Editorial | Nummer 345 - März 2003

Boliviens Programm heißt Aufstand

Im April 1952 schlug sich die bolivianische Polizei – ein schlecht bezahltes und unzureichend ausgestattetes Corps von Staatsangestellten – auf die Seite der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, die sich gegen die Feudalherrschaft der alten Oligarchie erhoben. Die Armee stand damals auf der anderen Seite der Barrikaden.

Ein ähnliches Bild bot sich am 12. Februar in La Paz, als ArbeiterInnen, StudentInnen und PolizistInnen gemeinsam gegen ein überfallsartig verkündetes Sparpaket der Regierung protestierten. Die Armee, zum Schutz der Regierungsgebäude herbeigerufen, setzte Scharfschützen ein und verursachte ein Blutbad unter den DemonstrantInnen.

Die „Revolution“ 1952 brachte das allgemeine Wahlrecht, verstaatlichte die Zinnminen und verordnete eine umfassende Landreform als Teil eines strategischen Entwicklungs- und Modernisierungsplans. Bis zur kubanischen Revolution 1959 hatte Bolivien auf dem Subkontinent Modellcharakter. Die staatliche Bergarbeitergewerkschaft Comibol und der Gewerkschaftsdachverband COB wurden gegründet. Sie entwickelten sich zu treibenden sozialen Kräften und wurden immer wieder Ziel der Repression, als sie sich später der Verwässerung der Reformen widersetzen wollten. Die Jahre der Militärdiktatur (1964 – 1982) ruinierten die Wirtschaft und die sozialen Strukturen. Die nachfolgenden Zivilregierungen stabilisierten mit ihren Strukturanpassungsprogrammen bestenfalls ab und an die Währung und verbesserten hin und wieder makroökonomische Indikatoren. Doch die absolute Armut schwoll an. Silber- und Zinnbergbau sind längst nicht mehr das Rückgrat der Ökonomie. Bolivien hat weder in der Industrie noch im Dienstleistungsbereich nennenswerte Einkommensquellen erschließen können. Der Sozialbereich wird, getreu dem neoliberalen Ideal, so weit wie möglich an NGOs und die internationale Wohlfahrt ausgelagert.

Bolivien ist bisher das einzige Land Südamerikas, das von der Entschuldungsinitiative HIPC erfaßt wird. Ökonomen haben errechnet, daß unter den gegenwärtigen Umständen selbst bei anhaltendem Wirtschaftswachstum von jährlich vier Prozent erst in 130 Jahren die extreme Armut beseitigt werden könne.

So lange wollen die meisten jedoch nicht warten. Einen strategischen Entwicklungsplan mit konsequenter Armutsbekämpfung gibt es schon gar nicht. Das zeigt die Unfähigkeit der Regierung, den aggressiven Vernichtungsplänen der USA ein gangbares Konzept der schrittweisen Substitution der Koka-Kulturen im Chapare entgegenzusetzen. So ist gerade aus der Gewerkschaft der Koka-Bauern der Kern des Widerstandes und der streitbare Oppositionsführer Evo Morales hervorgegangen. Die Allianz von Bauern und Bäuerinnen, Arbeitslosen, ehemaligen Bergleuten und StudentInnen, die durch tagelange Mobilisierungen und Straßenblockaden auf die Regierung Druck macht, versucht eine ganze Liste von Forderungen durchzusetzen.

Die Einrichtung eines sozialpartnerschaftlichen Dreierrates (Consejo Tripartito) aus Regierung, Unternehmervertretern und Gewerkschaften, der in Zukunft bei umstrittenen Gesetzesprojekten zwischengeschaltet werden und zu einer konsensualen Politik zurückführen soll, ist wohl kaum geeignet, den Sanierungsrezepten des IWF eine kohärente Alternative entgegenzusetzen. Zudem ist die bankrotte Regierung auf frisches Geld angewiesen und wird sich kaum einen Debattierklub leisten, der sich ernsthaft querlegen kann.

Die Opposition hat zuletzt einmal mehr die Erfahrung gemacht, dass nicht Argumente sondern nur der Druck der Straße, notfalls auch Gewalt, den Regierungskurs beeinflussen können. Der nächste Aufstand ist also schon programmiert.

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