Editorial | Nummer 488 - Februar 2015

Aufklärung Unerwünscht

Es sind zwei kurze Sätze aus einem Bericht von insgesamt 4.401 Seiten. Zwei Sätze, die das Image des „verantwortungsvollen Konzerns“ in einer Weise untergraben könnten, wie es noch vor kurzem wenig realistisch schien. Auch wenn dieser Konzern zuletzt mehrmals im Fokus einer Reihe von Skandalen in Brasilien stand und dabei kein gutes Bild abgab.

Es geht um Siemens Brasilien und die Frage, inwieweit der deutsche Konzern in den frühen 1970er Jahren in die Repressionen seitens der brasilianischen Militärdiktatur verwickelt war. Im Dezember 2014 veröffentlichte die von der Regierung eingesetzte und vom Kongress gebilligte Untersuchungskommission ihren Abschlussbericht, der die Menschenrechtsverbrechen der brasilianischen Militärdiktatur von 1964 bis 1985 untersuchte (siehe Artikel ab Seite 34). In diesem Bericht erscheinen die beiden entscheidenden Sätze en passant: „Neben Bankiers haben mehrere multinationale Konzerne den Aufbau des Oban finanziert, darunter Firmengruppen wie Ultra, Ford, General Motors, Camargo Corrêa, Objetivo und Folha. Des Weiteren kollaborierten Multis wie Nestlé, General Electric, Mercedes Benz, Siemens und Light.“

Das in São Paulo gelegene Oban – eine Abkürzung für Operação Bandeirante – war das berüchtigtste Folterzentrum der brasilianischen Militärdiktatur. Dort wüteten die Schlächter des Regimes. Im Oban wurden 66 Menschen ermordet, 39 von ihnen starben dort unter den Qualen der Folter. Weitere 19 Menschen gelten als verschwunden, ihr letztes Lebenszeichen verlief sich, nachdem sie verhaftet und ins Oban verbracht wurden.

Erst im August 2013 war Siemens Brasilien wegen Korruptionsvorwürfen bei Ausschreibungen der brasilianischen Post und Telekom von allen öffentlichen Ausschreibungen für fünf Jahre ausgeschlossen worden. Doch aufgrund des hohen Marktanteils von Siemens in der Medizintechnik hob ein Richter die Verurteilung wieder auf. Ein Ausschluss aller Produkte des Konzerns aus dem öffentlichen Beschaffungswesen hätte eine Gefahr für das brasilianische Gesundheitswesen bedeutet. Im September 2013 wurde das U-Bahn-Kartell von São Paulo ruchbar, das für die Stadt über Jahre hinweg Mehrkosten in Milliardenhöhe und für die beteiligten Konzerne einen enormen Reibach bedeutete. Siemens zog die Notbremse, zeigte sich selbst an, hoffte auf eine Kronzeugenregelung. Nun aber laufen mehrere Klagen, die Staatsanwaltschaft des Bundesstaats von São Paulo fordert mittlerweile ein Verbot der Geschäftstätigkeit für die zehn am Kartell beteiligten Firmen, darunter auch Siemens. Genug Skandale für einen als „verantwortungsvoll“ geltenden Konzern, könnte man meinen. Das Timing für handfeste Anklagen der Nationalen Wahrheitskommission gegenüber Siemens hätte schlechter nicht sein können.

Doch Aufsichtsratschef Gerhard Cromme blickt den Imageproblemen mit Gelassenheit entgegen, wie im Januar dieses Jahres während der Aktionärsversammlung in München deutlich wurde. Auf die Frage, ob konkrete Kenntnisse über die eigene Rolle in Brasiliens Militärdiktatur vorlägen und Siemens den Anschuldigen der Nationalen Wahrheitskommission nachginge, entgegnete Cromme barsch: „Das liegt jetzt 40 Jahre zurück! Uns interessiert heute“. Der Vorstandsvorsitzende von Siemens, Joe Kaeser, ergänzte, Siemens habe in seinem Wirtschaftsarchiv nachgeschaut und keine diesbezüglichen Hinweise finden können.

Aber eben weil ein Großteil der Archive noch immer verschollen ist, verstreut oder in Händen genau jener ehemaligen Schlächter des Regimes, eben weil es noch an breit angelegten Interviews mit den Betroffenen aus der Zeit mangelt, eben darum wäre die Aufklärung durch Siemens so wichtig. Und es wäre für den Weltkonzern mit Sitz in München ein Leichtes, seine Unternehmenshistoriker*innen damit zu betrauen. Aber für Manager wie Gerhard Cromme scheint allein dieser Vorschlag schon eine Zumutung zu sein.

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