Karibik | Literatur | Nummer 282 - Dezember 1997

Zwischen den Winden

Ostkaribische Inseln im Brennpunkt der LAB-Serie

Abgesehen von Kuba findet die Karibik selten das Interesse der Medien. Ganz besonders trifft dies auf die ostkaribischen Inseln zu. Zu klein, zu weit weg, und wenn nicht gerade mal ein Hurrikan über sie hinwegfegt oder ein Vulkanausbruch wie jüngst in Montserrat einen Großteil der Bevölkerung zum Verlassen der Insel zwingt, zu uninteressant. Daß die Inseln mehr zu bieten haben als Vulkane und Hurrikane, wird im neuesten Buch der „In Focus“-Serie des Latin America Bureau (LAB) nachdrücklich dargelegt. Ein prägnantes, spannendes und kurzweiliges Buch.

Martin Ling

Die Zielsetzung des „Guide“ ist klar: Gemeinsames und Trennendes der ostkaribischen Inseln aufzuzeigen. Gemeinsames wie exemplarisch die koloniale Vergangenheit, Trennendes wie die unterschiedliche Ablösung von den Kolonialmächten England, Frankreich und Holland. Die Ostkaribik umfaßt geographisch neben den größeren Inseln Trinidad & Tobago und Barbados die Leeward- und die Windward-Inseln. Leeward und Windward beschreibt dabei die Position der Inseln im Verhältnis zu dem vorherrschenden Ostwind. Die nördlicheren Leeward-Inseln reichen von Anguilla bis zu Montserrat und liegen leewärts, sprich mit dem Wind. Die südlicheren Windward-Inseln reichen von Dominica bis zu Grenada und liegen windwärts, sprich gegen den Wind (siehe jeweils Karte). Eben die Geographie war für die Geschichte der Inseln ausschlaggebend. Die ersten europäischen SiedlerInnen sahen die Inseln vornehmlich als Exportanbaugebiete, in erster Linie für Zuckerrohr. Wie das Zuckerrohr wurden auch Zitrusfrüchte und später Bananen nicht urprünglich in der Karibik angebaut, sondern aus anderen Regionen eingeführt: Zuckerrohr von den atlantischen Inseln und den Kanaren, Zitrusfrüchte via Asien und Europa.
Christoph Kolumbus bahnte auch in der Ostkaribik den Weg für die europäischen SiedlerInnen, zeigte selbst aber wie die spanische Krone wenig Interesse an den Inseln. Die UreinwohnerInnen der Karibik, die Arawaken und die Kariben, wurden dennoch schnell ausgerottet. Dem Hunger, Seuchen und direkter Gewalt waren sie nicht gewachsen. So waren die friedlichen Arawaken schon fünfzig Jahre nach Kolumbus von der Bildfläche verschwunden, während die kämpferischen Kariben zumindest einzelne Inseln und Siedlungen geraume Zeit halten konnten. Um die hundert ihrer Nachkommen leben noch heute auf einem Gebiet an der Ostküste von Dominica, das ihnen 1903 von den Briten zur Verfügung gestellt wurde.
Mangels spanischen Interesses waren es seit der Mitte des 17. Jahrhunderts Großbritannien, Frankreich und in geringerem Maße Holland, die sich als Kolonialmächte etablierten. Die ankommenden EuropäerInnen waren eine bunte Mischung sozialer Klassen. Reiche, die noch reicher werden wollten, weniger Reiche, die schnell reich werden wollten, und Arme, die auf der Suche nach einem schlichten Broterwerb waren. Gerade letztere wurden als VertragsarbeiterInnen für die Plantagen angeheuert, weil afrikanische SklavInnen am Anfang der Kolonialisierung zu teuer waren oder nicht ausreichend zur Verfügung standen.
Die heutige Bevölkerungsstruktur ist hingegen überwiegend von Nachfahren afrikanischer SklavInnen geprägt, die während der Sklaverei in die Karibik verschifft wurden. Die Abschaffung der Sklaverei erfolgte in den britischen Kolonien 1833, in den französischen 1848 und in den holländischen 1863. Vieles lebt indes fort, die Einstellung gegenüber landwirtschaftlicher Arbeit und die ethnischen Beziehungen wurden beispielsweise maßgeblich durch die Sklaverei beeinflußt. Auch wiederum durch ihre Abschaffung, denn der dadurch entstehende Arbeitskräftemangel wurde mit VertragsarbeiterInnen insbesondere aus Indien behoben, vor allem in Trinidad. Dort wurden von 1838 bis 1917 145.000 InderInnen angeworben, was die ethnische Struktur des Landes nachhaltig verändern sollte (siehe nachfolgenden Artikel zu Trinidad & Tobago).
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgte eine Phase politischer Unruhe. Durch den Weltkrieg waren die Inseln von ihren Handelsverbindungen und Investitionskanälen abgeschnitten worden, und die wirtschaftliche Lage hatte sich überall immens verschlechtert. Die neuen Regierungen in Frankreich und England versprachen tiefgreifende Veränderungen.
Schon 1946 wurden Martinique und Guadeloupe zu französischen Übersee-Departements, mit gleichen Rechten und Pflichten wie jedes andere Departement auch. Vorangegangen war eine Volksabstimmung auf den beiden Inseln, die beide Male überwältigend für diesen Status ausfiel. Die holländischen Inseln sprachen sich ebenfalls für die Option der Assimilation aus. 1954 gewährte Königin Juliana den holländischen Antillen (Aruba, Bonaire, Curaçao, Saba, Sint Eustatius und Sint Maarten) den gewünschten Status. Sint Maarten hat dabei eine besondere Kuriosität zu bieten. Die Insel ist seit 1648 in einen französischen (St. Martin) und einen holländischen Teil gespalten. Der französische Teil ist seit 1946 Sub-Präfektur von Guadeloupe, der letztere gehört seit 1954 zum holländischen Königreich: die Europäische Union mitten in der Karibik, auf 34 Quadratkilometern und fast ohne Grenzkontrollen. Ganz anders verlief die Entwicklung bei den zum United Kingdom gehörenden Inseln. Die Briten zeigten wenig Neigung, ihren Inseln ähnliche Rechte einzuräumen. Da sie die Unabhängigkeit für die einzelnen Inseln für schwer durchführbar hielten, plädierten sie für eine Föderation der Inseln, der sogenannten Federation of the West Indies. Die ostkaribischen Inseln unterstützten dieses Vorhaben, das 1958 Realität wurde.
Allerdings währte das Projekt nicht lange. Jamaica wollte die kleineren Inseln nicht länger subventionieren und trat 1961 aus, um solo die Unabhängigkeit anzustreben. Die Föderation war ohne die größte westindische Insel tot, und die britische Regierung stand vor dem Problem, die ostkaribischen Inseln loszuwerden. Das gelang mittels Entlassung in die Unabhängigkeit in bezug auf Trinidad & Tobago (1962) und Barbados (1966) bereits in den sechziger Jahren. Bei den kleineren Inseln dauerte es bis in die siebziger und achtziger Jahre, so daß mit Ausnahme der unlängst prominent gewordenen Vulkaninsel Montserrat alle anderen ostkaribischen Inseln inzwischen unabhängig sind.

