Nummer 367 - Januar 2005 | Rassismus / Antirassismus

Wir und “die Anderen”

Rassismus in Argentinien

Rassismus ist nach wie vor alltäglich in Argentinien. Die Einwanderungspolitik des Landes war von jeher darauf bedacht, die Gesellschaft zu “europäisieren”, um so den Traum von einer “weißen Nation” zu verwirklichen. Besonders MigrantInnen aus Bolivien und Peru sind heute Zielscheibe ausländerfeindlicher Ressentiments. Es haben sich aber auch andere Kategorien der Diskriminierung etabliert, die sogar von ihren Opfern reproduziert werden.

Emilio Ruchansky

Argentinien gilt als weltoffenes Land, das EinwandererInnen aus aller Welt stets mit offenen Armen empfangen hat. Wenige ArgentinierInnen erkennen an, dass es Rassismus in ihrem Land gibt. Dass jedoch der Rassismus nach dem Ende von Kolonialherrschaft und Sklaverei keineswegs überwunden war, beweist das Ziel der intellektuellen Eliten des 19. Jahrhunderts eine Nation zu schaffen, die aus einem „homogenen Volk” bestehen sollte, katholisch, weiß und spanischsprachig. Theorien, die die Einteilung und Hierarchisierung von Menschen nach biologischen Merkmalen auf eine pseudo-wissenschaftliche Grundlage stellten, erfreuten sich großer Beliebtheit. Einige dieser Vorstellungen haben bis heute überlebt. Inzwischen haben sich auch andere Kategorien der Diskriminierung etabliert, die den Rassismus aufrechterhalten und fester Bestandteil des Alltags sind.
Es wird gesagt, dass man weiß, blond, blauäugig und reich sein muss, um nicht diskriminiert zu werden, aber wieviele Menschen erfüllen schon diese Kriterien in Argentinien? Das heißt nicht, dass in Argentinien nur die Reichen und die Weißen Rassisten sind. Da alle, besonders durch die Sprache, den Rassismus täglich reproduzieren, sind auch alle Teil des Problems. Alle, ob Indígenas, arme Weiße, Schwarze, cartoner@s, Homosexuelle, BolivianerInnen, PeruanerInnen, Dicke, Arbeitslose, Kinder, Frauen oder Rentner, sind Opfer der Diskriminierung und tragen gleichzeitig zur Aufrechterhaltung der Ressentiments bei.

„Alles Bolivianer!”
Der Fußball ist beispielhaft für die Reproduktion des Rassismus durch seine Opfer. Der Polizist verprügelt den Fan, der ins Stadion geht, weil er „dreckig und faul” ist, danach schreit derselbe Fan von der Tribüne: „Bostero (Müllfresser, Bezeichnung für Boca-Fans), du ekelst mich an! Geh doch endlich nach Bolivien, wo deine ganze Familie wohnt! Wie widerlich Bostero und Bolivianer zu sein, die jeden Drecksjob machen, die schwul sind und deren Schwestern Nutten sind!” Dieser beliebte Fußballgesang spielt darauf an, dass der Club Boca besonders viele AnhängerInnen unter den bolivianischen MigrantInnen habe, die auf Grund ihrer Herkunft aus dem ärmsten Land Südamerikas mit Schmutz, Armut und Elend in Verbindung gebracht werden. Doch nicht nur die Fans sorgen für die Verbreitung von derlei rassistischen Vorurteilen. Im Jahr 2002 wurde in der Sportzeitschrift Olé ein Interview mit Alfredo Davicce, dem Ex-Präsidenten des Fußballclubs River Plate, veröffentlicht, in dem er behauptete, dass die Fangemeinde des wichtigsten Rivalen Boca nur größer sei, wenn man die Ausländer mitzähle: “In den villas (Armenviertel) leben mindestens 50 Prozent Bolivianer. Fast alle haben keine Aufenthaltserlaubnis und sind Boca-Fans. Das bedeutet, dass wir bei der Frage, wer mehr Anhänger hat, genau schauen müssen, über wen wir überhaupt reden.” Wenige Tage später reichten VertreterInnen der bolivianischen Gemeinde Beschwerde beim Richter Rodolfo Canicoba Corral ein. Die Äußerungen von Davicce seien zutiefst diskriminierend, da sie unterstellten, dass die Anhängerschaft von River der von Boca überlegen sei, da sie mehrheitlich aus argentinischen StaatsbürgerInnen bestehe. Die Anzeige wurde im Bundesgericht verhandelt, aber der Richter kam zu dem Schluss, dass die Äußerungen nicht rassistisch seien, womit das Thema erledigt war. Es konnte also nicht verwundern, dass auch die Spieler von Independiente nach dem Gewinn der Meisterschaft in der Umkleidekabine Lieder gegen „negros aus Bolivien und Paraguay” anstimmten. All das war live im Fernsehen zu verfolgen. Wiederum wurde von bolivianischen Organisationen eine Beschwerde eingereicht – diesmal beim argentinischen Fußballverband. Auch dieses Mal gab es keinerlei Konsequenzen.

