selbst der Zeitplan von Olympia schien sich an Jamaicas Unabhängigkeitsdatum zu orientieren. Nachdem Sprinterin Shelly-Ann Fraser-Price, eine 25-Jährige aus einem Armenviertel der Hauptstadt, zwei Tage vor dem Tag der Unabhängigkeit im 100-Meter-Lauf der Frauen triumphierte, konnte nur noch ein Mann die Stimmung toppen: Usain „Lightning“ (Blitz) Bolt. Für ein paar Sekunden wurde Jamaicas Hauptstadt Kingston regelrecht lahmgelegt, als der derzeit populärste Jamaicaner mitten im Zentrum der ehemaligen Kolonialmacht der Welt erneut sein außergewöhnliches Talent zur Schau stellte: Olympiasieg in 9,63 Sekunden, schneller als in Peking 2008 und das am Vorabend des Unabhängigkeitstages. „Ich habe Euch gleich gesagt, ich werde dem Land etwas schenken, dies ist mein Geburtstagsgeschenk, herzlichen Glückwunsch Jamaica“, sagte der schnellste Mann der Welt nach dem Rennen.
Bolts´ Sieg am Vorabend des 6. August passte perfekt in die Szenerie: Zum 50. Jahrestag der nationalen Unabhängigkeit Jamaicas sind viele Gebäude in der Hauptstadt Kingston in den Nationalfarben schwarz-gold-grün geschmückt, Fahnen wehen am Himmel, die meisten Jamaicaner_innen tragen Outfits in den Farben des Landes, „Jamaica 50“-Accessoires aller Art lassen keinen Zweifel: Das Land ist in Feierstimmung. Die offiziellen Feierlichkeiten finden im „Golden Jubilee Village“ rund um das Nationalstadion statt, dem Ort an dem die jamaicanische Flagge am 6. August vor 50 Jahren zum ersten Mal gehisst wurde und an dem die über 300-jährige Kolonialherrschaft Großbritanniens ein Ende nahm.
Beflügelt von den olympischen Erfolgen feiern tausende Jamaicaner_innen ausgelassen und genießen die große Gala mit Auftritten beliebter Reggaekünstler, Tanzperformances, kulturellen und nicht zuletzt kulinarischen Highlights wie Curry Goat (Ziegencurry), Jerk Chicken (traditionell gewürztes Hühnchen) sowie Ackee and Saltfish (die Nationalspeise, eine proteinhaltige Frucht und Stockfisch).
Einige wenige Ausnahmen, wie etwa die angesehene jamaicanische Schriftstellerin und Historikerin Dr. Erna Brodber, äußern ihre Bedenken, dass Jamaica noch immer keinen richtigen Umgang mit seiner Freiheit gefunden hat. Sie plädiert im Fernsehen dafür, dass die Menschen sich nicht nur über das Erreichte freuen, sondern sich mehr mit den Missständen in der Gesellschaft, mehr mit ihrer Geschichte, Kultur und Herkunft beschäftigen sollten. Auch die Sänger_innen Tony Rebel und Queen Ifrica finden während ihres Auftrittes auf der offiziellen Gala nachdenkliche und kritische Worte.
Doch eine beunruhigende Grundstimmung war die Ausnahme rund um den Jubel der Unabhängigkeit. Es überwog der Optimismus, befeuert durch die Siege auf der Leichtathletikbahn. Das jamaicanische Sprichwort „we likkle but we tallawah“, („wir sind zwar klein, aber doch ganz groß“) beschreibt die Stimmung, das Gefühl, dass die kleine Karibikinsel zumindest in einer Hinsicht alle anderen in den Schatten stellen kann. Premierministerin Portia Simpson-Miller und ihre Parteikolleg_innen von der sozialdemokratischen People’s National Party (PNP), ebenso wie die Repräsentant_innen der Opposition, der Jamaica Labour Party (JLP) unterstreichen Jamaicas Verdienste und Errungenschaften. Wieder und wieder wird die Stabilität der jamaicanischen Demokratie beschworen, vergessen scheint die bittere Rivalität zwischen beiden Parteien, die im Vorfeld nahezu jeder Wahl in den vergangenen 50 Jahren zu Gewaltausbrüchen und erhöhten Mordraten führte. Nicht einmal der tropische Sturm „Ernesto“ konnte die ausgelassene Feierstimmung trüben. Fröhlich feiern Jung und Alt gemeinsam, wieder und wieder ertönt die offizielle Hymne zum 50. Jahrestag „On a mission“, gesungen von einigen der populärsten Sänger_innen der Insel – doch die Frage welche, Mission dies eigentlich ist, bleibt erst einmal offen.
Nach den Feierlichkeiten kehrte das Land schnell wieder zurück in die Realität, in der die Mehrzahl der Jamaicaner_innen mit den täglichen Herausforderungen kämpft, um die eigene Familie ernähren und die Kinder in die Schule schicken zu können.
