Haiti | Nummer 356 - Februar 2004

„Zu viel Blut ist geflossen, Aristide muss weg“

In Haiti demonstrieren fast täglich Tausende gegen

Opposition und StudentInnen werfen der Regierung Korruption, Wahlfälschung und die Verschärfung der Armut vor. Auch am 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Haitis gab es es Übergriffe auf GegnerInnen der Regierung.

Hans-Ulrich Dillmann

Die Straßen rund um den pittoresken Eisenmarkt im Stadt-zentrum von Port-au-Prince wirken im Vergleich zu der drückenden und lärmenden Enge, die normalerweise hier herrscht, wie ausgestorben. Nur wenige tap-tap, die buntbemalten Busse, machen mit lautem Gehupe auf der Suche nach Passagieren auf sich aufmerksam. Banken und Geschäfte haben ihre Eisenrollos heruntergelassen. In der haitianischen Hauptstadt wurde der Generalstreik am 8. und 9. Januar weitgehend befolgt. Auch in anderen Städten des acht Millionen EinwohnerInnen zählenden Armenhauses Lateinamerikas war das öffentliche Leben weitgehend gelähmt. Mit dem zweitägigen landesweiten Ausstand wollte die Opposition den derzeitigen Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide aus dem Amt zwingen.
Nur wenige Gehminuten vom Marché du Fer, auf dem Champs du Mars, dem Marsfeld, patrouillieren derweil schwer bewaffnete Polizeieinheiten. Der Präsidentenpalast, den Aristide erst am 7. Februar 2006, nach dem offiziellen Ende seiner Amtszeit verlassen will, ist hermetisch von Spezialeinheiten der Polizei abgeriegelt. Die Umgebung des weiß getünchten Palais mit der Freikuppel, die so sehr dem Capitol in Washington ähnelt, ist seit Anfang Dezember des Vorjahres beinahe täglich Ziel studentischer Demonstrationen. In den letzten vier Monaten sind mindestens 50 Personen bei Protesten gegen die Regierung des früheren Salesianerpriesters umgekommen.
Die studentischen Forderungen nach einer Bildungsreform aus dem Dezember sind längst verstummt, seit Aristide-AnhängerInnen auf die friedlichen Proteste mit brutaler Gewalt reagierten. Die im Volksmund Chimères (Schimären) genannten stürmten das Universitätsgelände, steckten Fakultätsgebäude in Brand und verwüsteten Vorlesungssäle. Fünf Studenten starben bei den Gewaltakten, Dutzende wurden zum Teil schwer verletzt. Dem Rektor der Universität, Pierre Pacquiot, zertrümmerten die Schimären mit Eisenstangen beide Beine. Seitdem skandieren die StudentInnen im Stadtzentrum fast täglich in der Landessprache Kreol „trop sang coulé, fok Aristide alé“ – „Zu viel Blut ist geflossen, Aristide muss weg.“ Vier MinisterInnen legten aus Protest gegen das brutale Vorgehen der Aristide-Anhänger gegen die StudentInnen ihr Amt nieder.

Haiti am Rande des Bürgerkriegs?
200 Jahre nach der Befreiung von der französischen Kolonialmacht steht die erste freie Republik Lateinamerikas am Rande eines Bürgerkrieges. In Gonaïves, in der am 1. Januar 1804 die Unabhängigkeit ausgerufen wurde, „regiert“ inzwischen eine Anti-Aristide-Front, die sich seit September immer wieder blutige Gefechte mit der Polizei liefert. Als Staatschef Aristide zusammen mit dem südafrikanischen Amtskollegen Thabo Mbeki am Neujahrstag zu den offiziellen Gedenkfeiern anreiste, wurde die Fahrzeugkarawane unter Gewehrfeuer genommen. Nach nur einer halben Stunde suchte Aristide mit seinem Staatsgast das Weite. Im Bergland nahe der Grenze zur Dominikanischen Republik, hat sich eine Guerillatruppe etabliert. Die aus Ex-Militärs rekrutierte „Armee ohne Mutter“ erregt seit knapp einem Jahr immer wieder durch brutale Überfälle Aufsehen, bei denen vornehmlich Regierungsangestellte regelrecht massakriert werden. Zusätzlich wächst das Bündniss aus der Convergence Démocratique und der aus Nichtregierungsorganisationen bestehenden „Groupe 184“ und fordert bei Demonstrationen und Mahnwachen den Rücktritt von Aristide.

