Chile | Nummer 430 - April 2010

„Wir warten vergeblich auf Hilfe“

Interview mit Miguel Cheuqueman, dem Sprecher einer Mapuche-Organisation

Das Erdbeben in Chile hat die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert. Viele Mapuche-Gemeinden in den betroffenen Regionen haben alles verloren. Die LN sprachen mit Miguel Gerardo Cheuqueman Vargas, dem Sprecher der Identidad Territorial Lafkenche, einer Organisation der in der Küstenregion lebenden Mapuche, den Lafkenche.

Interview: Ulrike Steckkönig

Die Küstenregion, in der die Lafkenche leben, ist durch das Erdbeben und den Tsunami stark betroffen. Was sind die schwersten Auswirkungen der Katastrophe?
Das Erdbeben richtete in den Regionen Bío-Bío, Araucania und de los Lagos großen Schaden an, am schwersten traf es die Küste in der Region Bío-Bío. Die schlimmste Folge sind immer Todesopfer. Aber viele Menschen haben auch ihre Häuser verloren, und damit auch die Möglichkeit, Nahrung zuzubereiten, ihre Heizung, die Werkzeuge für ihre Arbeit und alles, was für das Leben in der Gemeinschaft notwendig ist.

Ist auch die Infrastruktur beschädigt, und was ist mit der Gesundheitsversorgung?
Momentan sind die meisten Praxen außer Betrieb und einige Gesundheitsposten werden als Leichenhallen oder als Notunterkünfte benutzt.

Wie ist die Situation der dort lebenden Menschen jetzt? Mit welchen Problemen sind sie konfrontiert?
Die wichtigsten Probleme sind das Fehlen von Nahrungsmitteln, Strom, Trinkwasser, Unterkünften und Straßenverbindungen.

Der chilenische Staat und die großen Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz haben viele Spenden von ChilenInnen und aus dem Ausland erhalten und organisieren jetzt die Hilfe für die Erdbebenopfer. Haben Sie schon Unterstützung erhalten?
Diese Hilfen erhalten nur Personen, die in den Städten wohnen oder in den Gemeinden, in denen die Kommunalverwaltung ihren Sitz hat. Die Leute in den ländlichen Gebieten und den kleinen Fischersiedlungen bekommen nichts.

Wie verhalten sich Polizei und Militär? Helfen sie den Erdbebenopfern oder gibt es Konflikte?
In Mapuchegebieten gibt es immer Probleme wegen der Art und Weise, wie die Mapuche ihre Autonomie verstehen. Aber im Moment sind die Militärs nur damit beschäftigt, die Einhaltung der Ausgangssperre zu kontrollieren, um die Besitztümer der Mächtigen zu beschützen. Sie sollten besser beim Wiederaufbau mithelfen.

Es heißt, viele Menschen aus den Küstengebieten, die alles verloren haben, sind nun zu anderen Familien in die Berge geflüchtet, die selbst arm sind und von den Folgen des Erdbebens betroffen. Wie werden sie den Winter überleben?
Wir hoffen, dass sich die Lage bis zum Winter gebessert hat. Aber das kann nur funktionieren, wenn die Regierung dafür sorgt, dass Hilfe in diese Orte kommt, wenn sie die Ausgangssperre aufhebt und wenn die Streitkräfte mit den Leuten beim Wiederaufbau zusammenarbeiten.

Die Organisation Identidad Territorial Lafkenche hat auch eine eigene Hilfsaktion initiiert. Was machen Sie und was haben Sie bisher erreicht?
Seit dem ersten Tag arbeitet unsere Organisation daran, dass unseren Leuten geholfen wird, aber die Zeit vergeht und noch immer warten wir vergeblich auf Hilfe und die Regierung zeigt auch kein großes Interesse daran, uns Hilfe zukommen zu lassen. Deshalb wird es jetzt immer dringender, Nahrungsmittel, Holz, Zinkbleche, Nägel und Arbeitsmaterialien für den Neuanfang zu besorgen.
Ich glaube, wir kommen gut voran. Wir waren in allen Gemeinschaften und haben eine Bestandsaufnahme der Schäden gemacht, die wir an die Regierung gesendet haben. Wir haben das Nötigste beschafft, damit unsere Brüder und Schwestern überleben. Aber es ist nie genug und die Solidarität lässt auch schon nach – und der Winter steht vor der Tür.

Können wir von Europa aus helfen?
Ja, natürlich, auf verschiedene Art und Weise.Durch finanzielle Hilfe für den Kauf von Lebensmitteln, für Baumaterialien, um Häuser wiederaufzubauen und für Arbeitsgeräte. Freiwillige für Wiederaufbauarbeiten, Untersuchungen des Meeresbodens, um den Zustand der Muschelbänke zu stabilisieren, Untersuchungen in den Küstengebieten, um die geeignetsten Orte für den Wiederaufbau zu finden, Kinderbetreuung für die betroffenen Gemeinden, Schaffung von Systemen zur nachhaltigen Energieerzeugung, all das kann helfen.

Welches Fazit ziehen Sie? Was bedeutet das Erdbeben aus Sicht der Lafkenche?
Für uns, die Mapuche Lafkenche war das, was am 27. Februar geschehen ist, ein Rat, den uns das Meer gab, wegen der großen Verschmutzung und Ausbeutung, die die Menschheit dem Meer angetan hat. Wir als eine antike Kultur, die laut der archäologischen Fundstätte von Monteverde dieses Gebiet seit mindestens 14.000 Jahren besiedeln, können diese Zeichen verstehen und deuten. Wir bedauern es nur, dass die unreife und grausame chilenische Gesellschaft nicht fähig ist, auf uns zu hören und nicht versteht, was wir sagen.

KASTEN:
Identidad Territorial LafkenchE
Lafkenche ist der Name der Mapuche, die in der Küstenregion leben. Die Organisation Identidad Territorial Lafkenche existiert seit 1992 und repräsentiert 1500 Mapuche-Reservate der Küstenregion vom Golf von Arauco in der Region Bío-Bío bis Puerto Aisen in der Region General Carlos Ibañez del Campo. // Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist der Versuch, Landnutzungsrechte und Fischereirechte zurückzugewinnen. Einer der größten Erfolge war das Gesetz Nr. 20.249, das den Lafkenche das Recht zurückgibt, das Meer zu nutzen. Diese wichtige Lebensgrundlage war ihnen durch das Fischereigesetz von 1991 weggenommen worden. // Die Wiedererlangung ihrer Landrechte und der Schutz der Küstenzone vor Umweltzerstörung sind zentrale Ziele der Identidad Territorial Lafkenche. Aktuell setzt sie sich für einen Gesetzentwurf ein, mit dem ein geschützter Küstenbereich der indigenen Völker errichtet werden soll. Mehr Information über die Organisation unter www.identidadlafkenche.cl

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