Auch wenn die aktuelle weltweite Wirtschaftskrise und die politische Situation die Verhältnisse negativ beeinflussen, so liegen die Wurzeln für viele Probleme in der Vergangenheit. Sklaverei, Ausbeutung der Rohstoffe, tief in der Gesellschaft verwurzelter Rassismus und große Einkommens-ungleichheit in der Bevölkerung – die jahrhundertelange Kolonisierung hat in den jungen, postkolonialen Gesellschaften in der Region Spuren hinterlassen. Das nationale Motto „Out of Many One People“ (Aus vielen Völkern ein Volk) ist bis heute umstritten und erscheint eher als Wunschdenken, denn als Realität. Es sollte der Homogenisierung der Bevölkerung dienen, die überwiegend aus Nachkommen der versklavten Afrikaner_innen, aber auch aus den Nachkommen der indischen Vertragsarbeiter_innen, der Migrant_innen aus dem arabischen und asiatischen Raum sowie einer kleinen europäischen Minderheit besteht. Oft wird unterstellt, dass das Motto von Anfang an dazu diente, über die bis heute existierenden rassistischen Diskriminierungen hinwegzutäuschen. Tatsächlich besteht die Gesellschaftsordnung mit einer kleinen, überwiegend „weißen“ Oberschicht, einer „braunen“ Mittelschicht und einer überwiegend „schwarzen“ Unterschicht in den Grundzügen bis heute. Die Spaltung der Gesellschaft drückt sich heute in den Begriffen von „Uptown“ und „Downtown“ aus, die meisten Stadtviertel sind relativ eindeutig der einen oder der anderen sozialen Schicht zuzuordnen, auch wenn nicht alle Armenviertel wirklich im Süden der Stadt, in Downtown, gelegen sind.
Die lange Zeit der Fremdherrschaft hatte starke Auswirkungen auf die Psyche der Menschen. Viele Jamaicaner_innen verinnerlichten die rassistischen Stereotype sowie die Propaganda der Briten und fühlten sich als Teil des glorreichen Britischen Empires, weshalb es im Land selbst viele Jahre kein starkes Verlangen nach politischer Eigenständigkeit gab. Viele Jamaicaner_innen glaubten der paternalistischen Einschätzung der Engländer_innen, dass das Land nicht in der Lage sei, sich selbst zu regieren. Es ist daher kein Zufall, dass die Forderung nach Unabhängigkeit und der Gründung einer politischen Organisation nicht im Land selbst entstand, sondern 1936 in radikalen Kreisen jamaicanischer Emigrant_innen in Harlem, auf Initiative W. Adolphe Roberts. Der Historiker, Journalist, Schriftsteller und Verehrer der lateinamerikanischen und karibischen Nachbarländer, die seit Jahrhunderten ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten, fand in Harlem Unterstützung für seine Idee, die antikoloniale Organisation „Jamaica Progressive League“ (JPL) zu gründen. 1937 riefen Jamaicaner_innen in Kingston eine Partnerorganisation ins Leben, die jedoch in Radikalismus und Einfluss hinter der JPL in New York zurückblieb. Auch wenn die Ideen große Auswirkungen auf die entstehende politische Landschaft in Jamaica und insbesondere auf die PNP und ihren Gründer Norman W. Manley hatten, blieb eine starke anti-koloniale Bewegung in Jamaica aus.
Der Zweite Weltkrieg verlangsamte die Entwicklung der jungen politischen Szene. Nach der Schwächung durch den Krieg änderte Großbritannien seine Politik gegenüber den Kolonien in der Karibik und machte Zugeständnisse an die wachsende Supermacht USA, die ihre ökonomischen und militärischen Interessen in der Region geltend machte. Die beiden Großmächte einigten sich auf ein Modell, das die Kolonien in der „West Indies Federation“ zusammenschloss, die langsam als unabhängiger Nationalstaat in die politische Unabhängigkeit entlassen werden sollte. Nach zähen Verhandlungen und vielen Schwierigkeiten wurde die Föderation 1958 Realität, doch die Streitigkeiten zwischen den ungleichen Partnerländern, die zum Teil viele tausend Kilometer voneinander entfernt sind, wollten kein Ende nehmen. Während die PNP an dem Konzept festhielt, änderte die JLP unter Alexander Bustamante ihren Kurs und stieg auf eine nationalistische Agitation ein. Als der amtierende Premier Manley schließlich ein Referendum ausrief, um über den Verbleib in der Föderation zu entscheiden, stimmten 54 Prozent dagegen. Großbritannien entließ mit knirschenden Zähnen Jamaica und Trinidad & Tobago 1962 in die Unabhängigkeit, während die kleineren Inseln zunächst im Britischen Empire verblieben.
Die postkoloniale Herausbildung unabhängiger Nationen in den Karibikstaaten war von großen Herausforderungen geprägt: ökonomische Schwierigkeiten, soziale Spannungen, politische Konflikte, die geographische Nähe zu den USA. In Jamaica machen es der Drogen- und Waffenhandel und ein auf Klientelismus beruhendes Zwei-Parteiensystem schwer, zu einer positiven Identität und einer stabilen Gesellschaftsordnung zu gelangen. Die auf dem Papier stabile Demokratie garantiert demnach keine friedlichen und fairen Wahlen und die innerstädtischen Armenviertel, die songenannten Garrisons, unterstehen der Kontrolle der Drogenbarone. Organisierte Kriminalität ist dort tagtägliche Realität und unkontrollierbar geworden.
Das wurde zuletzt im Mai 2010 bei der Suche nach dem mutmaßlichen Drogenhändler Christopher „Dudus“ Coke deutlich, als über 70 Menschen der Polizeirazzia zum Opfer fielen.
Die ersten 50 Jahre als eigenständiger Staat und die allgemeine weltwirtschaftliche Krisenlage zeichnen kein allzu rosiges Bild von Jamaica. Für die Jamaicaner_innen ist das freilich kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Durch bessere Bildungschancen für alle gesellschaftlichen Schichten, kreative Ideen, Selbstbewusstsein und Innovationen kann es einer neuen Generation gelingen, die Nachwirkungen von Sklaverei, Kolonialismus und neokolonialen Strukturen einzudämmen. Die Zukunft positiver zu gestalten, wird indes sicher kein leichter Weg.

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