Argentinien | Nummer 274 - April 1997

Zwischen Unnachgiebigkeit und Selbstisolierung

Seit 20 Jahren gehen die Mütter der Plaza de Mayo

Sie müssen zumindest gehen.” Nach dieser Aufforderung eines Polizisten be­gan­nen Mitte 1977 Mütter von Verschwundenen um die Säule auf der Plaza de Mayo zu ge­hen. Auch heute, vierzehn Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur, gehen die Ma­dres jeden Donnerstag für eine halbe Stunde auf den Platz vor dem Prä­si­dentenpalast.

Ulrich Brand

Auf der Plaza de Mayo, auf ihrem Platz, finden sich jeden Don­nerstag die Mütter, Groß­müt­ter und andere Fami­li­en­angehörige der während der Mi­li­tärdiktatur (1976-83) “Ver­schwun­denen” zusammen mit Sym­pathisantInnen ein. Es ist eine zum Symbol für Men­schen­würde gewordene halbe Stunde – Don­nerstag für Donnerstag, von halb vier bis vier Uhr. Es ist ein an­dächtiges Gehen über die Pfla­stersteine, auf die alle paar Meter das weiße Kopftuch gemalt ist. Das weiße Kopftuch als Symbol für den Frieden und gegen den Ter­ror. Gegen das Vergessen des Ter­rors.
Am 30. April 1977, während der blutigsten Zeit der argen­ti­ni­schen Militärdiktatur, trafen sich ei­nige Mütter zum ersten Mal auf dem Hauptplatz von Bue­nos Ai­res, der in Erinnerung an die Re­volution vom 25. Mai 1810 “Mai­platz”, Plaza de Mayo, heißt. Enttäuscht angesichts der ver­geblichen Suche nach ihren “ver­schwundenen” Kindern, oh­ne Auskunft auf den Poli­zei­sta­tio­nen, im Innenministerium oder an anderen Stellen.
Einige Mütter entschieden schließ­lich, zusammen nach ih­ren Kindern zu suchen. Bei den teil­weise bestehenden Men­schen­rechtsgruppen fühlten sie sich nicht gut aufgehoben, “es gab immer einen Schreibtisch zwi­schen uns, es hatte immer etwas Bürokratisches”, wie die Prä­sidentin der Vereinigung Müt­ter der Plaza de Mayo, Hebe de Bonafini, sagt. “Aber auf dem Platz, da waren wir gleich, allen haben sie Kinder weggenommen, al­le waren wir auf der Suche, al­le gingen wir zu den selben Stel­len. Deshalb haben sich die Müt­ter zusammengefunden. Bald wur­de der Donnerstag festgelegt, halb vier Uhr auf dem Platz. Mitte Juni 1977, als wir so 60 bis 70 Mütter waren, kam ein Poli­zist und sagte, daß der Ausnah­mezustand bestehe und wir uns hier nicht versammeln könnten. Wir müßten zumindest gehen. Und so fingen wir an, um die Mai­ensäule zu gehen.”
Als eine Mutter einmal ver­haftet wurde, gingen die anderen mit zu dem Polizeigebäude und ver­langten, eingesperrt zu wer­den. Eine Mutter, alle Mütter. So ver­hinderten sie immer wieder län­gere Verhaftungen. Als da­mals der US-amerikanische Re­gie­rungsvertreter Terence Tod­man nach Argentinien kam, pro­te­stierten die Madres als ein­zige öffentlich. Soldaten um­stellten die Mütter und forderten sie auf, den Protest aufzulösen. Als sie sich weigerten, sagte der Be­fehlshaber “Anlegen!”. Und die Ma­dres riefen “Feuer!” Das er­regte bei den anwesenden in­ter­nationalen MedienvertreterIn­nen Auf­merksamkeit. Sie kamen von der Casa Rosada herüber und wur­den so auf den Protest auf­merksam. Immer wieder nahmen die Madres an Jubelfeiern oder De­monstratio­nen für die Mili­tärregierung teil, um anderen mit­zuteilen, was im Land vor­ging.

