Film | Nummer 455 - Mai 2012

Zwischen Großstadtphobien und Liebe mit Hindernissen

Der Film Medianeras zeigt die Widersprüche des Lebens in der Großstadt Buenos Aires

„Medianeras“ – ins Deutsche übersetzt: „Brand(schutz)mauern“ oder auch Seitenwände von Häusern, die sichtbar werden, wenn ein Haus innerhalb einer Straßenzeile fällt. In diesem Film sind konkret die Seitenwände der argentinischen Großstadt Buenos Aires gemeint, aufgrund ihrer Häufigkeit ein Charakteristikum der Stadt. Auf den ersten Blick erscheinen sie nutzlos; allenfalls sind sie durch Kunst oder Werbung verziert.

Maja Dimitroff

Doch stehen die Seitenwände in dem Film symbolisch für das „Dazwischenliegende“ im Leben, das ebenso trennen wie auch zusammenführen kann. Erst trennen die Seitenwände für Jahre die Wohnungen zwei junger Menschen voneinander, dann aber führen sie beide auf ihrer Suche nach der Liebe zusammen: in dem Moment, als Martín und Mariana Fenster in ihre Seitenwände brechen lassen und sich so erstmalig wahrnehmen.
Martín und Mariana leben in gegenüberliegenden Häusern – und beide sind allein. Mariana ist Architektin, verdient ihr Geld aber mit der Dekoration von Schaufenstern. Gerade erst hat sie ihre langjährige Beziehung beendet und packt ihre 27 Umzugskartons in der neuen Wohnung gar nicht erst aus. Martín dagegen wurde bereits vor einiger Zeit von seiner Freundin sitzengelassen und verbringt seinen Alltag als Webdesigner zurückgezogen in seiner kleinen Wohnung und in der virtuellen Welt. Beide kämpfen in der „Hauptstadt der Neurosen“ mit ihren Phobien – ein witziger Blick auf Buenos Aires und seine Bewohner.
Medianeras lässt sich als eine moderne „urbane Fabel“ beschreiben, welche die Nachteile des modernen Lebens in einer modernen Großstadt in den Vordergrund stellt: urbane Einsamkeit und kollektive Neurose. Obwohl man mit fünfzig Menschen in einem Wohnhaus lebt, fühlt man sich einsam. In einem U-Bahn-Wagen fühlen hundert Menschen auf dem Weg nach Hause Gleichgültigkeit füreinander. Statt uns zu beruhigen, macht es uns eher nervös, wenn wir von vielen Menschen umgeben sind. Vor dem Hintergrund des digitalen Zeitalters spitzt sich dies noch mehr zu: Man ist zwar immer stärker digital vernetzt, aber gleichzeitig entfernt oder isoliert man sich immer mehr. Um wichtige Dinge miteinander zu teilen, wird aus Bequemlichkeit über Chat, E-Mail und sms kommuniziert – mittlerweile bezeichnend für die sozialen Beziehungen der Moderne. Das Individuum geht dabei im Großstadtdschungel unter. Man ist einfach nur eine Person unter Millionen von Menschen, doch wie soll man da seinen Platz in der Gesellschaft finden? Und gar die große Liebe? Auch in Medianeras begegnen sich Menschen, die scheinbar gut zusammenpassen. Aber letztlich bewegen sich die „Zahnräder“ nicht im Einklang. Also suchen die Protagonisten nach ihrem fehlenden Teil weiter, weil sie die Hoffnung nicht aufgeben.
Die Stadt Buenos Aires dient dabei als Schauplatz und stellt die ideale Projektionsfläche für die vier Themenstränge Stadt, kollektive Neurose, Isolation und Suche nach der Liebe dar: Buenos Aires ist die Stadt mit der höchsten Psychologendichte weltweit. Auch ist sie eine Stadt, die genauso chaotisch, unberechenbar und widersprüchlich wie ihre Bewohner_innen ist. Medianeras thematisiert nicht nur eindringlich das Leben in der Großstadt, das verlockend und gleichzeitig verstörend ist, sondern stellt auch dar, dass Städte uns Menschen so ähnlich sind. Luis Martín-Santos, spanischer Psychiater des 20. Jahrhunderts, formulierte es punktgenau: „Der Mensch ist das Abbild der Stadt und die Stadt ist das nach außen gestülpte Innere des Menschen“ – genau darum geht es in dem Film Medianeras.
Die Geschichte von Mariana, Martín und der Stadt Buenos Aires hat der argentinische Regisseur Gustavo Taretto übrigens schon einmal erzählt: als Kurzfilm, der weltweit 40 Preise gewann und von Anfang an, einen Langfilm in sich barg, den der Regisseur an die Oberfläche holen wollte. Mit dem Spielfilm ist ihm das gelungen: Nun steht das Detail im Vordergrund, der Moment zur Erkundung der Tiefen und der Nuancen, der Mehrdeutigkeiten und der Widersprüche der menschlichen Beziehungen vor dem Hintergrund des Großstadtlebens. Dies wird von dem Regisseur sehr gut entwickelt und inszeniert: Mit einer Reihe von abwechslungsreichen Szenen, die zum Nachdenken anregen und mit denen sich insbesondere Städter sehr gut identifizieren können – und hoffentlich auch als Anlass nehmen, ihren Platz in der Großstadt zu hinterfragen.

Medianeras // // Gustavo Taretto // Argentinien/Deutschland/Spanien 2011 // Real Fiction Verleih // 95 Minuten // Kinostart:03. Mai 2012// www.Medianeras.com

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren