Argentinien | Nummer 481/482 - Juli/August 2014

„Wir suchen Dich seit 10 Weltmeisterschaften”

Menschenrechtsorganisationen sind noch immer auf der Suche nach der Identität von 400 Kindern von Verschwundenen der Militärdiktatur

Während der argentinischen Militärdiktatur wurden etwa 500 Kinder von verschleppten und inhaftierten Oppositionellen geraubt und in regimetreue Familien gegeben. Ihrer Identität beraubt und ohne Kenntnis der wahren familiären Hintergründe wuchsen sie in Adoptivfamilien auf. Mit Hilfe von großen Kampagnen der Organisationen der Mütter und Großmütter und Kinder der Verschwundenen sind bis heute erst 114 Fälle aufgeklärt.

Nikolai Andersson

Die Großmütter der Plaza de Mayo hatten Grund zur Freude, als Ende Juni mit Ricardo Luis Von Kyaw ein seit vier Jahren per Haftbefehl gesuchter Militärverbrecher der argentinischen Justiz übergeben wurde. Die Flucht des 66-Jährigen fand an der Grenze Panamas ein Ende, wo er wegen gefälschter Ausweispapiere festgesetzt wurde. Von Kyaw, Geheimdienstoffizier während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983, werden Verbrechen gegen die Menschheit vorgeworfen. Besonders schwer wiegt sein Wirken in dem klandestinen Gefängnis und Folterzentrum La Cacha in der Provinz Buenos Aires. Konkret wird er für das Verschwindenlassen von 137 Personen angeklagt. Zudem wird ihm die Verwicklung in Kindesraub vorgeworfen, so wie im Fall Sebastián Casado Tasca.
Jener Casado Tasca fungiert in den Zählungen der Großmütter-Organisation als Enkel Nummer 82. Im Jahr 2006 wurde seine wahre Identität „wiederhergestellt“ – wie es im lokalen Sprachgebrauch heißt. Der nieto restituido (zurückgewonnener Enkel) war im März 1978 in Gefangenschaft geboren worden. Seine Eltern, oppositionelle Jurastudierende aus La Plata, wurden Ende 1977 entführt und verschwunden gelassen – ihre Leichen sind bis heute nicht gefunden. Ihr Sohn wurde kurz nach der Geburt an ein regimetreues Ehepaar übergeben und wuchs wie viele geraubte Kinder ohne Kenntnisse seines eigentlichen familiären Hintergrundes auf. In dem Gerichtsverfahren gegen Casado Tascas Adoptivmutter Silvia Molina und die Polizeimedizinerin, die seine Geburtsurkunde gefälscht hatte, gab der Enkel 82 zu Protokoll, er hätte sich nie vorstellen können, Sohn einer Verschwundenen zu sein – bis die ersten Zweifel aufkamen. Die Suche nach seiner wahren Herkunft begann im Jahr 2000, als er durch seine Schwester erfuhr, dass beide adoptiert waren. „Es ist ziemlich schwierig, nichts zu tun, wenn die ersten Zweifel aufkommen“, erinnert er sich auf der Webseite der Großmütter.
Casado Tascas Spurensuche begann mit wahllosen Internet-Suchanfragen. Es folgten Vergleiche der eigenen Gesichtszüge mit den Bildern von Verschwundenen. Schließlich wandte er sich an die Nationale Kommission für das Recht auf Identität (Conadi), wo ihm erst Fotos seiner vermuteten Eltern Caspar Casado und Adriana Tasca vorgelegt wurden und letztlich ein DNA-Test Klarheit brachte.
Der Fall des heute 36-Jährigen ist exemplarisch für die „wiedergewonnenen“ Enkel_innen. Sicher geglaubte Gewissheiten werden zur Makulatur. Das unhinterfragte Familienverhältnis wird von der Realität eingeholt. So drängt sich die Frage auf, inwieweit die sozialen Eltern am Tod der biologischen Eltern Verantwortung tragen. Für die „wiedergewonnenen“ Kinder ist das Finden der eigentlichen Identität in der Regel eine komplette Neudefinition der eigenen Person, die voller Widersprüche ist. In seiner Aussage unterstrich Casado Tasca, dass er durchaus eine affektive Bindung zu seiner Adoptivmutter verspüre, obwohl sie ihm seine Herkunft verschwiegen habe. Molina wurde unlängst zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt. Tascas Vater, dem als Gewerbetreibender eine Nähe zu den Mitgliedern des militärischen Geheimdienstes attestiert wird, ist bereits 2005 verstorben und wurde niemals zur Rechenschaft gezogen. Casado Tasca selbst gab an, dass er sich nicht nur seiner Eltern, sondern auch 27 Jahre seines Lebens beraubt fühle. Dennoch bemerkt er: „Meine Geschichte wiederzuerlangen war unglaublich. Meine biologische Familie zu finden ist das Schönste, was mir zeitlebens passiert ist.“
