Editorial | Nummer 462 - Dezember 2012

// 4,5 Quadratmeter Deutschland

Die Berliner Polizist_innen waren sich ihrer Sache sicher. Schließlich ist der Pariser Platz, Vorplatz des Brandenburger Tors, nachts wie ausgestorben. Die richtige Umgebung, um die Auflagen des Versammlungsrechts mit Tritten und Schlägen durchzusetzen. Bereits zuvor hatte die Polizei das Flüchtlingszelt abgebaut und den hungerstreikenden Flüchtlingen das Schlafen und Liegen verboten. Wer seine Augen schloss, wurde wach gerüttelt und bekam erklärt, schlafen sei keine Form des politischen Protests und somit von der Versammlungsfreiheit nicht gedeckt. In der zweiten Nacht entrissen 110 Polizist_innen 20 Flüchtlingen unter Einsatz von Gewalt ihre Decken. Einsatzbusse wurden so geparkt, dass den Protestierenden die Autoabgase beim Schlaf direkt in die Nase zogen. So sieht praktische Berliner Polizeiarbeit anno 2012 aus.

Die Schikanen am Brandenburger Tor sind nur die Spitze des Eisberges an Diskriminierung und Ausgrenzung, dem Flüchtlinge hierzulande ausgesetzt sind. Der tagtägliche institutionalisierte Rassismus findet unbeachtet von der Öffentlichkeit statt. Welche Zustände in den von Stacheldraht umzäunten Asylbewerberlagern herrschen, dringt kaum ans Tageslicht. Keine ausreichende medizinische Versorgung, 4,5 Quadratmeter Wohnraum pro Person, Essenspakete, keine Deutschkurse, Arbeits- und Bildungsverbote – das und mehr ist die Realität in den Lagern hierzulande. Und als wäre das nicht Schikane genug, wird durch das in Europa einzigartige Residenzpflichtgesetz die Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt. Damit werden Flüchtlinge vom Rest der Gesellschaft isoliert und sind gezwungen, in den jeweiligen Landkreisen oder – im besten Fall – im Bundesland zu bleiben. Benötigt ein Flüchtling fachärztliche Betreuung, die in seinem oder ihrem Landkreis nicht verfügbar ist, muss in typisch bürokratischer Manier eine Kette von Anträgen gestellt werden. Wenn Lager in Landkreisen liegen, in denen Nazis auf der Straße das Sagen haben, können die Flüchtlinge dieser Bedrohungssituation nicht entkommen. Und wer wiederholt gegen die alltägliche Demütigung, Isolierung und Entrechtung verstößt, kann mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden.

Die Zustände in den Lagern und die Isolation zermürben die Menschen. Sie verursachen Angstzustände und schwere Depressionen. Nachdem sich im Januar der 29-jährige Iraner Mohammad Rahsepar im Flüchtlingsheim Würzburg das Leben nahm, traten neun Freunde von ihm – ebenfalls Flüchtlinge – in den Hungerstreik. In der Würzburger Innenstadt wurde ein Protestcamp errichtet und auch im restlichen Bundesgebiet formierte sich Widerstand gegen das menschenverachtende deutsche Asylrecht. Darin liegt der Beginn der aktuellen Proteste. Flüchtlinge sind 600 Kilometer von Würzburg nach Berlin gelaufen. Damit haben sie gegen die Residenzpflicht verstoßen und sind so aus ihrer unfreiwilligen Isolation ausgebrochen. Sie haben es geschafft, die Verhältnisse in den Ausländerbehörden, Lagern und Polizeirevieren in die Öffentlichkeit zu tragen.

Bezeichnend für den Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit den Flüchtlingen ist, dass diese erst zu so drastischen Mitteln wie Hungerstreiks greifen mussten, um von der bürgerlichen Presse und den staatlichen Organen wahrgenommen zu werden. Erst nach neun Tagen des Hungerns, Frierens und polizeilicher Schikanen zeigte sich die Bundesregierung bereit, eine Vertreterin zum Gespräch mit den Aktivist_innen zu schicken. Der Hungerstreik ist vorerst beendet, doch die Camps auf dem Pariser Platz und anderswo in der Republik bleiben. Die Aktivist_innen und ihre Unterstützer_innen werden nicht zulassen, dass die menschenunwürdige Behandlung von Flüchtlingen wieder verdrängt und unsichtbar gemacht wird. Genug ist genug.

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