Nummer 299 - Mai 1999 | Uruguay

Zeit für neue Rezepte

Bei den Vorwahlen in Uruguay rechnet sich das Linksbündnis gute Chancen aus

Die Krise des brasilianischen Real und die Auseinandersetzung über den Umgang mit der Vergangenheit während der Militärdiktaturen in Argentinien und Chile haben die aktuelle Entwicklung in Uruguay aus dem Blickfeld geraten lassen. Dabei hat in Uruguay ein breites Bündnis aus verschiedenen Linksparteien in diesem Jahr eine reelle Chance, die Regierung zu stellen. Es wäre derzeit die einzige in Lateinamerika. Eine Vorentscheidung für den Wahlgang im Oktober fällt am letzten Sonntag im April.

Stefan Thimmel

An diesem Tag können die UruguayerInnen die Kandidaten der einzelnen Parteien für die Präsidentschaftswahlen am 31. Oktober 1999 bestimmen. Darüber hinaus werden die National- und Regionalversammlungen der Parteien gewählt. Das Verfahren ist neu: Nach diesen sogenannten internas, den Vorwahlen, gibt es nur einen Kandidaten jeder Partei für die Präsidentschaftswahl. Im Gegensatz zur Wahl im Oktober gibt es zwar keine Wahlpflicht, aber viele Menschen im Land wissen das gar nicht. Vermutet wird, daß die Beteiligung hoch sein wird, sicher wird sie über 50 Prozent liegen. „Die Uruguayer gehen gerne wählen“, so die einhellige Meinung im Land. Es gibt aber auch über 20.000 ErstwählerInnen, die es versäumt haben, sich registrieren zu lassen. Ein Anzeichen für die abnehmende Wahlleidenschaft der Jugend.
Nach einem heftigen Disput zwischen den Parteien wurde 1996 die Verfassungsreform angenommen (ein Teil des Linksbündnisses Frente Amplio unterstützte ein Volksbegehren gegen das neue Wahlrecht, dieses scheiterte aber unter anderem an der Zerstrittenheit der Linken). Das neue Verfahren eröffnet zwei Möglichkeiten, zum Kandidaten einer Partei für die Nationalwahlen gewählt zu werden. Entweder direkt durch die Vorwahlen – wenn mehr als 50 Prozent der WählerInnen für einen Kandidaten einer Partei stimmen – oder indirekt durch die Nationalversammlung der einzelnen Parteien, wenn keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit erreicht.
Weiterhin werden in den Regionalversammlungen die Kandidaten für die Provinzregierungen gewählt. Diese Wahl wird im Mai 2000 stattfinden. Auch das ist neu. Bisher waren National- und Regionalwahlen immer zeitgleich. An das komplizierte Wahlsystem hatten sich die Uruguayos nach 1984 gewöhnt. Weil mehrere Kandidaten innerhalb einer Partei auch bei der Nationalwahl miteinander konkurrierten, konnte auch ein Kandidat mit deutlich weniger als 20 Prozent zum Präsidenten gewählt werden, da letztlich alle Stimmen der verschiedenen Kandidaten einer Partei addiert wurden. So geschehen 1994, als Julio María Sanguinetti nach seiner ersten Präsidentschaft von 1985 bis 1990 wieder ins Amt gewählt wurde. Der alleinige Kandidat des Linksbündnisses Encuentro Progresista (Progressives Treffen, EP), Tabaré Vázquez, Bürgermeister von Montevideo von 1990 bis 1995, erhielt damals zwar die meisten Stimmen, allerdings fehlten knapp zwei Prozent zur Mehrheit.

Erstmals keine Einigkeit im Encuentro Progresista

Von den vier Parteienbündnissen, die momentan im Parlament vertreten sind, kann nur eines jetzt schon ganz sicher sein, wer ihr Kandidat für die Nationalwahlen sein wird: Der liberale Nuevo Espacio mit seinem Vorsitzenden Rafael Michelini. Mehr oder weniger scheint aber auch bei der Partido Nacional (Nationale Partei), den “Blancos“ das Rennen gelaufen zu sein: Dem ehemaligen Präsidenten Luis Alberto Lacalle werden hier die besten Chancen eingeräumt. Nur bei den „Colorados“ steht es noch unentschieden. Obwohl das Pendel immer mehr zugunsten von Luis Hierro, Senator vom rechten Rand der Partei, ausschlägt, werden auch dem Politveteran Jorge Battle gute Chancen eingeräumt.
Beim Encuentro Progresista ist man sich relativ sicher: Tabaré wird gewinnen. Erstmals gab es aber kein Einverständnis über den Kandidaten der Linken. Dem Präsidenten der Frente Amplio, dem international renommierten Onkologen Dr. Tabaré Vázquez, steht der Senator Danilo Astori, Finanzexperte des Bündnisses, als Konkurrent gegenüber, und in den letzten Wochen vor der Wahl haben sich die Auseinandersetzungen verschärft. Vor allem geht es um die Strategie für die Nationalwahlen. Astori hält den ehemaligen Bürgermeister von Montevideo in einer wahrscheinlichen Stichwahl beim zweiten Wahlgang im November nicht für koalitions- und mehrheitsfähig, im Gegensatz zu sich selbst.
Dieser Gefahr, nicht gegen einen gemeinsamen Kandidaten der traditionellen Parteien bestehen zu können, ist sich auch Vázquez bewußt. Befürchtet wird, daß das Linksbündnis mit Tabaré Vázquez die erste Runde der Wahlen im Oktober deutlich gewinnen wird, die Stichwahl im November allerdings verlieren könnte. Für viele der WählerInnen, die der EP braucht, um zu einer eigenen Mehrheit zu kommen, vertritt der Arzt zu „linke“ Positionen. Bei einigen Mitgliedsparteien im Bündnis, vor allem bei den Kommunisten wird das allerdings genau anders gesehen. Im Team von Vázquez hat genau aus dieser Befürchtung heraus schon die Suche nach möglichen Koalitionspartnern begonnen. An erster Stelle wird dabei der Chef des Nuevo Espacio, Rafael Michelini genannt. Aber auch die internen Probleme im Frente Amplio, hervorgerufen duch die Spaltung des Movimiento de Participación Popular (Bewegung der Volksbeteiligung, MPP), bereiten dem Team von Vázquez große Sorgen. Ganz davon abgesehen, daß für eine großflächige Kampagne kein Geld zur Verfügung stand, auch wenn in der letzten Woche des Wahlkampfes noch ein Kredit von 50.000 US-Dollar aufgenommen wurde. Aber auch die bisherige Stärke des Linksbündnisses, die militancia, das starke politische Engagement vieler Parteimitglieder und SympathisantInnen, ist zurückgegangen.

Die Themen des Wahlkampfes: Korruption und das Desaster in der Agrarpolitik

Eines der großen Themen im Wahlkampf war die Bekämpfung der Korruption. Da fast alle der traditionellen Politiker von Korruptionsvorwürfen betroffen waren, versuchte jeder sich selbst reinzuwaschen und dem anderen an den Karren zu fahren. Innerhalb der Parteien wurde dabei mit harten Bandagen gefochten. So bekämpften sich innerhalb der Colorados vor allem Luis Alberto Lacalle, Präsident der Republik von 1989 bis 1994 und der Senator und ehemalige Innenminister Juan Andrés Ramírez. Während Ramírez nichts vorgeworfen werden konnte, stand besonders unter der Regierungszeit von Lacalle die Korruption in voller Blüte. Erst vor kurzem wurde ein ehemaliger Mitarbeiter des Ex-Präsidenten verurteilt und mußte hinter Gitter.
Das Hauptthema des Wahlkampfes war aber die Agrarpolitik und die Frage der Wiederbelebung der Produktivität in der Landwirtschaft. Die Finanzkrise in Brasilien hat im letzten Jahr zu einem bösen Erwachen geführt. Kleinbauern und Viehzüchter konnten ihre Produkte nicht mehr verkaufen, die wenigen großen Fabriken im Land mußten massiv Leute entlassen. Zwischen Realität und Paranoia, die Wahrheit liegt wohl in der Mitte: Gesichert ist, daß circa die Hälfte der Exporte Uruguays wegen der Abwertung des brasilianischen Reals in den Häfen des Landes liegenblieb.
Viele hatten diese Krise erwartet. Die Linke beschuldigte die traditionellen Regierungsparteien Blancos und Colorados (seit der Unabhängigkeit im Jahre 1820 wechseln sich diese Parteien in der Regierung ab, mit Ausnahme der Zeit der Militärdiktatur von 1972 bis 1985), die notwendigen Modernisierungen verschlafen, und sich viel zu sehr vom übermächtigen Nachbarn Brasilien abhängig gemacht zu haben. Die Traditionellen wiederum geben dem trägen, aufgeblähten Staatsapparat die Schuld und wollen nach dem argentinischen Vorbild möglichst viele staatliche Sektoren privatisieren. Falls die Blancos oder die Colorados die Nationalwahlen im Herbst gewinnen, scheint es auch in Uruguay soweit zu sein: Der Staat soll auf seine Rolle als Ordnungsmacht reduziert werden. Justiz und Polizei sollen staatliche Aufgaben bleiben, der Rest wird neo-liberalisiert. Der Anschluß an den Mercosur soll gefunden werden.
Ein Zeichen für einen möglichen Wandel in der Gesellschaft wurde am 13. April sichtbar: Mehrere zehntausend Kleinbauern aus dem ganzen Land versammelten sich in Montevideo. Nie zuvor in den letzten 50 Jahren gab es eine so machtvolle Demonstration der Bauern, Viehzüchter, Milchproduzenten et cetera aus dem interior, wie in Uruguay alles außerhalb von Montevideo und der Küstenregion genannt wird. Das erstaunliche an diesem Tag war aber neben der enormen Beteiligung auch die Tatsache, daß die Demonstranten bei Mariano Arana, dem von der Frente Amplio gestellten Bürgermeister der Hauptstadt, anklopften und eine Petition überreichen wollten.
Die letzten Wahlen im Jahr 1994 verlor Tabaré Vászquez auch deshalb, weil das Linksbündnis im Interior nahezu kaum Stimmen gewinnen konnte. Die große Mehrheit der Menschen auf dem Land lebt unterhalb der Armutsgrenze, hat nie etwas anderes gelernt als Landwirtschaft und Viehzucht, Gaucho-Traditionen werden kultiviert, die Menschen lieben den campo. Zu dieser Lebensweise gibt es nur eine Alternative: In die Hauptstadt zu ziehen und dort in den Marginalsiedlungen am Stadtrand unterzukommen.
Tradition ist das Eine. Aber viele der LandbewohnerInnen sind politisch mehr als konservativ, man könnte auch sagen, reaktionär. Für die meisten gab es nie eine andere Alternative als die Wahl zwischen Blancos und Colorados. Die meisten werden als „Kinder“ von Blancos oder Colorados geboren und die Frente Amplio sind immer noch die „Kommunisten“, vor denen man die Kinder wegsperren muß. Die in Europa immer noch vorherrschende Vorstellung von Uruguay als die „Schweiz Südamerikas“ bezieht sich wohl lediglich auf Montevideo und auf die mondänen Badeorte an der Küste wie Punta del Este.
Die Mehrheit auf dem Land bilden aber die Kleinbauern und Viehzüchter. Und diese haben die letzten Wahlen entschieden. Obwohl sie ihre Petition nicht an Mariano Arana übergaben, zogen sie doch an der intendencia, dem Bürgermeisteramt in Montevideo, vorbei und grüßten den Bürgermeister. Für viele EinwohnerInnen Montevideos ein Grund zum Staunen, für manche in den traditionellen Parteien eine eindeutige Warnung. Folgerichtig verspricht der Encuentro Progresista und hauptsächlich ihr Kandidat Tabaré Vázquez Unterstützung für die Kleinbauern, so zum Beispiel eine Steuerbefreiung. Die große Frage ist also, ob
diese Bevölkerungsgruppe schon so weit ist, die Angst vor den „Kommunisten“ in der Stadt zu verlieren, weil sie die Hoffnung in die traditionellen Parteien verloren haben.

Lebensmittelpakete als Wahlgeschenke

Aber auch die Konservativen schlafen nicht. Sie haben die Gefahr erkannt. Obwohl sie an ihrer Agrarpolitik allein aus ideologischen Gründen und um ihr Klientel nicht gegen sich aufzubringen, nicht viel ändern werden, ist doch zu befürchten, daß sie bis Oktober versuchen werden, mit spektakulären Aktionen gerade die Leute vom Land weiter an sich zu binden. Das Geld dafür ist sowohl bei den Blancos als auch bei den Colorados vorhanden. Einen Eindruck von den Methoden gab es jetzt schon im Vorwahlkampf. So ließ Luis Hierro, aussichtsreicher Kandidat der Colorados, in einigen Randvierteln von Montevideo Pakete mit Reis, Mehl und Nudeln verteilen, inclusive Werbezetteln für seine Bewerbung. Für die BewohnerInnen, von denen die meisten einen Politiker der traditionellen Parteien nur aus dem Fernsehen kennen, eine überraschende und überaus willkommene Wohltat. Jorge Battle, der interne Konkurrent von Hierro setzt mit seinen Methoden eher auf die Wähler der Mittelschicht. Er bietet den Wahlberechtigten mit Wohnsitz in Buenos Aires für den Wahlsonntag einen kostenlosen Transfer von der argentinischen Hauptstadt nach Montevideo und zurück an.
Die Ausgaben der traditionellen Parteien, hauptsächlich für Werbung im Fernsehen, sind enorm. Geschätzt wird, daß allein die Colorados für ca. zwölf Tage Wahlkampf täglich über 125.000 US-Dollar ausgegeben haben, die Blancos gut die Hälfte der Summe. Der EP kann da mit geschätzten 4.500 US-Dollar täglich nicht einmal annähernd mithalten. Deutlich wird das in der Präsenz im auch in Uruguay allgegenwärtigen Fernsehen. Über 65 Prozent der Sendezeit waren von den Colorados gebucht, 32 Prozent von den Blancos, die restlichen 3 Prozent vom EP.

Frustration in Uruguay — Chance für die Linke?

Eines ist deutlich: Nie seit Wiedereinführung der Demokratie nach 1985 war die Stimmung im Land so schlecht. Das macht auch die Bedeutung der Vorwahlen aus: Die Nationalwahlen im Oktober werden simuliert, es sollen Denkzettel verteilt werden, es soll klar gemacht werden, wie hochgekocht die Frustration im Lande ist. Und oft wenn die Stimmung verzweifelt ist, werden extreme Lösungen gesucht. Und gerade das ist in Uruguay auch eine Chance für das Linksbündnis. Wird es so sein, daß die Menschen, auch die konservative Mehrheit im Land, sich eine Verbesserung durch eine Linksregierung vorstellen kann? Die Kandidaten der traditionellen Parteien haben nicht viel neues zu bieten, die alten Rezepte scheinen ausgedient zu haben.

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