Auch im 37. Jahr ihres Bestehens wird die Vorsitzende der Großmütter der Plaza de Mayo, Estela de Carlotto, nicht müde zu betonen, dass immer noch 400 Enkel fehlen. Alle zwischen 1975 und 1980 Geborenen, die Zweifel an ihrer Identität haben, sind dazu aufgerufen, sich bei einer eigens geschalteten Hotline zu melden. Anlässlich der feierlichen Verkündung der jüngsten wiedergewonnenen Enkelin im Februar dieses Jahres, wies de Carlotto darauf hin, dass mit jedem weiteren entdeckten Enkelkind die Sichtbarkeit ihres Anliegens nach Gerechtigkeit, Verurteilung und Recht auf Identität steige.
Für die öffentliche Wahrnehmung sorgt aktuell ein in bester WM-Werbezeit ausgestrahlter TV-Spot der Organisation, in dem Lionel Messi die Suche nach den widerrechtlich angeeigneten Enkel_innen mit dem Ausspruch „Wir suchen dich seit 10 Weltmeisterschaften“ unterstützt. Der Menschenrechtsdiskurs ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Untrennbar verbunden ist er mit dem linksperonistischen Kirchnerismus, der seit der ersten Regierungsübernahme im Jahr 2003 die Weichen für eine veränderte Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit Argentiniens gestellt hat. Zahlreiche Enkelkinder bekleiden leitende Funktionen kirchneristischer Organisationen, der wohl bekannteste Vertreter ist Horacio Petragalla, der für das Parteienbündnis Frente para la Victoria der Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner im Abgeordnetenhaus sitzt. Dabei scheiden sich viele der Menschenrechtsorganisationen an der Frage, welche Haltung zum Kirchnerismus und seiner Kooptierungsstrategien (siehe LN 395) einzunehmen sei. Lediglich die Großmütter der Plaza de Mayo haben es bis dato vermeiden können, sich in einen regierungstreuen und einen oppositionellen Flügel zu spalten. Bei den Müttern der Plaza de Mayo und den Organisationen der Kinder der Verschwundenen konkurrieren regierungsnahe mit regierungskritischen Verbänden.
Der Politik Fernández de Kirchners und ihres verstorbenen Ehemanns Néstor muss trotz aller Kritik dabei zugute gehalten werden, dass die Menschenrechtspolitik mehr als reiner Diskurs ist. Die Justiz und die rechtlichen Vorgaben im Umgang mit Verbrechen gegen die Menschheit sind in den vergangenen elf Jahren systematisch umstrukturiert worden. Die kontinuierlichen Gerichtsprozesse und die langen Haftstrafen gegen Verantwortliche der Diktatur zeugen davon, dass die Justiz eine 180-Grad-Wende im Vergleich zum Versöhnungskurs der 1990er Jahre vollzogen hat: Zuvor hatte das sogenannte punto-final-, das„Schlussstrich“-Gesetz eine generelle Amnestie für alle Verbrechen der Diktatur eingeräumt. Harte Urteile gegen die damaligen Verantwortlichen sind heutzutage hingegen alltägliche Nachrichten. Erst kürzlich wurde mit Luciano Menéndez ein Ex-General zu lebenslanger Haft verurteilt, der für das Attentat auf den befreiungstheologischen Bischof Enrique Angelelli im Jahr 1976 verantwortlich war.
Die effektivere Strafverfolgung hat auch dazu geführt, dass die Bewegung viel ihrer Radikalität verloren hat. Konfrontative Aktionsformen wie die großen escraches, öffentliche Denunzierungen von Verbrecher_innen der Militärdiktatur, sind durch Strafverfolgung ersetzt worden. In den Jahren, in denen es noch „keine Gerechtigkeit“ gab, waren sie einziges und notwendiges Mittel für die Organisationen der Angehörigen der Verschwundenen, um unbehelligt lebende Ex-Militärs für ihre Verbrechen während der Diktatur gesellschaftlich zu ächten.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren