Bolivien | Nummer 411/412 - Sept./Okt. 2008

Zwei Wege

Indigene Bewegungen, Verfassungsprozess und staatliche Transformation in Ecuador und Bolivien

Während in Bolivien der Kampf um die neue Verfassung eskaliert, stehen die Chancen für eine Annahme in Ecuador nicht schlecht. Trotz der deutlichen Absage an eine neoliberale Ausgestaltung wird dort der Entwurf vom Indigenen-Dachverband CONAIE jedoch abgelehnt. Ein Blick auf die Unterschiede der beiden Prozesse und der Strategien ihrer AkteurInnen.

Fabiola Escárzaga, Übersetzung: Sebastian Henning

Die letzten Präsidentschaftswahlen in Bolivien (2005) und Ecuador (2006) brachten zwei Männer mit ausgezeichneten Eigenschaften an die Macht: Sie haben Charisma, indigene Wurzeln und viel Mut zu politischen Veränderungen. Mehr noch: Sie verkörpern Projekte einer Staatsreform mit anti-neoliberaler Ausrichtung, die seit den 1990er-Jahren in einer langen Etappe sozialer Kämpfe entwickelt und vorangetrieben wurden – vornehmlich von indigenen Bewegungen.
Ziel war, Land und Bodenschätze in den Besitz der Bevölkerung zu bringen und das politische System zu demokratisieren. Es gelang diesen Gruppen die extrem ausschließenden, elitären und rassistischen Strukturen aufzureiben und zu destabilisieren, bis diese am Ende nicht mehr handlungsfähig waren. Obwohl der Sturz mehrerer Präsidenten durch Aufstände, Demonstrationen, Blockaden oder Streiks erreicht wurde, gelangten die neuen Regierungen schließlich durch Wahlen an die Macht. Die Transformation des Staates und die Umkehrung des neoliberalen Modells sollte durch Verfassunggebende Versammlungen vorangetrieben werden. Doch die Prozesse in beiden Staaten sahen sich mit Schwierigkeiten und Fallen konfrontiert.
In Bolivien berief die Regierung des Staatspräsidenten Evo Morales am 6. März 2006 den Verfassungskonvent ein und führte zeitgleich ein Referendum über föderale Rechte für die Departamentos durch. Damit wurden zwei Projekte verknüpft, die vollkommen unterschiedlicher Natur sind: Während der Verfassungskonvent die Folge sozialer Proteste ist, sind die Autonomieforderungen, die sich als Kampagne zur Dezentralisierung gerieren, lediglich vorgeschoben. Die wirtschaftlich Mächtigen des „Halbmondes“, der wegen ihrer Anordnung so bezeichneten Departamentos Santa Cruz, Tarija, Beni und Pando, wollen sich damit der indigenen Regierung entgegenstellen, durch die sie ihre ökonomischen Interessen und Privilegien bedroht sehen. Beiden Forderungen wurde also die gleiche Legitimität zugestanden; die Rechte erhielt damit eine Macht zurück, die sie bereits verloren hatte, und eine Handhabe, den Verfassungskonvent zu boykottieren.
Seitdem baute die Rechte ihre Position in dem Boykott weiter aus. Zuerst legte sie den Konvent mit einer Debatte über seine Form und die notwendigen Zustimmungszahlen ein halbes Jahr lang lahm. Dann wurde verlangt, den Sitz von Regierung und Parlament, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts in La Paz angesiedelt sind, wieder in die offizielle Hauptstadt Sucre zu verlegen. Dadurch gelang es den AkteurInnen des „Halbmondes“, den Verfassungskonvent mit einer zugespitzten ethnischen Konfrontation zu belasten. Der Ton verschärfte sich dabei immer mehr; die Auseinandersetzung erreichte ihren Höhepunkt dann im Dezember 2007, als die neue Verfassung verabschiedet wurde und der Tagungsort in die Stadt Oruro verlegt werden musste. Die letzte rassistische Aggression in Sucre ereignete sich am 24. Mai 2008, als AktivistInnen, Bauern- und GemeindevertreterInnen sowie JournalistInnen, die den Präsidenten empfangen wollten, vom gewalttätigen Mob angegriffen und gedemütigt wurden. Das feindliche Klima in Sucre führte dazu, dass der Präfekt des zugehörigen Departamentos Chuquisaca, ein Repräsentant der Bewegung zum Sozialismus (MAS), zurücktrat und flüchtete. Zu seiner Nachfolgerin wurde die Indigene Sabina Cuellar gewählt, die früher ebenfalls der MAS angehörte, die Partei dann aber verlassen hatte. Damit konnte die Rechte auch Chuquisaca zu ihrer Einflusssphäre zählen, zu der auch das benachbarte Departamento Cochabamba gehört, in dem es ebenfalls rassistische Vorfälle gab.
Eine weitere Boykottmaßnahme war die Abhaltung von gesetzeswidrigen Referenden über die Autonomiestatuten in den vier Departamentos des „Halbmondes“ in den Monaten Mai und Juni. Die Statuten ignorieren den Text der neuen Verfassung und garantieren den regionalen Eliten angestammte Machtfülle und Reichtum. Eigentliches Ziel war es, die für August vorgesehene Abhaltung des Volksentscheids über die neue Verfassung zu verhindern. Am 9. Mai griff die Demokratische und Soziale Kraft (PODEMOS), die Partei der Rechten im Westen des Landes, das Angebot des Präsidenten auf, sein eigenes Mandat sowie das des Vizepräsidenten und der Präfekten in einem Referendum auf den Prüfstand zu stellen. Das Ziel von PODEMOS dabei war, erneut das Verfassungsreferendum zu verhindern, möglicherweise aber auch, den Einfluss der Rechten aus dem Osten des Landes zu schmälern. Morales rief dann für den 10. August zum Plebiszit auf. Er beabsichtigte damit, seine eigene politische Stärke zu bestätigen und die der Opposition zu mindern. Im Ergebnis wurde er mit 67 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt; sechs der neun Präfekten konnten ihr Mandat ebenfalls verteidigen. Mit diesem Ausgang besteht die ursprüngliche Polarisierung fort; Vizepräsident García Linares bezeichnete die Situation als katastrophales Unentschieden zwischen Rechts und Links. Beide Seiten fühlen sich gleichermaßen vom Volk bestätigt. Die Rechte weigert sich, mit der Regierung in Verhandlungen zu treten und hat schon neue Aktionen gegen sie angestoßen: Streik, Straßensperren und die Aussetzung von Fleischlieferungen in die Departamentos des Hochlands. Die Regierung prüft ihrerseits die Möglichkeiten, das noch ausstehende Verfassungsreferendum durchzuführen. So scheint die Eskalation von Seiten der oligarchischen Rechten gegen die indigene Regierung von Evo Morales nicht aufzuhören, und diese zeigt sich unfähig einzuschreiten. Die Annahme der neuen Verfassung ist wenig wahrscheinlich.
In Ecuador liegt der Fall anders. Dort hatte es zunächst eine Phase der gesellschaftlichen Instabilität gegeben, in der innerhalb der letzten zehn Jahre drei Präsidenten gestürzt wurden. Die 1990 begonnenen indigenen Mobilisierungen wurden von der Mittelschicht verdrängt, die dann im Jahr 2005 Lucio Gutiérrez stürzten. Als Rafael Correa 2007 an die Macht gelangte, profitierte er von der vorherigen Mobilisierung der Indigenen und deren mehrheitlichem Votum für ihn, sie scheinen jedoch nicht seine Verbündeten zu sein.
Die indigene Bewegung in Ecuador wollte – und erlangte – die Macht auf kommunaler und Provinz-ebene sowie in den für indigene Interessen relevanten Bereichen der Regierung, doch änderte sie nichts an der rassistischen und ausschließenden Struktur des Staates. Die Allianz zwischen der indigenen Bewegung und dem Militär Lucio Gutiérrez bei der Wahl 2002 war ihr größter Erfolg. Sie zeigte ihre Fähigkeit, Wählerstimmen zu bündeln, und führte zum Sieg des Kandidaten, der die Indigenen jedoch betrog, indem er im Amt das vereinbarte Programm durch ein neoliberales ersetzte. Die Intervention der Indigenenbewegung Pachakutik kam zu spät. Die Regierung Gutiérrez wurde im April 2005 zu Fall gebracht, jedoch nicht durch die Mobilisierung der Indigenen, sondern der Mittelschicht, der als „Forajidos“ („Banditen“) bezeichneten Menge, die das geltende politische System in Frage stellte.
Darauf ging die Präsidentschaftskandidatur des linken Wirtschaftswissenschaftlers Rafael Correa zurück, der nach dem Sturz Gutiérrez’ unter der Regierung Palacios zunächst Wirtschaftsminister gewesen war. Correa erreichte die Durchsetzung anti-neoliberaler Forderungen, die von der unzufriedenen Bevölkerung vorgetragen wurden. Dazu gehören die Aufhebung des Konzessionsvertrags mit dem Ölmulti OXY, die Verhinderung des Freihandelsvertrags mit den USA, die Anhebung der Verkaufssteuer für Erdöl und die Erhöhung öffentlicher Ausgaben. Correa übernahm einen anti-politischen Diskurs, der die Vorherrschaft der etablierten Parteien im Parlament kritisierte. Er kandidierte ohne eigene geschlossene Partei, über das Wahlbündnis Alianza PAIS, das keine KandidatInnen für das Parlament aufstellte. Pachakutik hingegen weigerte sich, ein Wahlbündnis mit Correa einzugehen, und stellte mit Luis Macas einen eigenen Kandidaten auf. Der Indigenen-Aktivist, der Landwirtschaftsminister unter Gutiérrez gewesen war, erhielt jedoch gerade einmal 2,1 Prozent der Stimmen.
Correa gewann die Stichwahl für das Präsidentenamt im November 2006 mit 56,7 Prozent der Wählerstimmen und trat am 15. Januar 2007 sein Amt an. Im April sprachen sich in einem Referendum 87 Prozent für die Einberufung eines Verfassungskonvents aus. Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung am 30. September gewann Alianza PAIS mehr als 70 Prozent der Sitze. Der Konvent wurde dann am 30. November in Montecristi, in der Provinz Manabí, eröffnet, da man sich auf keinen anderen Ort einigen konnte. Er beendete seine Arbeit am 24. Juli dieses Jahres, ohne dass sich die Opposition nennenswert beteiligt hatte. Der schwerwiegendste Vorfall während seines Bestehens war der Rücktritt des Vorsitzenden der Versammlung, Alberto Acosta, nach Meinungsverschiedenheiten mit Correa. Trotz des Widerstands der Opposition und der Kritik der indigenen Bewegung gelang es dem Präsidenten offenbar, den Verfassungsprozess so zu gestalten, dass die konflikthaften Erfahrungen Boliviens sich nicht wiederholten.
Am 15. Mai meldete die Dachorganisation der ecuadorianischen Indigenen (CONAIE) ernsthafte Bedenken an der Verfassung an und erklärte den „Widerstand gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung von Alianza PAIS, welche darauf abzielt, die Ländereien des Staats und der indigenen Völker an die multinationalen Erdöl-, Bergbau-, Pharma-, Holz- und Energiekonzerne zu übereignen“.

Kasten:
Die Leitlinien der neuen ecuadorianischen Verfassung,
Über die am 28. September per Referendum abgestimmt wird:
Die Verfassung schreibt ein postneoliberales Modell der einschließenden, nachhaltigen, sozialen und solidarischen Entwicklung fest – der Staat erlangt die Kontrolle über den Markt zurück. Im Hinblick auf die Forderungen der Indigenen wird ein „gutes Zusammenleben“ angestrebt, die Harmonie in den Beziehungen der Menschen untereinander und zur Natur; der Mensch wird als über dem Kapital stehend betrachtet. Die Rechte der Natur werden verankert, ebenso wie die Gleichberechtigung der verschiedenen Ethnien, die Erhebung von Quechua zur Amtssprache, die Anerkennung der indigenen Rechtsprechung, das Recht auf Wasser und Ernährungssouveränität. Nicht enthalten ist die Bedingung eines vorherigen Einverständnisses bei der Ausbeutung von Bodenschätzen. Im Gegenteil: Es wird die Notwendigkeit festgeschrieben, über Bergbau und Ölförderung Mittel zum Wohle der Mehrheit der Bevölkerung zu erwirtschaften – mit starker Beteiligung des Staats, jedoch ohne dabei die multinationalen Konzerne „zu vertreiben“. In der Landwirtschaft wird der Anbau von Genpflanzen und Agrotreibstoffen erlaubt.

Die Verfassung schreibt den kostenlosen Zugang zu Bildung bis hin zum Hochschulbesuch fest, außerdem ein staatliches Sozialversicherungssystem, das nicht privatisiert werden kann. Im Bereich des Arbeitsrechts werden die Arbeitnehmerüberlassung verboten und die Mindestlöhne Arbeitgeber angehoben.

Das Präsidialsystem wird weitergeführt, dem Präsidenten wird nun allerdings auch die unmittelbare Wiederwahl nach der ersten Amtszeit eingeräumt. Zudem wird es Änderungen beim Obersten Gerichtshof und Beschneidungen von Parlamentsbefugnissen geben.

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