Brasilien | Nummer 421/422 - Juli/August 2009

Zucker, Hunger und Misere

Ein vermeintliches Musterprojekt solidarischer Ökonomie im brasilianischen Pernambuco hat nicht viel mit Solidarität zu tun

Catende galt als Vorzeigeprojekt für solidarisches Wirtschaften unter Selbstverwaltung in Brasilien. Doch im Frühjahr 2009 stellten JustizbeamtInnen unzumutbare Arbeitsbedingungen für die ZuckerrohrschneiderInnen der seit 1995 selbstverwalteten Fabrik fest.

Astrid Schäfers

Langsam tuckert der Bus über die Holperstraße, links und rechts davon wächst Zuckerrohr bis zum Horizont. Die riesige Usina Catende, die Zuckerfabrik mit ihren steinernen Schloten, überragt alles andere im Dorf. Sogar die pompösen Villen, welche die ehemaligen Fabrikbesitzer auf den Hängen rund um Fabrik erbauten.
Catende ist ein etwas abgelegener Ort im Landesinneren des nordöstlichen Brasilien. Bis in die 1950er Jahre war die gleichnamige Zuckerfabrik die größte Lateinamerikas. Heute ist sie einer von gut 20.000 „selbstverwalteten“ Betrieben in ganz Brasilien, bekannt als größtes Beispiel „solidarischer Ökonomie“.
Luiz Inácio Lula da Silva besuchte das Projekt mehrmals, bereits vor seiner Wahl zum Präsidenten 2002. Die Vorliebe Lulas für das Projekt ging soweit, dass er seinen Agrarminister dazu anhielt, dem Landreforminstitut INCRA jegliche Intervention in das Projekt zu verbieten. Diese Situation währte solange, bis die Regierung die zur Fabrik gehörenden 48 Plantagendörfer im Oktober 2006 per Dekret enteignete.
„Wir Arbeiter haben hier alles von den Zuckerbaronen übernommen. Die Plantagen, die Fabrik, die Traktoren und sogar die ehemaligen Herrenhäuser. Heute bestimmen wir, was hier geschieht“, erklärte Lenivaldo Marques da Silva Lima, Koordinator des Projekts kollektiver Zuckerproduktion Catende Harmonia, im Jahr 2007 gegenüber den Lateinamerika Nachrichten.
Das Problem ist nur, dass Lima gar kein Arbeiter ist, sondern Soziologe. Neben Verwaltungsarbeiten hat er die Fäden in der Hand, wenn es um wichtige Entscheidungen geht und koordiniert die 2003 gegründete Kooperative Harmonia.
1995 wurde der von den 2.300 entlassenen Arbeitern beantragten Insolvenz der Fabrik stattgegeben. Seitdem wurde die Konkursmasse aber nicht von den Arbeitern, sondern zunächst von der Banco do Brasil, dem größten Gläubiger und später von Mitgliedern ländlicher Gewerkschaften und Vertretern der katholischen Kirche verwaltet. Die einzige von den Arbeitern geschaffene Struktur, die Kommission der Fabrikarbeiter, wurde, nachdem diese 2003 streikten, von den Verwaltern aufgelöst.
„In Catende wird Zucker, Hunger und Misere produziert“ titelte die regionale Zeitschrift A Nova Democracia im Juni 2009. Im April hatte das Arbeitsministerium die Verwalter der Konkursmasse wegen monatelanger Nichtbezahlung der ArbeiterInnen, gesundheitsschädigender und unsicherer Arbeitsbedingungen der ZuckerschneiderInnen und Betrugs in Form der unrechtmäßigen Verwaltung der Gelder aus dem staatlichen Kreditprogramm PRONAF zu einer Geldstrafe von umgerechnet 3,5 Millionen Euro verurteilt.
Motiv für die Überprüfung der Einhaltung der Sicherheits- und Gesundheitsnormen waren mehrere Todesfälle von ZuckerschneiderInnen in der Region gewesen. Auf Plantagen der Fabrik Catende beobachteten JustizbeamtInnen, wie ArbeiterInnen Zuckerrohr direkt nach der Verbrennung schnitten, so dass sie den Rauch direkt einatmeten. Im Gegensatz zu anderen Regionen, wo Zucker angebaut wird, wie etwa im Bundesstaat São Paulo, können in der hügeligen Küstenregion im Süden von Pernambuco keine Maschinen eingesetzt werden, die das Zuckerrohr schneiden.
Zuckerschneiden ist kein Zuckerschlecken: Die Arbeiter stehen ab fünf Uhr morgens in gebeugter Haltung in der Asche des zuvor abgebrannten Zuckerrohrs. Mit der Machete hacken sie es ab, eine schweißtreibende Tätigkeit, die sich bis etwa 15 Uhr nachmittags hinzieht. Und das bei Temperaturen von bis zu 40 Grad Celsius. Es ist kein Zufall, dass Frauen lediglich für Unkrautjähten oder das Versprühen der giftigen Herbizide eingesetzt werden, die von den ArbeiterInnen der Fabrik Catende ohne adäquate Schutzkleidung und Schutzmaske ausgeführt werden. Wer jahrelang unter der stechenden Sonne arbeitet, altert schnell.