In der Welt bekannt – zu Hause verschwiegen

Und im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 1978 nahm die Repression eneut zu. Das Land sollte sich von “seiner be­sten Seite” zeigen, weswegen das sportliche Großereignis auch mit der Olympiade 1936 in Berlin ver­glichen wurde. Die Armen­vier­tel, die an den Wegen lagen, auf denen sich die ausländischen Be­sucher bewegten, wurden mit Boll­dozern plattgemacht, die dort lebenden Menschen verjagt. Die Mütter wurden bei ihren wö­chentlichen Protesten geschlagen und immer häufiger festgenom­men. Am schmerzlichsten war, so Hebe de Bonafini, daß die Ju­bel­orgie von der Bevölkerung mit­getragen wurde, daß die ar­gentinischen Medien kein Wort über die Diktatur verloren. Dafür kamen verstärkt ausländische Me­dien ins Land, von denen ei­nige auch über die Madres be­richteten. Die holländischen Na­tionalspieler gingen sogar ganz bewußt zur donnerstäglichen Ma­ni­festation, um ihre Solidari­tät zu bekunden. Und nicht um­sonst wurde bald in Holland das erste Solidaritätskommittee ge­grün­det. Während die Madres längst in der ganzen Welt be­kannt waren, nahm die argentini­sche Gesellschaft erst gegen En­de der Militärdiktatur Notiz von dem seit Jahren währenden Kampf.
Das weiße Kopftuch, das Symbol der Madres: “Con vida se los llevaron, con vida los queremos – Lebend sind die gegangen, lebend wollen wir sie zurück.”