„Koreaner kochen Katzen”
In Zeiten der sozialen Unsicherheit sind in Argentinien die EinwandererInnen die ersten Opfer rassistischer Diskriminierung. BolivianerInnen und PeruanerInnen stellen den größten Anteil der MigrantInnen und sind deswegen auch am stärksten von ausländerfeindlichen Ressentiments und Übergriffen betroffen. Die soziale Kategorisierung der MigrantInnen findet über sprachliche Mittel wie Redewendungen, Sprichwörter und Ausdrücke statt, die das vorhandene Weltbild der Menschen bestätigen und verfestigen. Damit ist die Sprache nicht nur ein Spiegel der sozialen Realität, sondern auch ein wesentlicher Faktor für die Aufrechterhaltung des status quo.
Die verschiedenen Stereotypen von MigrantInnen basieren zumeist auf Unwissenheit und liefern Deutungsmuster für das Unbekannte. In Buenos Aires gibt es für jede ausländische Gemeinde eine Vielzahl von Vorurteilen. Die KoreanerInnen „kochen Katzen”, „sind alle gleich”, sie sind gewalttätig, verschlossen und natürlich Drogenhändler. Die BolivianerInnen und PeruanerInnen, für die meisten macht das keinen Unterschied, werden gefürchtet und man wechselt lieber die Straßenseite, wenn man einer/m begegnet. Es ist immer noch alltäglich, Sätze zu hören wie: „Die bolitas (BolivianerInnen) arbeiten für zwei Pesos und nehmen uns die Jobs weg.” Dahinter steckt einerseits die ständige Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, aber auch die allgemeine Geringschätzung gegenüber MigrantInnen aus den Nachbarländern. Die ChilenInnen sind „die Erbfeinde”, die ParaguayerInnen sind „Hausangestellte oder Klempner”. Bei BrasilianerInnen denkt man an unterhaltsame negros und sympathische negras. Auch heute noch gelten Schwarze als exotische Persönlichkeiten. Die einzigen AusländerInnen, die man gerne sieht, sind TouristInnen, wenn es Weiße sind, umso besser, wenn sie Geld haben: „Willkommen!”
Auch in Argentinien gibt es eine lange Tradition der Ausgrenzung des „Anderen”. Das „Andere” wurde im Laufe der Geschichte von verschiedenen Gruppierungen verkörpert: erst waren es die indígenas und negros, in den 60ern und 70ern waren es die „Subversiven” und heute sind es die neuen MigrantInnen. So schrieb der Intellektuelle Joaquín V. Gonzalez um 1900: „Als die nicht assimilierbaren Faktoren, negros und indios, eliminiert waren, blieben noch die Mestizen übrig. Gleichzeitig hat die Evolution aber das kreolische Blut hervorgebracht, welches auch europäisch ist. Aus diesem wird die nationale Ethnie geschaffen sein, die eine reine Herkunft hat. Der große ökonomische Vorteil, den diese Entwicklung hat, liegt auf der Hand. Als die degenerierten und korrupten Elemente beseitigt waren, die Schwäche, Erschöpfung, Unfähigkeit zur produktiven Arbeit und mangelnde Widerstandskraft verkörperten, war das Resultat ein Volk reinen weißen Blutes, das sich durch mentale Stärke, Arbeitskraft, Energie und Wille auszeichnet. So konnte Argentinien in den Kreis der wichtigsten Kulturnationen aufsteigen.”

„Schädliche Ausländer abschieben!”
Etwas später gaben die unter den europäischen EinwandererInnen zahlreich vertretenen SozialistInnen und AnarchistInnen großen Anlass zur Sorge um die Reinheit der „nationalen Ethnie”. „Wir müssen uns offensiv der Aufgabe stellen, das Land mit Hilfe von Ausweisungen zu säubern. Das nationale Bewusstsein erfordert die Abschiebung von schädlichen Ausländern in ihre Herkunftsländer”, sagte der bedeutende Schriftsteller Leopoldo Lugones in einer Rede, in der er die Geschichte des Gauchos Martín Fierro von José Hernández als authentisches Beispiel „nationalen Seins” der Bedrohung durch die AusländerInnen gegenüberstellte.
Der Staat hatte immer einen großen Anteil an der Diskriminierung von MigrantInnen. Enrique Oteiza, Sprecher des Instituto Nacional contra la Discriminación (Inadi), bestätigte dies kürzlich: „Die Einwanderungsbehörde muss dringend reformiert, die Angestellten müssen umgeschult werden. Die Behörde ist stark von 100 Jahren politischer Verfolgung und Rassismus geprägt.” Erst 20 Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie wurde das bis vor einem Jahr gültige „Videla-Gesetz” außer Kraft gesetzt, welches während der Diktatur eingeführt worden war. Besagtes Gesetz verpflichtete sowohl ÄrztInnen als auch LehrerInnen dazu, jeden Fall von illegaler Einwanderung bei den Behörden zu melden, die sich dann um die Abschiebung kümmerten. „Paradoxerweise führt oft gerade der Wille der Menschen ihre Situation zu legalisieren zur Abschiebung. Sie gehen zur Einwanderungsbehörde und versuchen die Formalitäten zu klären, dort erwarten sie teilweise unüberwindbare bürokratische Schwierigkeiten oder unbezahlbare Kosten, die sich auf mehr als 2500 US-Dollar für eine vierköpfige Familie belaufen. Wenn der/die AntragstellerIn irgendwann aufgibt, lässt ihn die Einwanderungsbehörde festnehmen und abschieben”, erklärt der Anwalt Diego Morales, der sich im Centro de Estudios Legales y Sociales (Zentrum für juristische und soziale Studien) um MigrantInnen kümmert.
Der Rassismus hat heutzutage eine verstärkt ökonomische Dimension, die sich unter anderem in dem Ausschluss bestimmter gesellschaftlicher Gruppen von medizinischer Versorgung und Zugang zu Bildungseinrichtungen manifestiert. Im Argentinien des 21. Jahrhunderts diskriminiert man aber auch auf Grund von Kleidung, Sprechweisen, Wohnort, Konsumverhalten, Fernsehanschluss und Musikgeschmack. Wer Rock oder Techno hört, verachtet natürlich die Cumbia-HörerInnen, die besonders in den ärmeren Schichten zu finden sind: „Die Leute die Cumbia hören sind alle ein paar Scheißschwarze, villeros (SlumbewohnerInnen), Dreckschweine.”

Übersetzung: Matti Steinitz

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