Brasilien | Nummer 471/472 - Sept./Okt. 2013

„Wo sollen wir hin, wenn sie uns hier vertreiben?“

Sexarbeiter_innen sollen an den WM-Austragungsorten aus dem öffentlichen Raum verschwinden

Im Vorfeld der in Brasilien anstehenden Spiele werden Prostituierte entweder als Täter_innen stigmatisiert oder sie werden als Opfer dargestellt, die von Menschenhandel betroffen sind und geschützt werden müssen. Gegen diese Pauschalisierungen setzen sich die Sexarbeiter_innen nun zur Wehr.

Friederike Strack

Rio de Janeiro, Zentrum, bei dem Hotel Paris stehen die Fenster offen. Früher nahmen in diesem stadtbekannten Etablissement Prostituierte ihre Kunden mit auf die Zimmer. Seit drei Jahren steht das ehemalige fünfstöckige Stundenhotel im Belle Époque-Stil leer. Zwei Franzosen haben es für den Schnäppchenpreis von 500.000 Euro gekauft. Diese planen dort das erste Fünf-Sterne Luxushotel in der Altstadt Rios zu eröffnen, unweit der beliebten Ausgehmeile von Lapa.
Den Unternehmern gehören bereits zwei Luxusvillenunterkünfte in der Südzone Rio de Janeiros mit Übernachtungspreisen für 300 Euro, nun wollen sie in der Innenstadt weitere Möglichkeiten für wohlhabende Tourist_innen schaffen.
Seit Jahren werden die Straßenzüge um das Hotel am Praça Tiradentes saniert. Genauso lange engagiert sich die Prostituiertenorganisation Davida (siehe LN 279/280 und 377), die ihren Sitz im Hotel Paris hatte, gegen die „Revitalisierung“ des Stadtteils und die Verdrängung der Prostituierten. Mit dem Anbringen der ersten Überwachungskameras bei einer Bankfiliale, die auch die Kneipen der traditionellen Rotlichtstraße filmt, verschwinden Prostituierte und Kunden zunehmend aus der einstigen Mischung aus Studenten_innen und Partygänger_innen. Trotz der Kulturoffensive mit eigener Karnevalsgruppe, den Modenschauen des Prostituiertenmodelabels Daspu und Ausstellungen von Grafittikünstler_innen in den Stundenhotels, setzt sich die Gentrifizierung wie in anderen Altstadtzentren brasilianischer Städte durch.
Seit dem Zuschlag der Männer-Fußballweltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele 2016 für Rio de Janeiro, möchte sich die Stadt von ihrer organisierten Seite zeigen. In diesem Zusammenhang können die zahlreichen „Hygienisierungs“-Maßnahmen gesehen werden. Wollte der Bürgermeister Eduardo Paes noch letztes Jahr den Verkauf der Kokosnüsse am Strand verbieten, was ihm aufgrund des Widerstandes der Bevölkerung nicht gelang, widmet er sich nun der Vertreibung von Sexarbeiter_innen aus dem öffentlichen Raum.
Im Zusammenspiel mit den Medien wird in der Öffentlichkeit die negative Stimmungsmache gegen Prostituierte angeheizt. Die Themen Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Kindern und Prostitution werden nicht differenziert, sondern in einen Topf geworfen. Entweder werden Sexarbeiter_innen als Täterinnen stigmatisiert, die ihre Kunden mit K.O.-Tropfen betäuben und ausrauben oder sie werden als Opfer dargestellt, die von Menschenhandel betroffen sind und geschützt werden müssen. Bei Razzien lässt sich die Polizei von Fernsehfilmteams begleiten, die alle Anwesenden abfilmen. Die Aufnahmen der Polizeirazzien, die im Fernsehen gezeigt werden, dienen zur öffentlichen Ächtung der Frauen. Dabei wird gegen die Wahrung der Persönlichkeitsrechte verstoßen, denn viele haben Kinder, die sie vor Vorurteilen und Diskriminierung schützen möchten.
Wenn der Schutz im Vordergrund stehen würde, drängt sich die Frage auf, warum die alteingesessene Diskothek Help an der Copacabana geschlossen wurde. Im Januar 2010 wurde die Disco von Rios Gouverneur, Sergio Cabral, enteignet und geschlossen, um dort das Museum für Bild und Ton zu errichten. Nun steht dort seit über drei Jahren ein mit Graffiti bemalter Bauzaun. Es gibt keine Anzeichen irgendeiner beginnenden Bautätigkeit. Hier war der Treffpunkt von Sexarbeiter_innen mit Tourist_innen aus anderen Ländern. Die Sexarbeiter_innen waren dort selbstständig tätig und konnten sich ihre Kunden aussuchen. Für alle galt das gleiche Eintrittsgeld, die Frauen konnten unabhängig mit ihren Kunden verhandeln und behielten den gesamten Verdienst für sich.
In Folge der Schließung beeilten sich umliegende Restaurants, Maßnahmen zu ergreifen, um nicht als Kontaktplatz zu dienen. „Die Restaurants stellen Pflanzentöpfe um ihre Tische auf dem Bürgersteig auf, damit wir potentielle Kunden nicht ansprechen. Und dann wurden Sicherheitsleute angestellt, die uns daran hinderten, die Restaurants zu betreten“, beklagt sich eine Sexarbeiterin.
Viele der Sexarbeiter_innen sind zum anderen Ende der Copacabana an den Praça Lido gezogen. Insbesondere das Café Balcony bekam Zuwachs, da hier Prostituierte die Kontrolle über ihre Arbeitsbedingungen haben, wie eine der Frauen hervorhebt: „Ich habe Männer abgelehnt, die mich haben wollten, aber mit denen ich nicht gehen wollte. Wenn ich nicht arbeite, kann ich mit Freunden reden.“
Auch der Umbau des Hafenviertels durch das Großprojekt „Porto Maravilha“ ist ein weiteres Prestigeobjekt, bei dem die Prostituierten nicht integriert wurden. Schon wieder stehen sie dem Bau eines Museums im Wege. Das Museum der Zukunft soll auf die Hafenpier am Praça Mauá gebaut werden. Mit der kommerziellen Stadtumstrukturierung haben hier nach und nach die Nachtklubs, die früher von den Matrosen frequentiert wurden, geschlossen. Nur der Club Kalesa existiert noch als hipper Partyclub, allerdings jetzt für ein anderes Klientel.
Urbane Umstrukturierungen für sportlichen Groß­ereignisse werden auch an anderen Austragungsorten der Fußball-WM in Brasilien durchgeführt. Anfang August wurden in Manaus 16 Stundenhotels in der Altstadt von 200 Militärpolizisten, die mit Maschinengewehren die Zimmer stürmten, durchsucht. Die Polizeioperation „Sicheres Zentrum“ versiegelte alle Lokale. Die Stadtregierung hat die Enteignung der Hotels angekündigt, um die Stadt von dem „sozialen Makel“ der Prostitution zu befreien und die Sanierung der Innenstadt voranzutreiben.
Gleiches ist in Recife geplant. Laut Nanci Feijó, von der Sexarbeiterinnenorganisation Pernambucos APPS, gab es dort im März eine öffentliche Anhörung über den Vorschlag, Straßenbewohner_innen und Prostituierte aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. Daher bieten die Frauen von APPS Aufklärungsarbeit unter den Kolleg_innen an und planen, Polizeiaktionen zu dokumentieren und anzuzeigen, wenn es zu Verletzungen ihrer Rechte kommen sollte.
In Belo Horizonte dagegen wurden die Vertreterinnen von Aprosmig, der Prostituiertenorganisation des Bundesstaates Minas Gerais, nicht in die Gespräche einbezogen. Sie befürchten durch den Bau eines neuen Hotels, dass sie von ihren anliegenden Arbeitsplätzen vertrieben werden. „Wo sollen wir hin, wenn sie uns hier vertreiben?“, fragt die Aprosmig-Vorsitzende Cida Vieira. „Wir kämpfen für das Recht, hierzubleiben und respektiert zu werden“, empört sie sich und fügt hinzu: „Wir haben schon den Vorschlag einer öffentlichen Anhörung gemacht, zusammen mit der Bewegung von anderen, die durch die WM ausgeschlossen werden.“
Die Sexarbeiterinnen aber gingen in die Offensive. Sie beschlossen, sich auch ein Stück von dem WM-Kuchen abzuschneiden: Kostenlose Englisch-, Französisch- und Spanischkurse werden den Kolleginnen angeboten, die nun die Schulbank drücken, um auch den spezifischen Wortschatz für ihr Gewerbe zu lernen. „Täglich haben wir Kontakt zu Ausländern auf der Straße und in den Clubs“, betont Cida Vieira die Bedeutung der Professionalisierung durch den Spracherwerb. „Wir wollen uns fortbilden, um eine bessere Dienstleistung anzubieten.“