Erfolge und Spaltung

Die inzwischen politisch er­fahrenen Mütter standen in der ersten Reihe, als es ab 1982 um die Art und Weise der Demokra­tisierung ging. Und sie haben nicht zuletzt dazu beigetragen, daß in Argentinien zum ersten Mal in der Geschichte Latein­ame­rikas die Militärs sich nach­träg­lich vor einem zivilen Ge­richt verantworten mußten – und ver­urteilt wurden. Den Bericht Nunca Más! der CONADEP lehn­ten die Mütter ab. Er be­richte zwar viel über die Opfer und über das System des Terrors, aber sage nichts über die Täter. Die nationale Kommision für die Ver­schwundenen CONADEP wur­de 1983 von der Regierung Al­fonsín eingerichtet.
In den 80er Jahren spalteten sich an der Frage des Umgangs mit der Vergangenheit durch die Alfonsín-Regierung auch die Ma­dres. Eine Linie, die “Grün­der­innen” (Línea Fundadora), sah es als durchaus legitim an, die vom Staat er­kämpften Zu­ge­ständnisse zu ak­zeptieren. Be­son­ders um die Fragen, ob Ent­schädigungen ak­zeptiert werden sol­len oder nicht, ob Aus­gra­bungen und die Identi­fikation der Leichen zugelassen werden sol­len, ob Verhandlun­gen mit der Re­gierung Sinn ma­chen, ent­brannte der Streit. Ei­nige mein­ten, daß das eine indi­viduelle Ent­scheidung sein müsse, Ent­schä­digungen und Ausgrabungen zu befürworten. Andere argu­men­tierten, daß erst die Täter be­nannt und verurteilt werden müß­ten. Die Annahme von Geld und die Untersuchung der Über­reste gehe darüber hin­weg und ak­zeptiere Tatsachen.
Ein schmerzhafter Prozeß be­gann, der schließlich zur Tren­nung der Mütter in zwei ver­schie­dene Organisationen führte. Auf der einen Seite die Línea Fundadora, die Gründerinnen, die individuelle Entscheidungs­mög­lichkeiten offen lassen wol­len. Auf der anderen Seite dieje­nigen mit der unnachgiebigen Po­sition in der Asociación Ma­dres de Plaza de Mayo um Hebe de Bonafini, die öffentlich prä­senter und in der Regel als Madres bekannt sind.
Auch die Großmütter der Kin­der von Verschwundenen, die Abue­las de Plaza de Mayo, hat­ten sich organisiert. Viele Ge­fangene hatten kleine Kinder oder waren gar schwanger und ge­baren vor ihrer Ermordung. In vie­len Fällen adoptierten Militärs die Säuglinge. Auch andere Fa­mi­lienmitglieder schlossen sich in den 80er Jahren zusammen, um für die Aufklärung des Schick­sals ihrer verschwundenen Ver­wandten zu kämpfen.
Die Mütter sind heute ein Sym­bol für Menschenrechte in al­ler Welt. Sie selbst sind natür­lich alt geworden. Ihre Kinder wa­ren damals Mitte/Ende der 70er Jahre selbst mindestens 15 Jahre alt. Hebe de Bonafini ist zweifellos der politische und in­tel­lektuelle Kopf der Madres. Zwei Söhne und eine Schwie­ger­tochter von ihr sind “ver­schwunden”, und sie sagt von sich, daß sie durch den Verlust ihrer Kinder erst geboren wurde. Erst damals sei sie politi­siert wor­den und trage die politi­schen Überzeugungen ihrer Kin­der wei­ter.
Die Madres der Asociación ha­ben ein politischeres Ver­ständnis von Geschichte, wäh­rend die Gründerinnenlinie sich eher als “klassische” Menschen­rechtsgruppe versteht und ihre le­gitimen Rechte einklagt. Die Müt­ter der Asociación kämpfen nicht nur gegen das Vergessen, sondern gegen einen gesell­schaftlichen Zustand, der das Ver­gessen zuläßt. Gegen die stän­dige subtile Drohung, daß end­lich Ruhe einkehren müsse, um die Mörder nicht wieder zu pro­vozieren. Sie spielen im Kampf gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit neolibera­ler Politik und des globalen Mark­tes, denen sich offenbar al­les zu unterwerfen hat, eine wichtige Rolle. Sie beziehen sich wie viele andere Gruppen auch auf die kollektiven Erfahrungen, die zu Beginn der 70er Jahre ge­macht wurden: Daß nämlich eine breite Politisierung und de­mo­kratische Organisierung die herr­schen­den Strukturen durch­aus in Frage stellen können. Diese Mög­lichkeit, die in Zeiten großer Mobilisierungen und umfassen­der Lernprozesse besteht, mußte physisch vernichtet werden. Das war die Essenz des Militärput­sches von 1976.
Aber an einer Erfahrung kom­men auch die Madres nicht vor­bei: Daß nämlich nicht nur sie al­lein aufgrund ihrer Erfah­rungen die politischen Strategien und Kampfformen bestimmen kön­nen, daß sie nicht allein fest­legen können, was Radikali­tät in Zei­ten des Neoliberalismus heißt.

