Kuba | Nummer 415 - Januar 2009

Zwischen Revolution und Reform

Ein Überblick über 50 Jahre castristisches Kuba

Als in Kuba 1959 die Revolution siegte, war die Insel das Symbol für die linken Bewegungen in Lateinamerika. Mit der Krise in den 90er Jahren endete dieser Vorbildcharakter Kubas. Doch die Errungenschaften der Revolution bleiben – wenn auch prekär – erhalten.

Michael Zeuske

Kuba ist die Insel der Revolution par excellence in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte Lateinamerikas und die Geschichte der Beziehungen zwischen Lateinamerika und den USA wäre ohne die kubanische Revolution anders verlaufen. Auch in den Zeiten der so genannten beschleunigten Globalisierung seit 1990, für das Land eine Zeit der tiefsten Krise, hat Kuba zumindest diskursiv im Innern des Landes die Rhetorik von der Revolution, beibehalten.
Das heutige Kuba ist das Ergebnis dieser Revolution und der tiefer reichenden Geschichte der Insel, nicht etwa das Ergebnis der Herrschaft einer Diktatur oder zweier Brüder, wie in vielen Talkshows, Feuilletons und Fernseh-Formaten gerne dargestellt. Aus dem Blick spätkapitalistischer Gesellschaften stellte die kubanische Gesellschaft seit spätestens 1962 eine Anomalität dar; aus Sicht der Masse der KubanerInnen und vieler Menschen der damaligen „3. Welt“ war es das Modell einer gerechten und egalitären Gesellschaft, die allen Menschen Kubas gleiche Rechte und Chancen bot sowie der entstehenden „3. Welt“ die Solidarität Kubas. Etwa 80 Prozent aller KubanerInnen, die nicht zur Oberschicht oder zu oberen Mittelklassen gehörten, haben die Chancen dieser neuen Gesellschaft genutzt. In der realen Geschichte hat Kuba, spätestens 1957-1959 und 1959-1967, zwei Seiten einer wirklichen Revolution erlebt. In der ersten Phase 1957 bis 1959 war es ein Guerilla-Krieg, der mit dem Sturz der korrupten und brutalen Regierung von Fulgencio Batista endete. Die zweite Phase von 1959 bis 1967 war die Zeit als sich neue Machtinstitutionen – etwa die revolutionäre Regierung unter Fidel Castro mit mando único (einer Befehlsgewalt), die Milizen, die Partei – sowie der sozialen Revolution im Innern. Gleichzeitig gab es Versuche, das Umfeld, vor allem Lateinamerika, aber auch den Kongo in Afrika, zu revolutionieren. Die Versuche des Revolutionsexportes durch Unterstützung anderer antikolonialer und/oder revolutionärer Bewegungen zogen sich noch bis zur Intervention 1989/90 in Angola hin. Diese Interventionen wurden bald komplettiert durch den Einsatz ziviler Kräfte, vor allem LehrerInnen und ÄrztInnen, im befreundeten Ausland. Im Innern aber waren die Potenzen eines Aktionsprogrammes, das wirklich den Namen Revolution verdient hätte, mit dem Tod Che Guevaras 1967, spätestens aber mit dem Versuch des „großen Sprungs auf kubanisch“, der gran zafra (großen Zuckerernte) von 1970, ausgeschöpft und aufgebraucht.
Was ist dann mit dem begrifflichen und realhistorischen Kontrapart der „Revolution“, der Reform? Zunächst wurde mit den Begriff der „reforma“ die großen, eigentlich sozialrevolutionären Umwälzungen nach dem Sieg der politisch-militärischen Revolution benannt: reforma agraria, die Agrarreform seit 1959/1960, war die größte Agrar­umwälzung Lateinamerikas seit der haitianischen Revolution 1804, oder reforma urbana, die Stadtreform, seit 1959.
Die kubanische Revolution in ihrer Langversion, war auch deswegen eine tiefe politische und soziale Umgestaltung, weil sie sich auf Klassen stützte – auf Bauern und Bäuerinnen, ZuckerarbeiterInnen und urbane Mittelklassen der kubanischen Bevölkerung. Hauptziele waren Gleichheit, nationale Souveränität und Internationalismus.