Tourismus und Bananen

In den letzten 40 Jahren bilden der Tourismus und die Bananen die Haupteinkommens- und Beschäftigungsquellen auf den ostkaribischen Inseln. Dazu kommt noch das koloniale Erbe „Zuckerrohr“. Sowohl der Absatz von Zucker als auch von Bananen beruht auf eingeräumten Handelspräferenzen. Zu auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähigen Preisen vermögen die Inseln nicht zu produzieren. Das ist ein großes Problem, da die Präferenzen zeitlich befristet sind. Diese Bevorzugung für den Zucker und für die Bananen seitens der Europäischen Union läuft 1999 aus, und eine Verlängerung ist fraglich, zumal die USA bei der Welthandelsorganisation (WTO) erfolgreich gegen den erschwerten Marktzugang für die lateinamerikanischen Dollar-Bananen geklagt haben. Diversifikation tut not, und entsprechende Versuche werden unternommen – in Richtung Melonen, Ananas, Passionsfrucht und und und.
Daß der Tourismus so an Bedeutung gewinnt, ist nachgerade selbstverständlich. Die einzige Insel, die aus dem Rahmen fällt, ist Trinidad. Öl- und Gasvorkommen ermöglichten goldene siebziger Jahre und sind auch in den letzten drei Jahren Grundlage des wirtschaftlichen Aufschwungs, immer korrelierend mit der Ölpreisentwicklung.
Angesichts der ausgeprägten ethnischen Segmentierung bleiben Spannungen nicht aus. Der Einfluß der Weißen hält sich inzwischen in Grenzen, vor allem was politische Positionen betrifft. Oft sind sie aber noch Teil der kleinen ökonomischen Elite und vermögen darüber Einfluß geltend zu machen. Der größte ethnische Konflikt findet in Trinidad statt. Dort kämpfen die Indo-TrinidadierInnen gegen die Afro-TrinidadierInnen um die politische und wirtschaftliche Hegemonie.

Kultureller Schmelztiegel

Positiven Niederschlag findet die ethnische Vielfalt in kultureller Hinsicht. Da steht der schwarze Literatur-Nobelpreisträger von 1992, Derek Walcott aus Santa Lucia, neben dem indischstämmigen V.S. Naipaul aus Trinidad, um nur die Prominentesten zu nennen.
Musikalisch hat die Region mit dem Zouk aus Martinique und Guadeloupe sowie dem Calypso aus Trinidad überregionales Renommee erlangt. Der Calypso ist zudem aus dem Karneval Trinidads nicht wegzudenken. Alle Inseln haben lokale Feste zu bieten, der Karneval auf Trinidad ist jedoch der unumstrittene Riese unter ihnen.
Reisetips, Literaturhinweise und Basisinformationen runden den besprochenen „Guide“ ab. Für alle, die Interesse an den ostkaribischen Inseln haben, ein idealer Einstieg, Englischkenntnisse vorausgesetzt.

James Ferguson: Eastern Caribbean in Focus. A guide to the People, Politics and Culture, Latin American Bureau (LAB), London 1997, 82 S., Bezug: LN-Vertrieb, Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin.

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