Allerdings zeigen die Erfahrungen der WM in Deutschland und in Südafrika, dass der erhoffte Anstieg von Kunden und damit ein größerer Verdienst oft nicht eintrifft. Die Fußballfans von heute besuchen seltener Bordelle, wie verschiedene Studien zeigten. In Brasilien sollen nun die Tourist_innen schon bei der Einreise in Brasilien verschreckt werden. An der Migrationskontrolle der Flughäfen in Recife und Salvador hängen die Plakate der Staatsanwaltschaft für Arbeit, die einen Mann hinter Gittern zeigen. Den ankommenden Tourist_innen wird gleich verdeutlicht, dass die brasilianische Gastfreundschaft Grenzen hat: „Wenn Du nach Sextourismus Ausschau hältst, haben wir bereits das beste Zimmer der Stadt reserviert“, ist die aufgedruckte Botschaft. Die Zielsetzung der Kampagne, Kinder vor sexueller Ausbeutung zu schützen, steht nur im Kleingedruckten. Stattdessen wird der Anschein erweckt, dass Prostitution in Brasilien illegal sei. Dies ist nicht der Fall.
Aber die Regierung stuft Sextourismus als Gefahr für die öffentliche Sicherheit ein. Im August dieses Jahres wurde im offiziellen Amtsblatt erklärt, wie unter anderem um „harmonische und friedliche Spiele“ zu garantieren seien. Die Lösung: mit Hilfe des brasilianischen Geheimdienstes ABIN wird der Sextourismus als Gefahrenrisiko analysiert – und mit Terrorismus und Organisierter Kriminalität gleichgestellt.
Da kommt der Gesetzesentwurf des Parlaments­abgeordneten Jean Wyllys von der linken Partei PSOL zur Regulierung der Prostitution, den er 2012 im Parlament eingereicht hat, rechtzeitig, um die Debatte vor der WM anzustoßen. Mit Beratung durch das Brasilianische Prostituiertennetzwerkes wird hier definiert, dass Sexarbeiter_innen nach 25 Jahren Tätigkeit die Rente beantragen können und die Arbeitsstätten legalisiert werden. Wyllys erinnert daran, dass die Prostitu­tion bei der WM 2006 in Deutschland zuvor als Beruf anerkannt wurde und dies zu keiner Erhöhung des Menschenhandels geführt hat, wie selbst Polizei-Studien ergeben haben. Auch in Südafrika wurde über eine Legalisierung diskutiert, aber nicht umgesetzt.
„Wir wollen eine bewusste WM machen und den Moment nutzen, um eine Diskussion über die Rechte von Sexarbeiterinnen zu nutzen“, bekräftigt die Aktivistin Cida Vieira. Jedoch befindet sich der Gesetzesentwurf zur Begutachtung in der Menschenrechtskommission unter Vorsitz des evangelikalen Abgeordneten Marco Feliciano (siehe LN 466 und 469/470).
Dieser Gesetzesentwurf war auch Thema bei der Untersuchungskommission über Menschenhandel am 13. August in Brasília. Es wurde berichtet, wie Frauen in ihrer Bewegungsfreiheit gehindert wurden, als sie nach Angola reisen wollten. Allein der Verdacht, dass sie Opfer von Menschenhandel werden könnten, reichte aus, sie nicht ausreisen zu lassen.
Dies erinnert an den Versuch des EU-Kommissars für Justiz, Freiheit und Sicherheit, Franco Frattini, der zur Weltmeisterschaft 2006 Frauen aus Ländern, die des Menschenhandels verdächtigt wurden, nicht einreisen zu lassen, um den Menschenhandel zu verhindern. Dass derartige Präventivmaßnahmen die Bürgerrechte beschneiden, wird auch von der Organisation Global Alliance against Traffic in Women (GATTW) in ihrem Bericht „Was sind die Kosten eines Gerüchtes“ über Mythen und Fakten von Sportereignissen und Menschenhandel bestätigt.
Sowohl bei der Weltmeisterschaft in Deutschland, wie auch bei der in Südafrika, tauchte die These auf, dass zur WM 40.000 Frauen aus dem Ausland als Opfer von Menschenhandel „importiert“ würden, was von den Medien regelmäßig wiederholt wurde.
Bleibt die Frage offen, wann in Brasilien nun die Zahl 40.000 auftaucht, vor denen dann die renovierten Türen des Hotel Paris geschlossen werden müssen.

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