Vom Hoffnungsträger zum Gewaltherrscher
Vor vierzehn Jahren war Jean-Bertrand Aristide noch der Hoffnungsträger des Landes. Lavalas nannte er seine Partei, in Kreol bedeutet dies Erdrutsch oder Lawine. Mit seiner Losung „Frieden im Geist und im Magen“, überzeugte er vor allem die Besitzlosen in den Bidonvilles, den Armenvierteln der Städte und auf dem Land, die ihren Hunger stillen und – ein weiteres Versprechen – „in Würde“ leben wollten. Der Anhänger der Befreiungstheologie verbuchte mit zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen einen wahren Erdrutschsieg.
Neun Monate später war „Titid“, der kleine Aristide, wie er von seinen AnhängerInnen liebevoll genannt wird, aus dem Amt geputscht. Als der ehemalige Salesianerpriester 1994 aus dem Exil mit US-amerikanischer Truppenunterstützung zurückkehrte, agierte er nach der Devise, wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Kritiker erlebten die geballte Volkswut der militanten Aristide-Anhänger, zahlreiche Oppositionelle wurden ermordet. Die Liste der Anschuldigen gegen Staatspräsident Aristide ist lang: Das Land sei Dreh- und Angelpunkt der internationalen Drogenhandels, die Korruption innerhalb der Verwaltung offensichtlich und internationale Hilfsgelder seien in private Taschen geflossen.
Während sich Aristide, wie seine Kritiker behaupten, längst zum reichsten Mannes des Landes gemausert habe, sucht der ehemalige Armenpriester die Schuldigen der wirtschaftlichen Misere in ausländischen Mächten. „Ihr habt die gleiche Hauptfarbe, die gleichen kleinkrausen Haare wie ich“, rief „Titid“ Bauern im Norden des Landes zu, „wenn sie den Willen des Volkes nicht akzeptieren, dann hat das damit zu tun, dass sie viele Vorurteile gegen euch haben. Es gibt kein Komplott gegen den Präsidenten Aristide, sondern gegen das haitianische Volk, das sie nicht mögen.“
Der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich hat Aristide vor drei Monaten die Rechnung aufgemacht. Die Unabhängigkeit vor 200 Jahren musste sich die junge Nation teuer erkaufen. 90 Millionen Goldfranken erhielten die Siedler aus dem alten Kontinent als Entschädigung, nach heutigem Umrechnungskurs rund 17 Milliarden Euro. Die Opposition sieht in der medienwirksam vorgetragen Wiedergutmachungsforderung lediglich eine Ablenkung von der wirtschaftlichen Situation des Landes und der Proteste gegen Aristide.

Kein Licht im „Land der Weisheit“
Die Lebenssituation der Armen hat sich seit dem Amtsantritt von Aristide wenig geändert. Die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich zum Teil verdreifacht. Das durchschnittliche Monatseinkommen eines Haitianers beträgt nur umgerechnet rund 20 Euro. Fast 70 Prozent der Bevölkerung ist dennoch arbeitslos. Ohne die jährlichen Überweisungen der im Ausland lebenden etwa drei Millionen HaitianerInnen in Höhe von rund 600 Millionen US-Dollar könnten im Armenhaus Lateinamerikas die Menschen nicht mehr überleben.
Die Staatskasse ist leer. Das Land ist dringend auf Internationale Hilfsgelder und Kredite der Weltbank angewiesen, um Reformen zu finanzieren. Aber diese Gelder, rund 500 Millionen US-Dollar, sowie mehrere hundert Millionen Euro aus der Europäischen Union sind seit den Präsidentschaftswahlen im November 2000, bei der Aristide zum zweiten Mal kandidierte, eingefroren. Die Opposition boykottierte den von Manipulationsvorwürfen begleiteten Urnengang.
Bevor der 50-jährige Aristide am 12. Januar, drei Tage nach dem Generalstreik, zum Gipfeltreffen der amerikanischen Staatschefs in der mexikanischen Stadt Monterrey aufbrach, mahnte er die politischen Akteure im Lande, den Frieden zu wahren.
„Lasst Licht und Frieden überall im Land mit Weisheit scheinen“, wünschte der ehemalige römisch-katholische Priester den Zurückgebliebenen. Sein Wunsch blieb bisher unerhört – auf beiden Seiten. Wenige Stunden später griffen Schimären wieder die demonstrierenden StudentInnen mit Steinen an. In dem nördlich der Hauptstadt gelegenen Ort Miragoane wurde ein Sympathisant der Regierungspartei Fanmi-Lavalas, der Lavalas-Familie, bei einer Protestkundgebung der Opposition erschossen. Aus Rache übergossen daraufhin Parteigänger Aristides einen der Demonstranten mit Benzin und steckten ihn in Brand. Wenige Tage später zertrümmerten bewaffnete Männer mit Vorschlaghämmern und Macheten die Sendeanlagen von acht der Opposition nahe stehenden Radiosendern. Politische Kommentatoren fühlen sich inzwischen an das Jahr 1986 erinnert. Damals starben bei Protesten in Gonaïves zwei Studenten. Kurze Zeit später floh Diktator „Baby Doc“ aus dem „Land der Berge“ Richtung Frankreich.

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