Egalitäre Gesellschaften haben zwei Grundprobleme – zum einen müssen sie sich nach außen in einer Welt mächtiger, nichtegalitärer und hierarchischer Staaten verteidigen. Andererseits beraubt die fehlende interne Hierarchisierung die Wirtschaft ihrer wichtigsten Antriebe – der Konkurrenz und der Angst. Das fördert monolithische, auf charismatische Anführer zugeschnittene Herrschaftssysteme, die allerdings für längere Zeit auf hohe Zustimmungen setzen können. Das ist das „Geheimnis“ der langen Herrschaft der Castro-Brüder. Dazu kommt natürlich noch die fast ideale Ergänzung der beiden Brüder schon lange vor dem offizielle „Machtwechsel“ 2008: Fidel der charismatische Intellektuelle, ein politisches Tier, ein Magier politischer Konstellationen, und Raúl, der loyale Bruder und interne Kaderchef der Revolution, abgesichert durch Armee, Geheimdienste und alle bewaffneten Kräfte. Noch heute, da die sozialen Errungenschaften – wie das Schulwesen, das gute Gesundheitssystem, die gute Sicherheitssituation, das Fehlen von Hunger – schon ziemlich ramponiert sind, können in den meisten Länder Lateinamerikas die jeweiligen 80 Prozent-Mehrheiten von „kubanischen Verhältnissen“ nur träumen.
Notwendige Anpassungen und Änderungen heißen auf Kuba nicht Reformen, sondern weiterhin „revolución“. Die kubanische Führung will auf keinen Fall unter Verdacht kommen, sie bestehe aus Reformisten. Eine erste Phase von Reformen als diskursive „revolución“ hat Kuba zwischen 1970 und 1986 erlebt, als es Versuche zu Effektivierung der Wirtschaft nach „sozialistischer Rechnungsführung“ und die erste Einführung von privaten Bauernmärkten gab. Das führte vor allem in der zweiten Hälfte der Siebziger, zusammen mit den großen Errungenschaften der sozialen Umwälzung zu einer deutlichen Verbesserung aller grundlegenden Daten wie geringer Säuglingssterblichkeit, hoher Lebenserwartung, Bildung, besserer Ernährungsstand und Gesundheit der Bevölkerung. Gleichzeitig kam es auch zu einem höheren Grad an Uniformierungsdruck und Repression, weshalb diese Epoche auch als „graue Siebziger“ bekannt wurde. In gewisser Weise setzten sich diese Reformen, trotz Zucker- und Finanzkrise seit 1982, fort. Der Versuch, einer stärkeren Öffnung hin zum Markt und zur wirtschaftlichen Rechnungsführung wurde seit spätestens 1986 durch Fidel Castro selbst abgebrochen und durch eine neue Runde diskursiver Revolutionierung, mit deutlichem Bezug zum Mythos des Che Guevara, abgelöst.
Trotz aller Schwierigkeiten gaben die Elemente eines Sozialstaates Kuba seine Strahlkraft bis 1990. Mit der Krise 1990 – die weltweit eben nicht nur aus der deutschen „Wiedervereinigung“ bestand – traten drei miteinander verwobene historische Elemente in der Vordergrund, die die Insel nachhaltig veränderten. Ersten wurde die „revolutionäre Außen-, Symbol- und Modellpolitik“, die die kubanischen kommunistischen Eliten mit einiger Berechtigung und in der Annahme betrieben, Havanna sei immer noch, wie schon seit ca. 1830, Schnittpunkt der atlantischen Welt, zu teuer. Zweitens brach der „Realsozialismus“ zusammen und entzog Kuba die Unterstützung eines Imperiums. Alle Eliten der Insel bis dahin hatten sich auf ein Imperium bezogen, in der historischen Abfolge waren dies das Spanische Imperium bis 1898, die USA bis 1959, die UdSSR und der Realsozialismus bis 1990 und schließlich auch ab 1996, für circa fünf Jahre, die EU. Drittens hatte die egalitäre Gesellschaft angesichts einer ganzen Generation im sozialistischen Kuba geborener „neuer Menschen“ schon in den achtziger Jahren ihre Grenzen erreicht. Eigentlich wären Leistung und Aufstieg auf neuer, sozialistischer Grundlage und wirkliche wirtschaftliche Reformen das Gebot der Stunde gewesen. Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus kam es zwischen 1992 und 1993 zur bis dahin tiefsten Krise des Landes. Jetzt wurde wirklich das Herrschaftssystem der Castros wichtig – in erster Linie verhinderte es den Zusammenbruch, zusammen mit der Tatsache, dass es in ehemaligen kolonialen Sklaverei-Gesellschaften des peripheren Kapitalismus viele egalitär fühlende Menschen gibt. Nun traten auch repressive Seiten stärker hervor. Zugleich scheiterte die Regierung bei der sozialen Verankerung der notwendigen Reformen, die zwischen 1990 und 1997 als erste Phase des so genannten periódo especial, der „Speziellen Periode“, einfach zugelassen werden mussten. Es wurden unter anderem internationaler Tourismus gefördert, der Dollar als Zahlungsmittel legalisiert, Bauernmärkte eingerichtet und private Restaurants zugelassen. Die realen Änderungen führten aber nicht dazu, dass Kuba als einzige westliche Gesellschaft bewies, dass „Reformen im Sozialismus“ erfolgreich sein können. Vielmehr wurden parallel der Außensektor und die inzwischen „normale“ Gesellschaft betont, obwohl der Schwarzmarkt boomte und lokale Klientelschaften blühten. Für die Armee, ÄrztInnen, SportlerInnen und KünstlerInnen gab es partikulare Privilegien. Die Errungenschaften der Revolution, etwa im Gesundheits- und Bildungsbereich, waren noch da – aber sie verfielen und viele Ärzte befanden sich auf internationalen Missionen. Die KubanerInnen mussten sich im Alltag an die Verhältnisse einer Krise und an eine informelle hierarchisierte Gesellschaft mit Schwarzmärkten gewöhnen, während die Regierung den egalitären Diskurses beibehielt. Die Castros getrauten sich nicht, die wirklich großen internen Probleme anzugehen – konsequente Verjüngung der Politik, mehr Markt im Sozialismus, konsequentes Steuersystem, Verrechtlichung, Umweltpolitik und vor allem: Agrarreformen und urbane Reformen, die wirklich sozialen Wohnungsbau, Nahrungsmittelsicherheit und gerechte Verteilung des Wohnraums ermöglichen würden.
Es kam aber auch nicht zu einer Revolution der KubanerInnen gegen die Castros und den Castroismus. Ganz im Gegenteil, bereits seit Mitte der 1990er Jahre wurde deutlich, dass Fidel Castro weltweit und vor allem in Lateinamerika immer mehr zum Mythos und sozusagen zum Großvater von Revolution und linken Bewegungen verklärt wurde. Im Innern Kubas wurde schon zu Beginn der neunziger Jahre die „Spezielle Periode“ ausgerufen, die quasi mit Mitteln des Kriegskommunismus und eines verstärkten Nationalismus die sozialen Errungenschaften notdürftig erhalten sollte. Die Regierung wollte die Krise auf viele Schultern verteilen und verteilte Medikamente, Essen und Geräten wie zum Beispiel Fahrräder, es wurden Küchengärten in den Städten zugelassen und private Schweine- und Hühnerhaltung in städtischen Wohnungen gefördert. Nach außen wurden halbherzige Reformen in Richtung Marktöffnung gemacht, zum Teil auch von außen – etwa in der Form von joint ventures mit Unternehmen – zugelassen. Der Staat drückte auch die Augen bei Schwarzmärkten zu. Seit 1993 wurde der Gebrauch des Dollars als erstes Zahlungsmittel in den Sektoren, in denen der Staat Marktbeziehungen zulassen wollte, nicht mehr bestraft und diente im Innern als zweites Zahlungsmittel. Damit wurde der rapide Verfall der kubanischen Währung gestoppt, deren Austauschverhältnis zum Dollar 1993 zeitweilig 1:130 betragen hatte. 1994 pegelte sich die Relation zwischen Dollar und kubanischem Peso auf eine Ratio zwischen 1:20-1:25 ein. Private Bauernmärkte und „Arbeit auf eigene Rechnung“ – etwa im Handwerk oder bei Restaurants – belebten die Wirtschaft. Größere Teile des Bodens wurden Genossenschaften überlassen, allerdings nicht als Eigentum.
Seit 1997 wurde aus Angst vor zunehmender Differenzierung begonnen, selbst diese bescheidenen Anfänge von Reformen im Sozialismus abzuwürgen. Kuba ging über zur letzten Phase der direkt von Fidel Castro verantworteten Wirtschaftspolitik. Der Abbruch der Reformen war relativ leicht. Einerseits gab es das rechte Bush-Amerika, andererseits den Linksruck in Lateinamerika; vor allem die Hilfe Venezuelas war wichtig. Auf Kuba selbst gab es massive Kritik an den Verletzungen der „Gleichheit“. Während der Reformen 1993-1997 entstanden informelle Hierarchisierungen – Bauern und Handwerker, Kellner und Taxifahrer sowie jineteros/as (Prostitutierte) standen schnell besser da als die Stützen des Systems. Eines wurde allerdings nicht gesagt – alle „neuen Reichen“ bedienten sich des Schwarzmarktes, den die Regierung stillschweigend akzeptierte, um nicht das heiße Eisen „Reformen im Sozialismus“ angehen zu müssen.
In der zweiten Hälfte der 90er Jahre versuchte die kubanische Führung, paralell zum wieder einsetzenden Wirtschaftswachstum, die Zuckerökonomie zu modernisieren. Das misslang und endete 2001/2002 in einem Quasi-Zusammenbruch der großen Zuckerwirtschaft. Seitdem läuft eine stille, aber gigantische Umwälzung auf dem kubanischen Land ab, die eine Reform ersten Ranges darstellt. Insgesamt aber wurden Reformen in Richtung mehr Markt auf den anderen Gebieten in Ansätzen seit 1997, und verstärkt seit 2004, abgewürgt. Dabei wurde auf die negativen Folgen des Schwarzmarktes und des Tourismus mit der Prostitution verwiesen. Das war durch die immer engere Bindung an das chavistische Venezuela und wegen der Kompensationsgeschäfte Ärzte und Bildung gegen Öl zwischen Kuba und Venezuela möglich. Seit der so genannten „Machtübernahme“ durch Raúl Castro gab es im Innern wieder einige kleinere Reformen – es wurde zum Beispiel Land vergeben, allerdings ohne an der Eigentumsfrage zu rühren. Alles in allem aber wird weiterhin ein diskursiver Kurs der „revolución permanente“ in der Tradition der politischen Revolution von 1959 gefahren und der „neue“ Raúl Castro, ist ebenso Vertreter des Castroismus wie der „alte“ Fidel Castro.
Vor diesem Hintergrund – die LeserInnen mögen dem Historiker verzeihen, dass er lange Linien betont und sich nicht am politologischen Kaffeesatzlesen beteiligt – ist es ganz klar, was die „Macht­übernahme“ durch den jüngeren Castro im Februar 2008 bedeutet: Kontinuität des Castroismus „ohne Fidel“, aber mit Armeechef Raúl Castro und einem Kommentator Fidel. Die vorsichtigen Änderungen 2007-2008 – die wichtigsten sind die über Landnutzung und differenzierten Lohn – schieben die notwendigen Reformen im Sozialismus nur hinaus. Raúl Castro ist ein Übergangskandidat.
Kuba bedarf weiterhin der Solidarität. Mit der globalen Finanzkrise und dem Ansteigen der Nahrungsmittelpreise gerät die an sich schon prekäre Versorgung in immer tiefere Schwierigkeiten. Von Arbeits-„Produktivität“ ist auf Kuba – von ausgesuchten Sektoren, die meist unter Kontrolle der Armee stehen – eigentlich nicht zu sprechen. Die Reformeuphorie der Jahre 1993-1995 ist dahin. Und das in einem fruchtbaren Land, in dem man nur einen Stock in die Erde steckt und nach drei Wochen treibt der aus! Und das auf einer Insel, deren diskursiver Mythos darin besteht, die Revolution „für die Bauern“ gemacht zu haben! Rund die Hälfte des Bodens auf Kuba ist ungenutzt und wird immer stärker vom Marabú überwuchert, einer Pflanze, die undurchdringliche, circa zwei Meter hohe Dornenhecken bildet, aber zugleich den Boden vor Austrocknung schützt.
Sicherlich wird man das nächste Jahr abwarten müssen, um zu sehen, was die von Raúl Castro dekretierten Veränderungen für konkrete Ergebnisse in Gestalt von Nahrungsmitteln bringen, die im Land erzeugt worden sind. Und sicher muss man beobachten, welcher Politiker welchen Einfluss erhält – aber tiefgreifende Reformen oder „Umbruch“ auf der Ebene von Regierung und Herrschaft sind das nicht. Die kubanische Gesellschaft ist da schon viel weiter. Sie befindet sich wirklich seit 1990 in Umbruch und Wandel. Für sie existiert eine klare Trennlinie zu den Zeiten vor 1990. Viele Kubanerinnen und Kubaner haben sich – auf der Insel oder im Exil – individuell oder familiär globalisiert. Das ist alte kubanische Tradition.
// Michael Zeuske

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