Zwischen Instrumentali­sierung und Selbstisolierung

Das Dilemma zwischen der po­li­tischen Bedeutung der Ma­dres und der Unnachgiebig­keit ihrer Positionen wurde zum 20. Jahrestag des Putsches of­fenbar. Der 24. März 1996 fiel auf einen Sonntag und ein breites Bündnis von über 200 politi­schen, so­zialen und Menschen­rechts­grup­pen, von linken Par­teien und un­abhängigen Gewerk­schaften rief zu einer Kundge­bung auf, an der über 100.000 Menschen auf der Plaza de Mayo teilnahmen. Die Madres der Asociación be­setzten bereits am Donnerstag vorher den Platz und ver­an­stalteten eine dreitägige Mani­festation. Zum abschlie­ßenden Rockkonzert Samsta­gnacht ka­men ähnlich viele und junge Menschen, die größtenteils auch am Sonntag wieder da wa­ren. Sam­stagnacht hielt die Prä­si­dentin Hebe de Bonafini eine mit­reißende Rede gegen das Ver­gessen und gegen die Art der Auf­arbeitung der Vergangenheit. Am Sonntag da­gegen war die Aso­ciación nicht unter den auf­rufenden Gruppen zur Großde­mon­stration. Das po­litische Spek­trum sei ihnen zu breit ge­wesen, viele aufrufende Gruppen wür­den sich nur pro forma an­hän­gen und hätten an­sonsten keine radikale Position in Sachen Menschenrechte. Die anderen Frau­en der Plaza de Mayo, die Müt­ter der Gründer­innenlinie, die Großmütter, die Familienan­gehörigen, sie alle riefen mit auf. Und: Kaum je­mand hat es be­merkt. Fast alle wähnten die Müt­ter der Asocia­ción dabei, nah­men deren Selbstisolierung nicht wahr.

Gegen die Vereinnahmung

Manche schieben diese Art der Politik auf die ziemlich re­so­lute Hebe de Bonafini, andere auf die Enttäuschung über die Ent­wicklungen in den letzten zehn Jahren. Das Dilemma be­steht aber auch darin, daß die Madres sich immer wieder gegen Versu­che der Vereinnahmung und In­stru­mentalisierung wehren mußten. Eine der weltweit be­kanntesten und integersten Men­schenrechtsgruppen, mit der sich die Mächtigen gerne mal publi­kumswirksam ablichten lassen und das Wort Menschenrechte im Mund führen. Aber, so die Kri­tik vieler, Bündnisse führen ja nicht zur Aufgabe der eigenen politischen Positionen.
Menschenrechtspolitik ist in der Tat nicht gleich Menschen­rechts­politik. Wenn die Mütter bis heute Aparición con Vida (etwa: Sie sollen lebend zurück­kommen) auf dem großen Trans­parent bei Demonstrationen vor sich hertragen, dann bedeutet das vor allem die Infragestellung “des Systems”. Das System, das nicht nur in einer bestimmten Zeit gefoltert und gemordet hat, sondern das heute mit anderen Mit­teln Menschen tötet, das Hun­ger und Armut vor allem bei Kin­dern erzeugt – wogegen schon die eigenen Kinder der Madres gekämpft haben – hängt mit der grundlegenden sozialen und politischen Verfaßtheit Ar­gentiniens und der Welt zusam­men. Das ist die Botschaft. Und politisch folgt daraus, Wider­stand dagegen zu organisieren. Deshalb akzeptieren die Mütter der Asociación vom “System” we­der Entschädigungen, noch Ver­handlungen mit der Regie­rung, weder Ausgrabungen der Lei­chen zu ihrer Identifikation, noch die Begnadigung der Mili­tärs.
Die kämpferischen Mütter werden nicht so schnell zur Ge­schichte gehören, sondern wei­terhin einen schmerzenden Sta­chel der Vergangenheit im heuti­gen Argentinien bilden. Doch wenn Radikalität den Blick für Bündnisse und demokratische Politik verliert, stellt sich sie sich selbst in Frage. Die Mütter ver­schen­ken damit vielleicht eine wich­tige Rolle, indem sie sich zu stark von Bündnissen ausschlie­ßen und zu sehr von anderen Grup­pen die Übernahme ihrer Positionen for­dern. Ihre politi­sche Unnach­giebigkeit verstehen auch viele der­jenigen nicht, die sich den Müt­tern solidarisch ver­bunden fühlen. Ob die Madres um Hebe de Bonafini solch einen Lernpro­zeß nochmal durchma­chen wer­den, ist fraglich. Was jedoch den Re­spekt vor dem zwanzigjähri­gen Kampf mit ei­nem sehr radi­kalen Verständnis von Men­schen­rechten nicht min­dern sollte.

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