Trotz der historischen Zuckerernte der Fabrik Catende 2008/2009 mit einer Million Säcken Zucker sind ArbeiterInnen und Kleinbauern auch dieses Jahr nach der Erntezeit wieder nicht bezahlt worden. Dies ist umso dramatischer, weil ein Großteil nur sechs Monate im Jahr, nämlich zur Erntezeit, eingestellt wird und danach – also von Februar bis November – arbeitslos ist. In dieser Zeit halten sich viele mit bicos, also kurzfristigen Aushilfstätigkeiten, über Wasser.
Außer ungenügenden Sicherheitsbedingungen fanden die Beamte des Justizministeriums heraus, dass ArbeiterInnen und Kleinbauern statt Bezahlung zwei Warenkörbe im Wert von etwa 76 Euro erhielten. Bei der Entgegennahme wurden sie dazu genötigt, zu unterschreiben, sie wären bezahlt worden. In einer Veröffentlichung des Ministeriums heißt es, die Beamten hätten 55.000 Säcke Zucker im Lager vorgefunden. Dennoch stünden Gehälter und Zahlungen für März, Mai und Juni 2008 sowie Januar und Februar 2009 noch aus. Mit dem Geld aus dem Verkauf des gelagerten Zuckers hätten Arbeiterinnen und Kleinbauern bezahlt werden können. Der Vorsitzende der Kooperative Harmonia, Elenildo Correia Pena, rechtfertigte den Nichtverkauf des Zuckers mit dem Argument, die Familien, die selbstständig Zuckerrohr anpflanzen, müssten noch den staatlichen Kredit für Kleinbauern PRONAF zurückzahlen. Die improvisierte Finanzplanung der VerwalterInnen führte zu einer wirren Vermischung sämtlicher Finanzflüsse: Nur 2.200 der 3.500 Familien, die auf den Plantagen der Fabrik Catende leben, bauen selbstständig Zuckerrohr an und nur ein Teil dieser erhielt den staatlichen Kredit PRONAF. Die Bezahlung der 800 Fabrikarbeiter und der 1.200 PlantagenarbeiterInnen hingegen steht mit der Zurückzahlung dieser Kredite in keiner Verbindung.
Besonders problematisch ist, dass die Kredite für die Kleinbauernfamilien auf das Konto der Kooperative gehen, anstatt direkt an die Familien. Insofern dient die Kooperative lediglich dazu, Gelder, die für die Kleinbäuerinnen und -bauern bestimmt waren, zu verwalten.
„Ich dachte, dass eine Kooperative gut für uns wäre“, erzählt ein Kleinbauer der Plantage Capricho, „wir würden eine bestimmte Summe einzahlen und bei Bedarf, Samen oder Dünger bekommen. Aber in der Kooperative in Catende, da ist das so: Wir zahlen und das bleibt für die da in Catende.“ Mit „die da in Catende“ meint er die Gruppe von VerwalterInnen, RechtsanwältInnen, ErzieherInnen und Vorsitzenden von Plantagenvereinen, die diesen nahe stehen.
Die Kleinbäuerinnen und -bauern sind völlig abhängig von der Bezahlung des von ihnen gelieferten Zuckerrohrs, da sie sonst an keine andere Fabrik in der Region verkaufen dürfen. Denn mit ihrer Zugehörigkeit zu dem Programm Cana do Morador („Zucker von Bewohnern“) haben sie sich per Unterschrift dazu verpflichtet, an die Fabrik zu verkaufen: „Wir würden ja an die Fabrik verkaufen aber nur, wenn sie uns dafür bezahlt. Dieses Abkommen mit dem Kollektiv zwingt uns dazu, das Zuckerrohr an sie zu liefern. Das haben wir unterschrieben. Ich finde das ungerecht, denn, wenn sie nicht zahlt, wollen wir sie auch nicht beliefern. Denn – es gibt genug Geld. Wenn sie es besser investieren würden, würde es ausreichen, um uns zu bezahlen“, erklärte Jane aus dem Plantagendorf Cana Brava im Mai 2007.
Das Kollektiv von dem Jane spricht, gibt es eigentlich gar nicht, denn die Interessen von LandarbeiterInnen, FabrikarbeiterInnen, selbstständig anpflanzenden Familien und den gut bezahlten FabrikfunktionärInnen und VerwalterInnen der Kooperative klaffen aueinander. Dies wurde insbesondere während der Durchführung der Landreform deutlich, nachdem Lula 2006 die Plantagen per Dekret enteignet hatte. Viele Kleinbäuerinnen und -bauern wollten Besitztitel erhalten, um unabhängig von der undurchsichtigen Verwaltung der Gelder zu werden und selbst mehr Kontrolle zu haben. Die VertreterInnen des Landreforminstituts INCRA berieten sich aber lediglich mit den VerwalterInnen, die erklärten, das Projekt müsse „kollektiv” bleiben: „Die Landreform so durchzuführen, dass jede Familie hier ihr Stück Land erhält, bedeutet Selbstmord. Ich meine in ökonomischer Hinsicht. Sie würde das reproduzieren, was hier auf enteignetem Land in der Küstenregion entstanden ist: prekäre Arbeit, Schwarzarbeit, Kinderarbeit,…” lautete damals das einleuchtende Argument des Hauptverwalters Lima. Die 24.000 Hektar würden nicht ausreichen für die 4.300 Familien. Fünfeinhalb Hektar sind tatsächlich ein relativ kleines Stück Land, um das ökonomische Überleben einer Kleinbauernfamilie zu sichern.
Das Hauptproblem ist aber nicht der Landbesitz, sondern die Kontrolle der VerwalterInnen über die Finanzen, einschließlich staatlicher Fördermittel und Gelder von Nichtregierungsorganisationen (NRO), die bereits in das Projekt geflossen sind. So erhielt das Projekt im Jahr 2001 Gelder für Armutsbekämpfung in Höhe von etwa 43.000 Euro von der holländischen NRO Cordaid. Tatsächlich wurden ein paar Seminare über „solidarische Ökonomie“, Kinderarbeit und Gesundheitsschutz durchgeführt. Allein 16.000 Euro davon wurden aber für die Bezahlung der beiden Rechtsanwälte ausgegeben, deren monatliche Einkünfte sich auf über 2.000 Euro beliefen.
Die Koordinatoren warben stets unter dem Motto des Schutzes der Menschenrechte für das Projekt Catende Harmonia. Die Menschenrechte werden aber offensichtlich durch die Arbeitsbedingungen verletzt. Und immer noch verdienen die KoordinatorInnen zwischen 1.000 und 3.000 Euro monatlich, während die PlantagenarbeiterInnen durchschnittlich knapp 150 Euro monatlich verdienen, die FabrikarbeiterInnen etwas mehr. Wenn sie bezahlt werden.
„Zu einem Saisonarbeiter haben sie [die VerwalterInnen] gesagt, entweder du arbeitest oder du wirst rausgeschmissen. Und die Fabrik hat ihn nicht bezahlt. Denn der Arbeiter arbeitet, um Geld zu verdienen und zu essen, wie soll er denn arbeiten, wenn er Hunger hat?” erzählte ein festangestellter Plantagenarbeiter im März 2007.
Bis noch vor zwanzig Jahren herrschten in der Region sklavenähnliche Verhältnisse vor. „Die Kultur des Zuckers machte den weißen Aristokraten zum Herrn über die Zuckerfelder und degradierte den Indianer und vor allem den Schwarzen, zuerst zum Sklaven und dann zu Vieh,“ schrieb Gilberto Freyre, der berühmte brasilianische Soziologe in seinem Buch „Der Nordosten“. Soviel hat sich an den sklavenähnlichen Arbeits- und Lebensverhältnissen der ZuckerschneiderInnen in der Region nun wohl doch nicht geändert, denen mit dem Projekt Catende Harmonia ein Ende gesetzt werden sollte. 14 Jahre sind seit der Übernahme der Fabrik vergangen. Und die Entwicklung des Projekts zeigt, dass die Klassenverhältnisse sich dort nicht wesentlich geändert haben. Heute schmausen die Verwalter in der Villa des ehemaligen Fabrikbesitzers und werden mit Chauffeuren zwischen Fabrik und Herrenhaus, einer Entfernung von etwa 500 Metern, hin- und herkutschiert.
In dem Konzept der „solidarischen Ökonomie“ kommt die Kategorie „Klasse“ allerdings nicht vor. Da ist nur von „Demokratie, Gleichheit, Zusammenarbeit, individueller Freiheit und Solidarität“ die Rede.
Zahlreiche Studien über übernommene Fabriken der solidarischen Ökonomie in Brasilien zeigen, dass sich in diesen Hierarchien, soziale Ungleichheit und Produktionsverhältnisse reproduzieren. Auch entstehen häufig keine Räume für andere Aktivitäten außerhalb der Produktion. Was wird denn überhaupt produziert? Zucker. Ernährt sich die Bevölkerung von Catende von Zucker? Nein. Auch die zahlreichen Diversifizierungsprogramme haben bisher kaum mehr bewirkt, als dass die BewohnerInnen der 48 Plantagendörfer ein paar Bananenstauden und Obstbäume neben ihren spartanisch eingerichteten Häusern stehen haben.
Eines ist jedenfalls klar: Je schlechter die Einkommenssituation und die Arbeitsbedingungen, umso größer sind die Schwierigkeiten, Solidarität zu erzeugen, die für ein kollektives Projekt notwendig ist. .

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