Colonia Dignidad | Editorial | Nummer 465 - März 2013

Es ist nie zu spät – für Aufarbeitung

„Die Affaire um die deutsche Kolonie Dignidad wird von den chilenischen Behörden nur zaghaft untersucht“, titelte die Süddeutsche Zeitung auf Seite 3. Die Rede war darin von Gewalt, sexuellem Missbrauch und Freiheitsentzug in der Deutschensiedlung Colonia Dignidad in Südchile. Erscheinungsdatum: 8. Juli 1966. Seit nunmehr 50 Jahren haben Berichte über schwerste Menschenrechtsverbrechen in der Colonia Dignidad einen festen Platz in der Presseberichterstattung. Verbrechen deutscher Staatsbürger, begangen an Deutschen und Chilen_innen auf chilenischem Staatsgebiet.
Bereits in den 1960er Jahren sandten Koloniebewohner_innen Hilferufe an die deutsche Botschaft. Sie erzählten den Diplomaten von Schlägen, Arbeitszwang und Freiheitsberaubung. In den 1970er Jahren berichteten die UNO (1976) und amnesty international (1977) über Folter an politischen Gefangenen in der Siedlung. Doch Regierung und Justiz in Chile und Deutschland ergriffen jahrzehntelang keine ausreichenden Maßnahmen, um eine Fortsetzung der Verbrechen zu verhindern. Bis zur späten Festnahme des Anführers Paul Schäfer im Jahr 2005 herrschten innerhalb der Siedlung Unterdrückungsstrukturen. Gruppenmitglieder wurden ihrer Freiheit beraubt und mit Psychopharmaka sediert. Beide Staaten sind für diese Taten mitverantwortlich, durch Handlungen und durch Unterlassungen.
Warum in Chile jahrzehntelang weggeschaut wurde, ist offensichtlich: Die Colonia Dignidad war eine der wichtigsten Folter- und Vernichtungsstätten der chilenischen Militärdiktatur (1973-90). Bereits vor dem 11. September 1973 trainierten die Putschisten dort für den Sturz der Allende-Regierung. Danach wurde dort gefoltert und gemordet. Hochrangige Gäste aus Politik, Militär und Unternehmerschaft wurden fürstlich bewirtet, der Geheimdienstchef verbrachte dort seinen Sommerurlaub, selbst Pinochet kam zu Besuch.
Warum hat Deutschland so lange weggesehen? Weil Berichte über medizinische Experimente an hinter Stacheldraht festgehaltenen politischen Gefangenen höchst unschöne Erinnerungen weckten? Wegen deutscher Diplomaten, die gute Beziehungen zu Schäfer und seiner Führungsriege pflegten? Wegen der konservativen Politiker, die die Colonia besuchten und in Deutschland Lobbyarbeit für die „deutsche Vorzeigesiedlung“ betrieben, die von „marxistischen Kräften“ verleumdet werde? Wegen des deutschen Waffenhändlers und BND-Verbindungsmanns Gerhard Mertins, der mit der Siedlung Geschäfte machte? Gesicherte Erkenntnisse, ob seitens bundesdeutscher Behörden noch weitere „Leichen im Keller“ liegen, wird es erst geben, wenn der Bundesnachrichtendienst BND seine Akten zur Colonia Dignidad freigibt.
Nun hat der Oberste Gerichtshof Chiles Ende Januar ein Zeichen gesetzt und nach Jahrzehnten der Straflosigkeit erstmals – nach der Inhaftsetzung Paul Schäfers 2005 – weitere Führungsmitglieder der Colonia Dignidad hinter Gitter geschickt. Es bleibt zu hoffen, dass dies nur der Anfang eines umfangreichen Prozesses der strafrechtlichen und politisch-historischen Aufarbeitung der Colonia Dignidad darstellt. Dass dabei für beide Staaten noch viel Unbequemes ans Licht kommen könnte, liegt auf der Hand. Trotzdem und deswegen sind eine selbstkritische Reflektion dieser Vorgänge und eine Entschuldigung bei den Opfern notwendig und seit langem überfällig. In der Colonia Dignidad Gefolterte haben kurz nach dem Urteil einen offenen Brief in der Botschaft in Santiago abgegeben, in dem sie Unterstützung für den Bau einer Gedenkstätte und eine rasche Verurteilung von Hartmut Hopp fordern. Das ehemalige Führungsmitglied wurde in Chile zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er entzog sich jedoch der chilenischen Justiz durch Flucht nach Deutschland. Die Staatsanwaltschaft in Deutschland ermittelt seit 1988 gegen ihn. Ergebnislos.
„Ich bin müde von alledem.“ Mit diesem Zitat von Adriana Bórquez beginnt das LN-Sonderheft zur Colonia Dignidad von 1989. Bórquez wurde 1975 in der Colonia Dignidad gefoltert. Sie hat 1977 darüber im Prozess „Colonia Dignidad gegen amnesty international“ ausgesagt. Adriana, 77 Jahre alt und auf einen Rollstuhl angewiesen, gehörte zu denen, die vor einigen Tagen den offenen Brief an die Regierungen von Deutschland und Chile überreichten. Sie kämpft weiter.

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