Editorial | Nummer 478 - April 2014

// Bestenfalls Kollateralschäden

Brasilien – vor genau 50 Jahren: Die Militärs putschen gegen die Regierung des Präsidenten João Goulart. 21 Jahre herrschen die Generäle im Land. Die Diktatur hinterlässt eine blutige Spur: Bürgerrechte werden außer Kraft gesetzt, Menschen verhaftet, gefoltert, verschwinden, werden ermordet.
Brasilien – vor 40 Jahren: Die Wirtschaft des Landes boomt. Seit 1968 wächst die brasilianische Wirtschaft um satte zehn Prozent pro Jahr. Das Land erlebt mitten in den „bleiernen Jahren“ der stärksten Repression sein Wirtschaftswunder.
Bonn – vor 39 Jahren: Die Bundesrepubliken der föderativen Staaten Brasiliens und Deutschlands unterzeichnen ein Abkommen über die „Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kern­energie“. Bis zu acht Atomkraftwerke, eine Wiederaufbereitungsanlage sowie Urananreicherungsanlagen will Deutschland Brasilien verkaufen und das entsprechende Know-how gleich mitliefern. Das größte deutsche Exportgeschäft aller Zeiten!
Bonn – vor 35 Jahren: Der amtierende brasilianische Präsident, General Geisel, stattet der Deutschen Bundesregierung einen offiziellen Besuch ab. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) lobt in seiner Tischrede die „Übereinstimmung der Werte“ und die „Konvergenz der Ziele“ der deutschen und der brasilianischen Bundesregierung, auch wenn man in Bonn „sozialliberal“ regiert und in Brasília militärisch. Und während im spätgotischen Saal in der Kölner Altstadt anlässlich des Geisel-Besuchs ein Staatsbankett der brasilianischen Regierung für „tausend Bestecke“ gegeben wird, prügelt die deutsche Polizei Atomkritiker_innen und die brasilianische Opposition der Militärdiktatur nieder. Auf einem Polizeirevier werden Festgenommene mit Fäkalien beschmiert. Die brasilianische Presse erlebt als Augenzeug_innen Szenen aus dem brasilianischen Alltag – in Köln.
Vier Ereignisse, ein gemeinsamer politischer Nenner: Die bundesdeutsche auswärtige Politik ist immer vorrangig Außenwirtschaftspolitik, Menschenrechte und Umwelt werden dieser untergeordnet. Für die in Brasilien tätigen deutschen Konzerne geht es allein um die Teilhabe am brasilianischen Wirtschaftswunder. So arbeitet zum Beispiel die deutsche Autoindustrie eng mit der Diktatur zusammen: 1994 zitiert die Tageszeitung Jornal do Brasil aus Akten der Geheimpolizei Deops, nach denen Volkswagen do Brasil und Mercedes Benz in den 1970er Jahren Spitzel in die Gewerkschaftsversammlungen ihrer Arbeiter_innen einschleusten. Die so gewonnenen Informationen werden an die Geheimpolizei der Diktatur weitergereicht. Zu den Verstrickungen mit der Militärdiktatur soll Volkswagen do Brasil erst jetzt, 2014, vor der Nationalen Wahrheitskommission in Brasília aussagen.
Profit für die Konzerne und goldene Uhren – eine schenkte Kanzler Willy Brandt (SPD) dem Junta-General Artur da Costa e Silva – aber kein Engagement für Menschenrechte und Umwelt: Brandt, Schmidt, Strauß & Co waren die Gefolterten und Ermordeten in den 1970er Jahren allenfalls egal, bestenfalls bedauernswerte Kollateralschäden. Dies galt jedoch nie für deutsche Wirtschaftsinteressen. Seit den 1970er Jahren sind in São Paulo deutsche Wirtschaftsunternehmen massiv vertreten, dort finden sich Volkswagen und Mercedes Benz, BASF und Bayer samt ihrer ebenfalls deutschen Zulieferer. Die Metropolregion Grande São Paulo mit über 20 Millionen Einwohner_innen als eine der größten Städte der Erde beherbergt bis heute die weltweit höchste Konzentration an deutscher Industrie. Für deutsche Konzerne rollte dort schon immer der Rubel, egal, ob er je nach Währungsreform Cruzeiro, Cruzeiro Novo, Cruzado, Cruzado Novo, Cruzeiro Real oder Real hieß – und die deutsche Politik gab und gibt eifrig Schützenhilfe.
Gab die Bundesregierung damals für den Bau des AKW Angra 2 eine Hermesbürgschaft in Milliardenhöhe, so bewilligte sie gleiches 2012 schon wieder, für Angra 3. Und ein Teil des Thyssenkrupp-Stahlwerks in Rio erhielt auch eine solche Exportkreditversicherung. Umwelt und Menschen – bestenfalls Kollateralschäden.

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